Flucht aus der Ukraine: «Ich mag das Gefühl von Freiheit»

Queerer junger Mann findet Schutz in Berlin

Eddie vor dem Brandenburger Tor in Berlin
Eddie (Bild: Privat)

Eddie ist aus der Ukraine nach Berlin geflüchtet. Dort fand der queere junge Mann Schutz und Freund*innen. Der Weg dahin war aber äusserst gefährlich und steinig.

An der rumänischen Grenze kam er zunächst in eine Unterkunft: «Das Leben dort erwies sich als schrecklicher Alptraum und als harter Überlebenskampf», sagt er heute.

Das erste Mal allein von seiner Heimatstadt Saporischschja aus nach Kiew reisen, das wollte Eddie 2022, da war er 17 Jahre alt. Es wäre seine erste grosse Reise gewesen. Vorher erlaubte es seine Mutter nicht. Es sei zu gefährlich, die Stadt zu verlassen, fand sie. Heute lebt Eddie in Berlin, nach einer langen, gefährlichen Reise durch Europa. Was «Gefahr» bedeutet, das mussten er und seine Familie dabei ganz neu lernen.

«Das Leben in der Ukraine war vor dem Beginn der umfassenden Invasion recht friedlich und ruhig», sagt Eddie gegenüber MANNSCHAFT. Er ging aufs College und hatte viele Freunde. Gern war er mit ihnen auf Stadtfesten unterwegs. Doch mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 änderte sich für ihn alles. Anfangs dachten er und seine Freunde, dass die Sirenen und Explosionsgeräusche in ein paar Wochen, vielleicht Monaten, Vergangenheit sein würden. So, wie es ukrainische Politiker*innen damals immer sagten. Doch so kam es nicht.

«Während des Krieges blieb die Zeit stehen, die Zeit war verloren. Und die Nächte wurden zum schlimmsten Teil des Tages,» sagt Eddie. «Dann, wenn die Sirenen auf den Strassen heulten und die Höfe dunkel und ohne Licht waren». In der Ferne seien immer Maschinengewehrschüsse und Explosionsgeräusche zu hören gewesen. «Jede Nacht ging man mit dem Gedanken ins Bett, dass man vielleicht nicht mehr aufwachen würde, weil diesmal eine Rakete in das Haus fliegen könnte.» Es war eine komplett neue Erfahrung für Eddie, für seine Familie und seine Generation. Für Menschen in Westeuropa ist es etwas bis heute gänzlich Unvorstellbares.

Eddie
Eddie musste zeitweise Flaschen sammeln, um sich Essen zu kaufen (Bild: Privat)

In EU-Ländern begannen damals die Menschen zu lernen, wo Städte wie Saporischschja, Odessa und Mariupol überhaupt liegen. In der Ukraine wurde gekämpft, gelitten und gestorben. «Wir kamen nach drei Kriegsmonaten zu dem Schluss, dass ich die Heimat verlassen müsste. Bereits im Mai hatten wir erwogen, mich nach Europa zu schicken, um den Sommer abzuwarten und im September zurückzukehren, wenn das neue Schuljahr beginnen würde,» sagt Eddie rückblickend. Doch auch dies kam anders.

So sahen Eddie und seine Familie ein, dass er wohl das Lang für länger verlassen musste. Und er musste sich damit beeilen. «Der Hauptgrund dafür, dass ich von zu Hause wegging, lag in der Gefahr, an die Front geschickt zu werden», erklärt er. Denn im Juni 2022 wurde er 18 Jahre alt und das bedeutete, dass er das Land nicht mehr würde verlassen dürfen. Innerhalb der Familie habe man viel und lange darüber nachgedacht, in welches Land er gehen sollte. Es sollte eines mit einer Grenze zur Ukraine sein, damit Eddie nach Ende des Krieges leicht wieder nach Hause zurückkehren könne, so entschieden sie schliesslich.

Ursprünglich war die Idee eine andere. Eigentlich wollte er zu Verwandten gehen, doch viele waren zu weit weg. Zwar hatte er sogar in Berlin eine Grossmutter und eine Tante, doch die beiden wollten ihn nicht aufnehmen. In Deutschland gebe es zu viel Bürokratie und zu wenig Wohnraum, sagten beide. Als letzte Möglichkeit blieb dann noch Rumänien. Dort immerhin gab es ein Mädchen, mit dem er zusammen auf dem College war. «Ich musste mich allein auf die Reise machen. Meine Mutter beschloss, wegen ihrer Verwandten in Saporischschja zu bleiben, und so musste ich mir im Alter von 17 Jahren meinen Weg selbst suchen», sagt Eddie.

