«Bisexualität wird in gleichgeschlechtlichen Beziehungen ausgeblendet»

Ein Gespräch über Vorbilder und Sichtbarkeit

Bi Pride Flag (Foto: Wikipedia/Peter Salanki)
Bi Pride Flag (Bild: Wikipedia/Peter Salanki)

Bisexuelle Menschen fühlen sich oft übersehen, sagt Lea Holzfurtner von Bi+Berlin. Wir sprachen mit der klinischen Sexologin über Vorurteile und Diskriminierung, aber auch über Empowerment für die Bi+-Community.

Lea, du bist Vorständin des Vereins BiBerlin e.V., der mit der Fachstelle Bi+Berlin eine Beratungsstelle nur für Menschen auf dem bisexuellen Spektrum geschaffen hat. Wie sichtbar ist denn deiner Meinung nach das bisexuelle Spektrum mittlerweile?

Bi+-Menschen stellen tatsächlich die grösste Gruppe unter dem Regenbogenschirm dar – und dennoch bleiben ihre Lebensrealitäten oft im Schatten. Dabei zeigen aktuelle Zahlen, wie präsent nicht-monosexuelle Identitäten heute sind: In einem Workshop zu einer Dating-App erfuhr ich kürzlich, dass sich mittlerweile rund 30 bis 40 Prozent der Nutzenden als nicht monosexuell bezeichnen.

Auch eine Yougov-Umfrage aus dem Jahr 2015 liefert ein bemerkenswertes Bild: Über die Hälfte der unter 24-Jährigen beschreibt sich dort als nicht monosexuell. Das zeigt, wie sehr sich unsere gesellschaftliche Wahrnehmung verändert – und wie viele Menschen sich jenseits starrer Kategorien von Hetero- oder Homosexualität verorten.

Bisexuelle Lebensrealitäten hat es immer schon gegeben. Doch heute werden sie – mit den passenden Begriffen und Labels – endlich sichtbarer und sprachlich fassbarer. Diese Entwicklung ist nicht nur befreiend, sondern auch ein wichtiger Schritt hin zu mehr Anerkennung, Differenzierung und Selbstbestimmung innerhalb der queeren Community.

Lea Holzfurtner von Bi+Berlin (Foto: privat)
Lea Holzfurtner von Bi+Berlin (Bild: Brigitte Drummer)

In eurer Beratungstätigkeit geht es ja sicher auch oft um Vorurteile. Was schlägt bisexuellen Menschen da immer wieder entgegen?

Bisexuellen und allgemein nicht-monosexuellen Menschen begegnen immer wieder dieselben Vorurteile – und das zusätzlich zur fortwährenden «Bi-Erasure». Damit ist die Tendenz gemeint, Bisexualität in Geschichte, Wissenschaft und Medien zu ignorieren, zu verleugnen oder zu verzerren. Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass bisexuelle Menschen nicht treu sein könnten, dass ihnen nicht zu trauen sei oder dass sie mit einer einzigen Person niemals wirklich glücklich sein könnten. Uns wird unterstellt, zwischen den Welten zu schwanken, ohne je in einer davon «richtig» anzukommen.

Kommen solche Vorurteile nur aus heterosexuellen oder auch aus queeren Bereichen?

Es gibt das Gefühl, nie ganz dazuzugehören: In queeren Räumen gelten wir häufig als «nicht queer genug», in heteronormativen Kontexten wiederum als «zu anders». Sind wir in einer heterosexuell gelesenen Beziehung, wird uns oft abgesprochen, überhaupt Diskriminierung zu erleben – es wird angenommen, wir hätten es doch «einfach». Gleichzeitig geraten wir in der queeren Community schnell unter Verdacht, unsere Identität zu verraten. Und wenn wir eine gleichgeschlechtliche Beziehung führen, wird unsere Bisexualität häufig komplett ausgeblendet – wir werden als homosexuell gelesen.

Unsere sexuelle Identität wird nicht als etwas Eigenständiges wahrgenommen, sondern abhängig vom aktuellen Geschlecht der Partnerperson monosexuell umgedeutet. All das verstärkt die Unsichtbarkeit bisexueller Menschen – und treibt Bi-Erasure weiter voran. Es ist höchste Zeit, diese Dynamiken sichtbar zu machen und zu durchbrechen.

Gibt es so etwas wie einen typisch bisexuellen Outingprozess?

