«Was ist an Sex so spannend?» – Asexualität und Aromantik im Porträt
Atlas, Timo und Saida erzählen
Macht fehlende Romantik einsam? Drei Menschen aus dem asexuellen und aromantischen Spektrum erzählen, wie vielfältig Nähe und erfüllende Verbindungen sein können – ganz ohne Sex oder Romantik.
Meine Mutter meinte immer, ich würde einfach mehr Zeit brauchen in meiner Entwicklung», sagt Atlas, 27, aus der Region Luzern.
Als dann ein Freund fragte, ob eine Beziehung mit ihm vorstellbar sei, kamen Atlas Zweifel. So, in einer Freundschaft, ist es doch schön, dachte Atlas damals. Und auf einmal waren all die gesellschaftlichen Vorurteile spürbar: Angeblich Spätzünder zu sein, etwas nicht mitzubekommen. Dabei war von Anfang an alles da. So, wie es sein sollte.
«Die grösste Angst war die vor der Einsamkeit»
Atlas
Atlas fing an, nach Informationen zu suchen, um diese Gefühle einordnen zu können. Dann tauchte plötzlich der Begriff Asexualität im Internet auf, der jedoch keineswegs ein Gefühl der Befreiung auslöste. Zunächst kam die Befürchtung, dass Nähe oder Zuneigung, in welcher Form auch immer, gar nicht möglich seien. «Die grösste Angst war die vor der Einsamkeit», sagt Atlas, heute als Projektleiter*in in der IT tätig, rückblickend.
Diese Annahme habe sich aber schnell als falsch herausgestellt, betont Atlas und bezeichnet sich seither als asexuell und aromantisch. Atlas ordnet sich damit auf den A-Spektren ein.
Nicht jede Person, die sich dort wiederfindet, ordnet sich immer beiden Kategorien zu. Manchmal auch nur einer von beiden. Man nennt sie Spektren, weil es innerhalb dieser beiden Kategorien graduelle Abstufungen und Sublabels gibt, um die Ausprägungen, in denen Asexualität und Aromantik auftreten kann, abbilden zu können.
Das private Umfeld von Atlas hat darauf zwar nicht ablehnend reagiert, aber es erst auch nicht so recht verstanden. «Ich glaube nicht, dass meine Mama weiss, was das genau ist», sagt Atlas. Mittlerweile heisst es einfach: «Beziehungen, ach nee, das ist nichts für mich».
«Es soll etwas sein, das tiefer ist als eine Freundschaft. Mit jemandem in ein Haus ziehen. Zusammen wohnen mit der besten Freundin»
Atlas
Dabei kann sich Atlas engen Kontakt zu anderen Personen schon vorstellen – aber eben keine Beziehungen. Schon gar nicht soll es bei solchen Kontakten um Sex oder Romantik gehen. Auch das Geschlecht der anderen Person ist nicht entscheidend. Es soll eher etwas sein, «das tiefer ist als eine Freundschaft. Mit jemandem in ein Haus ziehen. Zusammen wohnen mit der besten Freundin», erklärt Atlas.
Dass Aromantik nicht heisst, niemals starke Gefühle der Verbundenheit erleben können, kennt Atlas auch von sich selbst. Manchmal, etwa bei einem Liebesfilm, kommen Gefühle hoch, bei denen Atlas dann denkt: «So eine Person hätte ich gern». Aber das vergeht dann schnell wieder. «Ach, du bekommst jetzt wieder deine Tage», sagt Atlas sich dann und fühlt sich wieder wohl damit, sich als Teil der A-Spektren zu definieren. Auch gegenüber Sexualität empfindet Atlas nicht etwa Ekel. Beim Zusammensein mit den Freundinnen ist das Thema sogar interessant, wenn die davon erzählen – solange es nicht allzu sehr ins Detail geht.
Wenn Atlas auf andere asexuelle oder aromantische Menschen trifft, entsteht oft ein Gefühl der Verbundenheit. «Dieses Ganze: der ist so hübsch, die hat mit mir geflirtet und vielleicht entsteht daraus etwas – dieses Thema fällt dann weg.» So muss sich Atlas keine Gedanken über Dating-Apps machen, oder darüber, in Clubs Menschen ansprechen zu müssen.
Da Beziehungen jedoch in der Gesellschaft nach wie vor so einen hohen Stellenwert haben, wünscht sich Atlas von Menschen, die sich nicht auf den A-Spektren verorten, dass diese anerkennen sollten, dass nicht jede Person eine Beziehung zum Ziel habe. Und Atlas fände es schön, «wenn man nicht darüber lächelt, dass jemand noch nie in einer Beziehung war».
Timo: «Was ist an Sex so spannend?» Da die Begriffe der A-Spektren bisher nur wenig verbreitet sind, greifen Menschen häufig erst zu bekannteren Labels, wenn sie sich ihre eigenen Gefühle erklären wollen. So auch Timo. Erst dachte er, er sei bisexuell. Eben, weil für ihn das Geschlecht der anderen Person keine Rolle spielt. Das war es dann aber doch nicht.
