LGBTIQ – das endgültige Kürzel?
Was ist queer und wenn ja: wie viele?
Welche Selbstbeschreibung wählen Mitglieder der Community: queer oder das von vielen ungeliebte LGBTIQ? Und sind diese 6 Buchstaben im Jahr 2024 eigentlich noch die richtigen? Ein Kommentar-Essay*
Es war einmal vor der Homosexualität … Nein, eine solche Zeit dürfte es nie gegeben haben, gleichgeschlechtliche Anziehung und Liebe ist so alt wie der Mensch und sein Begehren selbst. Aber der Begriff ist noch relativ neu. Geschaffen wurde er durch den österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (1824 – 1882), der als früher Aktivist der Homosexuellenbewegung gilt. Kertbeny fügte das altgriechische Wort ὁμός («gleich») und das lateinische sexus («Geschlecht») zusammen zu: Homosexualität. Erstmals belegt ist das im Jahr 1868.
Vier Jahre zuvor, als noch niemand auf diese Idee gekommen war, hatte der deutsche Jurist und Aktivist Karl Heinrich Ulrichs (1825 – 1895) einen anderen Begriff für gleichgeschlechtlich liebende Menschen geprägt: den «Uranier», später «Urning» (für den schwulen Mann) bzw. die «Urninde» (für die lesbische Frau). Damit bezog er sich auf die griechische Göttin Aphrodite Urania, die der Legende nach aus abgetrennten Körperteilen ihres Vaters Uranus entstand, die sein Sohn Kronos ihm mit der Sichel entfernt hatte. Dieser Zeugungsakt verlief der Legende nach ohne die Beteiligung eines weiblichen Wesens, bot sich also an für spätere homosexuelle Interpretationen und Wortschöpfungen.
Uranus diente auch als Namenspatron für eine Homosexuellen-Zeitschrift, die Ulrichs später herauszubringen plante. Doch von «Uranus. Beiträge zur Erforschung des Naturräthsels des Uranismus und zur Erörterung der sittlichen und gesellschaftlichen Interessen des Urningthums» existiert keine einzige Ausgabe, nur das Titelblatt – es mangelte an Abonnent*innen. 50 Jahre später, in den frühen Jahren der Weimarer Repubik, erschien das Periodikum «Uranos», deren Titel man in Anlehnung an Ulrichs wählte. Später wurde der Name zu einem sprachlichen Museumsstück.
Auch der etymologische Ursprung des Wortes «lesbisch» liegt in Griechenland. Dort, auf der Insel Lesbos, lebte die Aristokratentochter und Dichterin Sappho (ca. 630 – 570 v. Chr.), eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der Antike, die u.a. ihre Liebe zu Frauen besang. Die Zeiten, als man sich solch poetischer Wortschöpfungen bediente, sind längst vorbei. Wenn wir heute über Menschen sprechen, deren sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten von jenen der Mehrheitsgesellschaft abweicht, bedienen wir uns schnöder Abkürzungen. Nun haben ja Buchstabenkombinationen von Natur aus immer etwas Verkopftes, wirken reissbretthaft und ja – etwas unsexy. Das ist auch beim Kürzel LGBTIQ (oder im deutschen Sprachraum: LSBTIQ) nicht anders. Es steht für: lesbisch, gay (= schwul), bisexuell, trans, inter und queer.
LGBTIQ – wer bietet mehr? «Buchstabenmonster» nannte es der schwule deutsche Autor und Aktivist Dirk Ludigs in einem Debattenbeitrag aus dem Jahr 2019. Das Kürzel LGBTIQ (teilweise auch nur als LGBT im Umlauf) habe es nie geschafft, wofür es mal erfunden worden sei, nämlich: «einen Geist der Gemeinschaft im Kampf gegen die Diskriminierungen durch eine Mehrheitsgesellschaft wecken», warum er, Ludigs, es nie mehr benutzen wollte. Denn ihr «fröhliches Wuchern und Wachsen» führe zu einem zunehmend lähmenden Gefühl der Zersplitterung. «Wie soll ich mich zu etwas zugehörig fühlen, das mich nicht einmal anständig benennen kann?», fragte er. Es liege in der Natur von Listen, explizit auszuschliessen, was sie nicht explizit einschlössen. Darum werde das «Monster» aus Buchstaben ja auch immer grösser und länger.