Viele bisexuelle Menschen machen beim Coming-out spezifisch negative Erfahrungen – häufig begleitet von Belächeltwerden oder Infragestellung. Nicht selten wird unsere Identität als blosser «Zwischenschritt» abgetan: als Phase auf dem Weg zu einer angeblich finalen Entscheidung zwischen Hetero- oder Homosexualität. Statt unsere sexuelle Orientierung als eigenständig anzuerkennen, werden wir von Angehörigen, Freundinnen oder Kolleginnen in Schubladen gesteckt – abhängig davon, mit welchem Geschlecht wir gerade in einer Beziehung sind.

Doch sexuelle Orientierung ist keine Funktion der aktuellen Partnerschaft. Sie lässt sich nicht von der Partnerperson ableiten, sondern ist ein Teil unseres Selbst – unabhängig davon, mit wem wir unser Leben teilen. Gerade diese Unsichtbarmachung im Alltag zeigt, wie wichtig es ist, bisexuelle Identität nicht nur mitzusprechen, sondern auch mitzudenken.

Bi+Berlin
(Bild: Bi+Berlin)

Wir haben schon über Vorurteile und Diskriminierungen gesprochen, die bisexuelle Menschen erfahren. Aber hast du auch schon einmal festgestellt, dass es so etwas wie eine «bisexuelle Perspektive» gibt, also eigene Erfahrungen, die einem viel Positives bringen können?

Sowohl im privaten Bereich als auch in meinem Hauptberuf als klinische Sexologin erlebe ich, dass ich soziale Geschlechterrollen als weniger starr empfinde. Durch meine bisexuelle Perspektive fällt es mir leichter, mich in unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen hineinzuversetzen – auch, weil ich selbst in verschiedenen sozialen Rollen lebe, die mit dieser sexuellen Orientierung einhergehen. Es geht dabei nicht nur um individuelle Identität, sondern auch um gesellschaftlich zugeschriebene Rollen, die mit Geschlecht und sexueller Orientierung verknüpft sind. Die bisexuelle Erfahrung eröffnet einen Zugang zu mehreren Perspektiven – und genau das kann ein sehr schöner, vermittelnder Prozess sein, der zu mehr Verständnis, Offenheit und Verbindung führt.

Der Begriff Bisexualität verleitet manchmal dazu, etwas falsches anzunehmen. Nämlich, dass es um Binarität ginge, um lediglich ein Entweder-oder. Wie definiert ihr denn in eurer Arbeit Bisexualität?

Manche Menschen fühlen sich mit dem Begriff bisexuell zunächst unwohl, weil er scheinbar die Binarität – also die Einteilung aller Menschen in entweder Mann oder Frau – zu betonen scheint. Doch das ist ein Missverständnis. Gerade Organisationen wie Bi+Berlin setzen dem bewusst etwas entgegen: Das Pluszeichen steht für die Anerkennung aller Geschlechter jenseits der Zweigeschlechtlichkeit. In unserer Vereinsarbeit erleben wir täglich, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt – und dass bisexuelle Menschen vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichsten Geschlechtsidentitäten machen.

Ich persönlich mag folgende Definition von Bisexualität sehr: sexuelle Anziehung zu Personen, die dasselbe Geschlecht wie ich performen, und zu Personen, die ein anderes Geschlecht performen. Die Aktivistin Robyn Ochs hat diese Definition treffend ergänzt: «nicht unbedingt zur selben Zeit, nicht auf dieselbe Art und nicht in derselben Intensität.» Dieser Offenheit und Fluidität stimmen wir als Verein ausdrücklich zu. Innerhalb des nicht-monosexuellen Spektrums gibt es viele weitere Identitätsbegriffe wie pansexuell oder polysexuell, die jeweils eigene Nuancen betonen.

Eine sexuelle Orientierung bezieht sich ja nicht nur auf Handlungen, sondern hängt auch an Fantasien und vielem mehr. Wie siehst du das?

Die spannende Frage ist: Ab wann bezeichnet man sich selbst eigentlich als bisexuell oder nicht-monosexuell? Geht es dabei um romantische oder sexuelle Fantasien? Um gelebte Erfahrungen und Beziehungen? Oder vielleicht um eine innere Resonanz, ein Gefühl von Zugehörigkeit? Diese Unschärfe zeigt, dass es nicht die eine Definition geben kann – und dass das auch völlig in Ordnung ist. Denn so unklar der Begriff manchmal erscheinen mag, so kraftvoll kann es sein, für sich selbst eine Bezeichnung zu finden. Die eigene sexuelle Identität zu benennen kann einen zutiefst empowernden Effekt haben – im Inneren wie nach aussen.

Wenn es darum geht, gesehen zu werden, spielt ja auch die Popkultur, die Werbung und das gesellschaftliche Umfeld eine grosse Rolle. Wie sichtbar, würdest du sagen, sind da denn bisexuelle Menschen derzeit?

