«Nullerjahre» – eine ostdeutsche Jugend auf der falschen Seite
Wenn es als cool gilt, Schwächere zu drangsalieren und vor Gewalt nicht zurückzuschrecken
Dass Ostdeutschland in den 1990er Jahren keine blühende Landschaft war, ist bekannt. Wie Probleme auch danach die Nachwende-Generation geprägt haben, beschreibt der vom Duo Zugezogen Maskulin bekannte Rapper Hendrik Bolz. Sein Buch könnte nicht nur ihm helfen.
Von Christopher Hirsch, dpa
Der Begriff der blühenden Landschaften hat für viele Menschen im Osten einen faden Beigeschmack. Auch der Untertitel des Buches «Nullerjahre» ist eher sarkastisch zu verstehen: «Jugend in blühenden Landschaften». Geschrieben hat es Hendrik Bolz – besser bekannt als Testo vom Deutschrap-Duo Zugezogen Maskulin. Der 33-jährige wuchs im äussersten Nordosten der Republik zwischen Stralsunder Plattenbauten auf. Das Buch habe er vor allem für sich geschrieben, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Seine Erinnerungen hätten ihn belastet. Von Belastungen zeugen im Osten etwa Pegida oder AfD-Wahlergebnisse. Das Buch könnte deshalb mehr sein als Selbsttherapie.
Im ersten Teil der Erzählung lernen die Leser Bolz 1999 als Grundschüler kurz vor seinem Wechsel auf das Gymnasium kennen. Von Kassette hört er die bei Rechten beliebten Böhsen Onkelz und fristet sein Dasein in einem Ferienlager, das – damals nicht unüblich – von Neonazis organisiert wird. Selbstbewusst, mit Bomberjacke und Glatzen – «so kenn ich’s von zu Hause, so sehen coole Jugendliche aus», ist zu lesen. Was auch zum Coolsein dazugehört: stark sein, Schwächere drangsalieren, vor Gewalt nicht zurückschrecken. «Als Kind denkt man, alles, was um mich herum ist, ist normal», sagt Bolz. Man denke, «es ist normal, dass das hier neue Bundesländer heisst», dass Arbeitslosigkeit ständig ein Thema ist und dass die grossen Brüder und Cousins Bomberjacke tragen und kurze Haare haben. Dass Bolz in einen historischen Umbruch hineingeboren wurde, realisiert er erst später.
«Das hat erst so ab 2015 angefangen», erinnert sich der Autor, und habe auch mit dem Aufkommen etwa von Pegida zu tun. In seinem Umfeld – 2008 zog er nach Berlin – oder auf Social Media habe er festgestellt, wie schnell der Osten abgeurteilt wurde von «Leuten, die das Glück hatten, schon immer in ihrem Leben auf der richtigen Seite zu stehen». Die Ambivalenz, um die Probleme zu wissen, aber auch nicht abgeurteilt werden zu wollen, sei im Osten verbreitet.
Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch.
Dass Bolz nicht das Glück hatte, immer auf der richtigen Seite zu stehen, wird in dem Buch mehr als deutlich. Er schlägt, terrorisiert, gibt sich Drogen und Alkohol hin. Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch. Ein entsprechender Warnhinweis ist dem Buch vorangestellt. «Kunst soll und darf wehtun», sagt Bolz – offenbar auch dem Autor. Es sei ihm wichtig gewesen, sich so nackt zu machen. «Sonst hätte ich es auch gleich lassen können.» Er stellt aber auch klar: «Der Hendrik, den ich dort beschreibe, das ist nicht der Hendrik von heute.»
Es geht in dem Buch weder um eine Aussteiger- oder gar Heldengeschichte, noch um Larmoyanz oder eine Amnestie für den Osten. Es geht darum, hinzuschauen, wo nicht genug hingeschaut wurde. Denn einfach blühende Landschaften oder Immunität gegen Rechtsextremismus zu beschwören wie Ex-Kanzler Helmut Kohl beziehungsweise Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (beide CDU), schafft kein Verständnis. Geschichten wie die von Bolz könnten dazu beitragen.
Über die 1990er Jahre werde zum Glück mittlerweile mehr gesprochen, sagt Bolz. Die Nullerjahre seien hingegen noch ein «leeres Blatt». Doch auch am Ende von Kanzler Gerhard Schröders (SPD) erster Amtszeit 2002 galt laut Buch: «Das Einzige, was in den Ruinen der nachhaltig zerschlagenen Industrie erblühte, waren Minijobs, Transferleistungen und demütigende ABM-Massnahmen.» Selbst wenn Springerstiefel Turnschuhen wichen und Deutsch-Rap cooler wurde als Rechtsrock – Bolz‘ Umfeld wurde schon vorher geprägt. Etwa von Kindergartenerzieherinnen, die versuchen, ihre Schützlinge in DDR-Manie wie «kleine brave Fresssoldaten» zur Planerfüllung zu schreien, oder von der Jugendarbeit von Neonazis, von der Resignation und Verunsicherung der Erwachsenen.
«Ich will hier über was reden, was mir passiert ist, von dem ich weiss, dass vielen anderen das ähnliche passiert ist und was einfach unbesprochen ist», sagt Bolz. Wenn man nicht hinschaue, würden sich Dinge weiter verpflanzen. Wendefrust, Politikverdrossenheit, Gewaltneigung, Diktaturprägung, Erziehung zur Härte und «Lust am Arschlochsein» – diese Dinge gebe es, und rechte Gruppen hätten sie schon für sich genutzt.
«Nullerjahre» ist keine leichte Kost, nicht nur was den Inhalt angeht. Es wird in Grossbuchstaben geflucht, gerülpst, geprügelt. Der Soundtrack reicht von den Böhsen Onkelz über Britney Spears bis Bushido. Immer wieder werden Lied-Zitate eingestreut. Der Schreibstil erinnert zeitweise an Bolz‘ Rap-Hintergrund etwa in einem Kapitel, das sich seinem Kampf mit zunehmenden Angstanfällen widmet: «Aufstehen, Attacke, Frühstück, Attacke, Schule, Attacke, Sport, Attacke, Fernsehen, Attacke, Schlafen, Attacke.»
Hätte sich Bolz eine andere Jugend gewünscht? Er frage sich schon, wie sich sein Umfeld entwickelt hätte, wenn man es zur damaligen Zeit in den Westen verpflanzt hätte. Er wolle die Erfahrungen aber nicht missen, sie würden dabei helfen, nicht so schnell zu urteilen, wie Menschen, die immer auf der richtigen Seite standen.
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