Manchmal aber auch kürzer, etwa wenn eine bestimmte Gruppe zum Ausdruck bringen möchte, dass eine bestimmte andere Gruppe, etwa die der trans Personen, nicht zur Community dazugehören solle und man mit ihnen auch sonst möglichst nichts zu tun haben wolle. Diese Gruppe nutzt das verkürzte Kürzel LGB als Kampfansage.
Die 6 Buchstaben LGBTIQ jedoch sind aktuell die gebräuchlichste und mehrheitsfähigste Abkürzung. Eine Zeitlang war es verbreitet, zwei «T»s zu benutzen, also LGBTTIQ – ein «T» stand für transsexuell, eins für transgender. Heute spricht man von Transidentität oder Transgeschlechlichkeit, benutzt dafür aber nur noch ein «T» in der Aufzählung.
In Mutationen dieses «Monsters» ist auch das Q bisweilen doppelt vertreten, einmal für queer, ein weiteres mal für questioning, um Personen zu inkludieren, die (noch) auf der Suche nach der eigenen Identität sind.
In manchen regionalen Communitys wird auch noch das «A» mit in die Buchstabenreihe aufgenommen, etwa in Frankfurt oder in Stuttgart. Dort wird zum Christopher Street Day oder am jährlich stattfindenden Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit (IDAHOBIT) auch ausdrücklich gegen Asexuellenfeindlichkeit demonstriert, beim IDAHOBITA. Der Gedenktag am 17. Mai 1990 erinnert an den Tag, als Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestrichen wurde und seitdem auch offiziell nicht mehr als Krankheit gilt. Seit 2018 gelten laut überarbeiteter WHO-Klassifikation ICD-11 auch trans Personen endlich nicht mehr als «mental oder verhaltensgestört».
Spätestens nach dem «A» aber folgt ein Sternchen * oder ein Plus-Zeichen +. Um all diejenigen Communitys mitzunehmen, die nicht mit einem Buchstaben vertreten sind. Leider handelt es sich bei solchen Sonderzeichen – abgesehen von der völligen Abwesenheit lyrischer oder poetischer Konnotationen – um eine inklusive, zumindest aber sprachliche Bankrotterklärung. Etwas, das – aus welchen Gründen auch immer: Platzmangel oder weil uns die Worte fehlen – unsagbar ist, wird durch einen Platzhalter ersetzt. Kann das eine befriedigende Lösung sein? Oder gar gerecht?
Nicht-binäre Sichtbarkeit Und wer ist eigentlich warum drin in dem Sechser-Kürzel bzw. wer fehlt und mit welcher Begründung? Geht es um die Grösse der Untergruppen oder darum, wer zuerst da war, genauer gesagt: zuerst sichtbar? In den 1990er Jahren, als Lesben und Schwule endlich als Sympathieträger*innen in Film und Fernsehen auftauchen durften, kannte man noch keine nicht-binären Personen. Sie sind erst seit wenigen Jahren sichtbar. 2022 zeigte das ZDF die Serie «Becoming Charlie» über das Leben einer nicht-binären Hauptfigur (MANNSCHAFT berichtete).
Sicher, Enbys wie Charlie wird es auch früher schon gegeben haben, nur kannte man noch kein befriedigendes Wort dafür. Heute geniesst neben der trans Community die Gruppe der nicht-binären Personen eine Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit wie keine andere der «neueren» (im Sinne: stärker ins Bewusstsein gekommenen) Gruppen. Das ist u.a. dem Schweizer Literaturstar Kim de L’Horizon zu verdanken (erhielt 2022 den Deutschen Buchpreis und den Schweizer Buchpreis); im Bereich der Popmusik sorgen DJ Felix (Fee) Jaehn und Nemo (siegte für die Schweiz beim Eurovision Song Contest 2024 – MANNSCHAFT berichtete) sowie US-Promis wie Janelle Monae oder Demi Lovato für Sichtbarkeit.