Bisexuelle Figuren oder Handlungen tauchen in den Medien nach wie vor selten auf – und wenn doch, dann häufig in stark sexualisierter Form. Wir sind oft die «Einhörner» für Dreierfantasien oder übersexualisierte Charaktere, denen man keine Treue zutraut und die angeblich nie monogam leben können. Diese einseitigen Darstellungen prägen unser gesellschaftliches Bild und tragen dazu bei, dass Bisexualität weiterhin missverstanden und marginalisiert wird. Doch ich beobachte mit Freude, dass sich etwas verändert: Es entstehen zunehmend Formate, in denen Menschen einfach Bi+ sein dürfen, ohne dass ihre sexuelle Orientierung zur zentralen Handlung oder zum Problem gemacht wird (MANNSCHAFT berichtete).

«Bisexuelle Vorbilder wie Doechii schaffen eine empowernde Sichtbarkeit für die grösste Gruppe unter dem queeren Regenbogen.»

Es gibt Geschichten mit bisexuellen Figuren, die ein ganz normales Liebes-Happy-End erleben – ohne Drama, ohne Erklärungszwang. Auch öffentliche Persönlichkeiten tragen zur Veränderung bei (MANNSCHAFT berichtete). Zuletzt etwa die amerikanische Rapperin Doechii, die sich offen und selbstbewusst als bi identifiziert. Solche Vorbilder schaffen eine andere, empowernde Sichtbarkeit für die grösste – und oft am meisten vergessene – Gruppe unter dem queeren Regenbogen. Es ist schön zu sehen, dass sich hier etwas bewegt.

Zurück zu eurer konkreten Arbeit am Bi+Berlin. Kannst du mal beschreiben, wie eurer Tätigkeitsfeld so aussieht?

Die Fachstelle Bi+Berlin und der Verein Bi+Berlin sind zentrale Anlaufstellen für Menschen, die sich selbst im Bi+-Spektrum verorten – ebenso wie für deren Angehörige sowie Fachkräfte, die sich zu diesem Thema weiterbilden möchten. Unser gemeinsames Ziel ist es, nicht-monosexuellen Menschen in Berlin mehr Sichtbarkeit zu verschaffen, Diskriminierung abzubauen und über die vielfältigen Lebensrealitäten jenseits von Monosexualität aufzuklären. Bi+Berlin ist ein einzigartiges Pilotprojekt im deutschsprachigen Raum – und derzeit die einzige öffentlich geförderte Beratungsstelle, die sich ausschliesslich an Bi+ Menschen richtet. Die Fachstelle verfügt mittlerweile über zwei feste Mitarbeiterinnen, die niedrigschwellige Beratung anbieten, Workshops durchführen und Vorträge halten.

Der Verein Bi+Berlin wiederum engagiert sich vor allem politisch. Er organisiert vielfältige Meet-ups, Austauschformate und Veranstaltungen – gezielt auch für unterschiedliche Gruppen innerhalb der Bi+ Community. So entsteht Raum für Sichtbarkeit, Vernetzung und Empowerment in einer oft übersehenen Gruppe der queeren Community.

Können sich auch Menschen von ausserhalb Berlins, und auch Personen aus der Schweiz oder Österreich bei euch melden?

Natürlich richtet sich unsere Beratung primär an Berliner*innen. Aber wir fragen bei den auf Wunsch anonym stattfindenden Gesprächen keinen Wohnort ab. Es gibt neben Bi+Berlin natürlich im ganzen D-A-CH-Raum sowohl überregionale als auch regionale Gruppen, die sich für ihre jeweiligen Bi+s einsetzten.

Was sind eure nächsten Veranstaltungen am Bi+Berlin, wo kann man euch vielleicht ganz unkompliziert treffen? Wir sind in der Pride Saison mit einem grossen Infostand auf dem Lesbisch-Schwulem Stadtfest in Berlin. In dieser Zeit präsentieren wir auch die Ergebnisse unserer eigenen Befragung der Bi+-Community und deren Bedarfe und Erfahrungen. Daneben sind wir auch als Fussgruppe beim Berlin Pride, sowie beim Queeren Parkfest und beim Folsom Europe mit grossen Infoständen vertreten. Im September gibt’s dann eine grosse Party zum Bi+VisibilityDay.

Die Beratungsstelle Bi+Berlin ist hier erreichbar.

Ehre auf dem Walk of Fame: Ein Stern für Green Day und Sänger Billie Joe Armstrong (MANNSCHAFT berichtete).

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