Es ging immer wieder um die Frage der Sexualität. Das, was die anderen um ihn herum so elektrisierte. «Wenn ihr eine Frau anschaut, könnt ihr euch dann vorstellen, mit der Sex zu haben?», lautete einmal eine Frage im Kollegenkreis. «Das machen Leute?», fragte sich der damals 17-Jährige. «Was ist daran so spannend? Warum finden alle anderen das so gut? Und warum ich selber nicht?»
Nähe zu anderen Menschen, die er mag, findet er sehr schön. Und er sucht sie auch. «Ich hätte gern eine Beziehung», sagt der heute 22-Jährige, der in der Region Luzern berufsbegleitend studiert. Was ihn interessiert, ist aber eine «platonische Beziehung», wie er sagt. Eine sexuelle oder eine romantische Beziehung müsse es hingegen nicht zwingend sein.
«Ich bin zwar asexuell und habe keine sexuellen Gefühle, aber wenn es für mich und meinen Partner stimmig ist und passt, bin ich bereit, etwas auszuprobieren.»
Timo
Was Timo schade findet, ist, dass asexuellen Menschen unterstellt werde, sie hätten alle grundsätzlich kein Interesse an Sex oder würden ihn ablehnen. Dabei gebe es auf den A-Spektren auch solche, die Sexuelles geniessen würden, aber keine sexuelle Anziehung fühlten. So könne es sein, dass asexuelle Personen innerhalb einer Beziehung Sex mit ihrem Partner hätten. Auch Timo ist offen dafür. «Ich bin zwar asexuell und habe keine sexuellen Gefühle, aber wenn es für mich und meinen Partner stimmig ist und passt, bin ich bereit, etwas auszuprobieren.» Die eigene Beziehung gemeinsam zu definieren, das ist Timo wichtig. Dabei sei «nichts in Stein gemeisselt».
Wichtig ist ihm auch, Intimität zu erleben. Timo unterscheidet zwischen Romantik und Sensualität. Kuscheln und körperliche Berührungen findet er gut. Dies hat für ihn aber nichts mit Romantik zu tun – das wäre für ihn eher Küssen und Herummachen, woran er nicht interessiert ist. Deswegen bezeichnet er sich neben asexuell auch als aromantisch.
Dass sich seine Perspektive auf Sexualität und Romantik auch im Alltag bemerkbar macht, belustigt ihn eher, als dass es ihn irritiert. So habe er kein Sensorium für den «Sex Sells»-Bereich, sagt er. Wenn er etwa vor einer Parfum-Werbung steht, denkt er sich: «Man sieht eine halbnackte Frau, aber ich weiss nicht, wie das Parfum riecht – wer springt denn auf solche Werbung an?» Ähnlich auch bei Plattformen wie Onlyfans. Er würde nie auf den Gedanken kommen, Geld dafür zu zahlen, eine bestimmte Person nackt zu sehen.
Während Sexualität in der Gesellschaft eine grosse Rolle spielt, sind bisher nur wenige Figuren aus den A-Spektren in der Popkultur zu finden. Dies sieht auch Timo so, meint aber, dass sich langsam etwas bewege. «In der Netflix-Serie Sex Education wurde das Thema sinnvoll aufgegriffen», sagt er. Dort gebe es eine Szene, in der eine Sexualtherapeutin sagt, dass man «nicht kaputt ist oder etwas falsch mit einem ist, wenn man das nicht fühlt», erinnert sich Timo. Oder etwa Isaac aus der Netflix-Serie «Heart–stopper», eine Figur, die asexuell und aromantisch ist. So etwas zu sehen, findet er ermutigend.
Dennoch müssten noch viele Vorurteile abgebaut werden, findet Timo. So habe er immer wieder Sprüche gehört wie: «Das lernst du später noch» oder «Irgendwann wird jeder Interesse an Sex haben». Er verstehe sogar, wenn Menschen, die nicht auf den A-Spektren seien, glaubten, dass bei asexuellen Menschen etwas fehle, erklärt Timo, «aber sie sehen ja nicht dahinter». Ihn selber habe die eigene Selbsterkundung offener gemacht für andere Menschen. So komme es heute oft vor, «dass es mich Wunder nimmt, wenn jemand erzählt, was eine sexuelle Orientierung genau bedeutet, wenn ich sie noch nicht kenne, und wie genau diese Person fühlt».
Saida: «Ich suche Nähe zu Menschen, auch körperlich» Wie wenig sich Menschen, die sich auf den A-Spektren verorten, in Schubladen pressen lassen, sondern Ausdruck davon sind, wie wandelbar und dynamisch das Leben ist, zeigt Saidas Geschichte.