Allerdings ist die Gruppe der Nicht-Binären gar nicht explizit in LGBTIQ vorhanden. Dabei dürfte sie größer sein als die Gruppe der inter Personen, mindestens aber ist sie sichtbarer. Es soll gar nicht darum gehen, eine Gruppe aus der Community gegen die andere aufzurechnen. Trotzdem stellt sich die Frage: Ist die Abkürzung LGBTIQ noch adäquat? Unter diesem Dachkürzel haben sich mittlerweile Untercommunitys mit eigenem Kürzel herauskristallisiert, die für die Inklusion von Enbys sorgen, nämlich FLINTA (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) sowie TIN (trans, inter und nicht-binäre Personen).
Wollte man nun alle sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten in einem einzigen Kürzel unterbringen – also auch Menschen, die sich beispielsweise als polyamor, demigender oder genderfluid bezeichnen: Heraus käme eine Buchstabenkombination, die den Namen «Kürzel» nicht mehr verdient und die mehr verwirrt als ordnet und hilft.
Der Wunsch aller Angehörigen der queeren Familie nach Repräsentation und Sichtbarkeit ist nachvollziehbar und berechtigt. Zudem kann man auf die Buntheit der Welt im allgemeinen und der Community im Besonderen verweisen, wie sie sich alljährlich auf das Schönste auf den Paraden zum Christopher Street Day zwischen Lübeck und Landshut zeigt. Rund 40 verschiedenen Flaggen kennt die Community inzwischen (Fahnenkunde mit MANNSCHAFT). Sie sorgen für Sichtbarkeit und Selfempowerment, keine Frage. Aber wenn man in die Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft geht, der gleiche Rechte und der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt abgetrotzt werden sollen, braucht es eine klare Vermittlung. Einen schlüssigen Oberbegriff. Das können 6 Buchstaben besser leisten als, sagen wir, … 81.
Schon Magnus Hirschfeld (1868 – 1935) sprach einst von 81 Kombinationen von Geschlechtscharakteren und nannte sie «Zwischenstufen”. Darunter verstand der grosse deutsche Sexualforscher, Arzt und Mitbegründer der weltweit ersten Homosexuellen-Bewegung (WhK) «Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Einschlägen». In seine Entwicklung des sexuellen «Individualtypus» des Menschen zwischen den beiden Polen «Vollmann» und «Vollweib» liess er körperliche Merkmale, seelische Eigenschaften, Charakter und Begehren einer Person einfliessen.
Für Hirschfeld etwa war Bisexualität eine Zwischenstufe des Geschlechtstriebs, unter „Transvestitismus» wiederum verstand er eine Zwischenstufe «sonstiger seelischer Eigenschaften”. Später unterschied er zwischen «Transvestitismus» (was man heute «Cross-Dressing» nennen würde: Menschen, die – unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung – gerne öffentlich oder zuhause die spezifische Kleidung des anderen Geschlechtes tragen, immer oder ab und zu) und dem von ihm sogenannten «seelischen Transsexualismus».
81 Grundtypen machte Hirschfeld bereits vor über 100 Jahren aus. In Worten: einundachtzig. Das sind mehr, als das Alphabet an Buchstaben aufzubieten hat. Ein solches Kürzel würde sich in einem durchschnittlich formatierten Zeitungsartikel über weit mehr als eine Zeile erstrecken und ist somit untauglich.
Die Gegenwart ist queer. Die Zukunft auch? Um die Welt zu verstehen und zu beschreiben, sind nunmal Kategorisierungen und Vereinfachungen notwendig. Dabei geht es sogar noch einfacher als mit der Abkürzung LGBTIQ. So wie einst das deutsche Wort schwul legte die Bezeichnung queer (womit man ursprünglich nicht-heterosexuelle Menschen als pervers, sonderbar oder suspekt schmähte) eine erstaunliche Karriere hin. Nachdem der offen homosexuelle US-Autor William S. Burroughs (1914 – 1997) bereits in den frühen 50er Jahren die autobiografische Novelle namens Queer verfasste, die aber erst 1985 veröffentlicht wurde, begann sich das Wort zu mausern. Nach und nach begannen Menschen vor allem in den USA, «queer» als positive Eigenbezeichung zu verwenden und das Wort so einer Neubewertung zu unterziehen und schlieslich zu einem positiv besetzten Trotzwort umzudeuten.
In den 1990er Jahren kamen die Queer Studies auf (auch: Queer Theory), die sich gegen die Normalitätsanforderungen von Gesellschaft und Wissenschaft wandten und durch ein grundsätzliches Hinterfragen von heteronormativen Identitätskonzepten auszeichnete oder wie es Judith Butler nennt: der «heterosexuellen Matrix».
Vor wenigen Jahren hat das Wort «queer» sogar Eingang gefunden in das Vokabular der deutschesten aller Nachrichensendungen, der ARD-«Tagesschau». Und am 5. Januar 2022 wurde mit Sven Lehmann (Grüne) in Deutschland erstmals ein Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt berufen, kurz: der Queer-Beauftragte (MANNSCHAFT berichtete).
Ist «queer» nun das Wort für alle, die sich nicht als hetero verstehen und nicht als cis identifizieren? Ein sprachlicher Glücksfall gar, vor allem im deutschen Sprachraum, wo das Wort sich nie als Schimpfwort etablieren konnte wie eben «schwul»?
Das klingt zu gut, um wahr zu sein. Es ist auch nicht allen, die sich der LGBTIQ-Community zugehörig fühlen, geheuer. Wer in den Jahren nach den Stonewall Riots in New York im Jahr 1969 auch hierzulande dafür gekämpft hat, offen und unbescholten schwul, lesbisch oder bisexuell sein zu dürfen, hat heute eher nicht die Neigung, sich als queer zu bezeichnen. Zudem sind Konservative und Rechte eher nicht im Fanclubs dieses Wortes vertreten, schon weil sie progressiven identitätspolitischen Fragen prinzipiell skeptisch gegenüber stehen.
Zuletzt wandten sich die deutschen Bundespolitiker*innen Jens Spahn (CDU) und Alice Weidel (AfD) gegen diesen Überbegriff. Man muss ihre jeweilige politische Ausrichtung und Gesinnung nicht gutheissen oder gar mit ihr sympathisieren, aber ihre Homosexualität macht sie dennoch zu Mitgliedern der queeren Grossfamilie. Und wie es nunmal so ist mit Familien: Manches Mitglied ist beliebter, andere bekommen an Weihnachten nichtmal eine Postkarte und werden schon gar nicht zu Geburtstagen oder hohen Feiertagen eingeladen. Spahn liess es sich übrigens in einem Interview zum Thema «schwul» vs. «queer» nicht nehmen, den Begriff und die Identität «queer» herabzuwürdigen, als er sagte: Er könne wenig «mit diesem ‚Ich identifizier‘ mich jetzt mal als dies oder jenes‘ – so als allgemeiner Ansatz des Denkens» anfangen.
Die Entscheidung für oder gegen «queer» als individuelle Selbstbeschreibung scheint also einerseits eine Altersfrage zu sein, sie ist aber auch Ausdruck einer politischen Überzeugung. Als Sammelbeschreibung aller, die sich nicht als heterosexuell oder cis identifizieren, ist es ein Geschenk. Und zumindest für den Moment eine gute Lösung, ohne monströse Auswüchse. Eines Tages kommt vielleicht auch das Wörtchen «queer» aus der Mode. So wie einst der gute alte Urning.
Dieser Text ist zuerst erschienen als Auftragsarbeit für die Schachtsiek-Familienstiftung. Diese fördert Kulturprojekte in den Bereichen LGBTIQ und Musiktheater.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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