Alles fing mit einem queeren Kirchenchor in Köln an. Die Atmosphäre, die Saida dort erlebte, war es, welche die heute 62-Jährige vor fast zwei Jahren dazu brachte, ganz neu über sich nachzudenken. Da hatte sie schon länger keine feste Beziehung mehr gehabt und ihr gefiel gleich diese bunt gemischte Truppe von Menschen, die dort zum Singen zusammenkommt. Aber was genau es war, dass sie sich im Chor heimisch fühlen liess, war ihr zunächst nicht klar.
«Dieses ständige Daten – hier wen treffen, da wen treffen. Das finde ich alles irgendwie nervig»
Saida
Sie erlebte dort zweierlei. Einerseits Vielfalt und Offenheit, die sie aufblühen liessen. Andererseits etwas, das sie gerade bei jüngeren schwulen Männern wahrnahm: «Dieses ständige Daten – hier wen treffen, da wen treffen». Kennenlernen, Gefühlsachterbahnen beim Verlieben und die Arbeit an Beziehungen, «das finde ich alles irgendwie nervig», sagt sie. Mit diesem unscharfen Gefühl von Zugehörigkeit und Distanz fing sie an, im Internet zu recherchieren und kam auf die A-Spektren. Diese Begriffe waren neu für sie. Und auch in ihrem queeren Chor, in dem sie die Menschen als sehr sensibel erlebt, konnte niemand etwas damit anfangen.
Bis dahin hatte Saida in ihrem Leben schon sexuelle Erfahrungen gemacht – und diese auch gut gefunden. In ihrer Jugend hatte sie angefangen zu daten, «weil das eben alle so gemacht haben». Sie hatte gedacht, sie müsse sich verpartnern, damit sie im Leben eine gewisse Sicherheit haben könne. In zwei längeren Beziehungen spielte dann auch Sexualität eine Rolle, aber nur in einer «Verknalltheitsphase». Später entstand zu einer guten Freundin eine 15-jährige enge Verbindung, die auch eine «vorsichtige erotische Komponente» enthielt. In dieser hätte sich Saida auch noch mehr vorstellen können, wozu es aber nicht kam. Rückblickend ist sie der Meinung, dass sie schon immer «weniger mit sexuellem Verlangen am Hut gehabt» habe als ihre Freund*innen. Es sei für sie mehr ein Wunsch nach einem Miteinander gewesen, glaubt sie.
Kontaktscheu ist Saida deswegen aber nicht. «Ich suche Nähe zu Menschen, auch körperlich», sagt sie. Besonders in ihrem «Dorf», wie sie ihre enge Umgebung nennt, gebe es «viele verschiedene Arten von Liebe, die ich dort erlebe». Und bei denen komme es ihr nicht auf das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung der anderen Personen an. Daneben erfahre sie über ihren Beruf als Tänzerin und Tanzpädagogin durch Musik, Tanz und körperlichen Ausdruck «eine gewisse Art von intensiver Körperlichkeit und damit auch Sexualität», wie sie es ausdrückt. Diese sei aber eben nicht ein Verlangen, das auf eine andere Person gerichtet sei.
Saida beschreibt sich noch immer als «auf der Suche». Wenn sie sich nach ihrer eigenen Sexualität befragt, sagt sie sich auch manchmal: «Da ist nichts, ich bin nirgendwo.» Dann spürt sie Angst vor Einsamkeit. Und wenn auf Partys Alkohol fliesst, kommt Saida doch gelegentlich ins Schwärmen. Wenn sie diese Empfindungen dann wie ein Tsunami überfielen, könne sie «nichts machen, ausser dem zu folgen», sagt sie. Lange jedoch hält das nie an. Denn sobald sie wieder nüchtern ist, fühlt sie sich wieder wohl damit, sich auf den A-Spektren zu verorten.
Dass sie ausserhalb ihres privaten Umfeldes häufig vor allem über ihr Singlesein wahrgenommen wird, stört sie schon. Die Gesellschaft mache Druck, findet sie. Einzelzimmerzuschläge in Hotels seien so etwas. Oder dass sie oft für ehrenamtliche Arbeit angefragt werde, weil die Leute davon ausgingen, sie als Single habe ohnehin Zeit.
«Jede*r lag sich im Arm. Wir haben einander unterstützt, gesungen und gemeinsam an etwas Grösserem teilgehabt. Das war irre und intensiv.»
Saida
Anders ist es, wenn sie Zeit mit ihrem «Dorf» verbringt. Dann ist sie glücklich, tankt Kraft. Gern denkt sie an den letzten CSD in Köln zurück, bei dem alle zusammen auf einem Wagen standen. In solchen Situationen empfindet sie dieses tiefe Gefühl der Verbundenheit zu den Personen, die sie so sehr mag. «Jede*r lag sich im Arm. Wir haben einander unterstützt, gesungen und gemeinsam an etwas Grösserem teilgehabt», sagt Saida. «Das war irre und intensiv.»
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