Eddie in Berlin
Eddie in Berlin (Bild: Privat)

Dass Eddie noch nicht volljährig war, wurde an der rumänischen Grenze dann zum Problem. Weil er keine Begleitperson bei sich hatte, wurde er erstmal in eine Unterkunft in einer Grenzstadt gebracht, bis er 18 wurde. Diese Unterkunft wurde jedoch kein schöner Ort für ihn. «Das Leben dort erwies sich als schrecklicher Alptraum und als harter Überlebenskampf», sagt er heute. Er wollte zurück nach Hause, aber ihm war klar, dass seine Eltern ihn dann nicht mehr beschützen könnten. Gleichzeitig vermisste er seine Eltern sehr, und tut dies bis zum heutigen Tag. «Damals hoffte ich immer noch, dass ich Ende August oder vielleicht im September 2022 nach Hause zurückkehren würde und alles wieder so sein würde wie vorher, aber leider ist das nicht geschehen.»

Als er dann endlich 18 Jahre alt wurde, fing er in Bukarest an als Hilfskoch an zu arbeiten. «Ich wurde ohne Erfahrung in der Küche und ohne Rumänischkenntnisse eingestellt. Ich konnte zwar theoretisch Englisch, hatte aber wenig Übung beim Sprechen». Die Arbeit in der Küche erwies sich als sehr schwierig für ihn. Am ersten Arbeitstag bekam er dann auch noch Bluthochdruck und starke Kopfschmerzen mit hohem Fieber. Auch am folgenden Tag hielten die Symptome an und man riet ihm, einen Covid-Test zu machen, der dann auch noch positiv war.

Die Krankheit spitzte sich zu: Es ging ihm immer schlechter, jeden Tag fiel ihm das Atmen schwerer, und er brauchte ärztliche Hilfe. In ein Krankenhaus kam er aber nicht, weil er als Flüchtling, der zudem auch kein rumänisch sprach, dort keinen Termin bekam. Erst ein Büro der Vereinten Nationen half ihm und besorgte einen Arzt. Danach ging es ihm schrittweise besser. Auch beruflich fand er etwas, dass besser zu ihm passte. «Im September ging ich zu einer Organisation, die mit Jugendlichen arbeitete, und ich bekam eine Stelle als Sozialarbeiter.» Dort gefiel es ihm viel besser als in der Küche.

Doch obwohl sich Eddies Leben in Rumänien wieder etwas gefangen hatte, wollte er auch nach eineinhalb Jahren nicht dort bleiben. «Ich sah hier keine Entwicklung und keine Zukunft», sagt er über diese Zeit. «Ich fühlte mich dort nicht sicher, war ständig angespannt und apathisch.» Eigentlich war er gekommen, um in Rumänien das Ende des Krieges abzuwarten. Doch Russland bombte immer weiter und alles zog sich immer mehr in die Länge. Also zog Eddie Ende Dezember 2023 von Bukarest aus weiter. Damit begann ein neuer Abschnitt seiner Reise, die nicht weniger Herausforderungen für ihn bereitalten sollte.

Sein Ziel war von da an Deutschland. Dabei sass er aber in dieser Zeit zwischen den Stühlen, denn wenn er in Deutschland nicht würde bleiben können, stünde er in Rumänien wieder vor dem Nichts. Denn dort hatte er in der Zwischenzeit alles bereits aufgegeben: «Ich hatte all mein Hab und Gut an Bedürftige verschenkt», sagt er. Die grösste Angst war, dass ihm in Deutschland das Asyl verweigert werden würde. So war Berlin für ihn einerseits ein Sehnsuchtsort, aber gleichzeitig andererseits auch ein ungewisses Ziel.

Nach Berlin gehen zu wollen, lag vor allem an einer Erfahrung, die er bereits 2022 gemacht hatte. Dort war er das erste Mal in der Stadt gewesen und ging auf das queere Fetischfestival «Folsom». «Ich war überwältigt von der Offenheit der Menschen dort, davon, wie sie sich ausdrückten. Die Leute da sahen so aus, wie sie aussehen wollten, zogen die Kleidung an, die sie wollten, ohne darauf zu achten, wie das auf andere wirkt oder was andere denken würden.» Auch hatte sich bis zu seiner Abreise aus Bukarest eine Beziehung ergeben. Sein Freund lebte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Berlin.

Doch als Eddie nach seiner Zeit in Rumänien Ende 2023 dann dort ankam, entwickelte sich alles ganz anders. Er und sein Freund trennten sich bereits nach einem Monat. Wohnen bleiben musste er jedoch dann noch bei ihm, weil die Behörde es so verlangte. «Ich musste 5 Monate so überleben, bis ich eine legale Aufenthaltsgenehmigung bekam», sagt Eddie. Und besser wurde es erstmal nicht. Erst fand er ein völlig überteuertes Zimmer, in das nicht mal eine Doppelmatratze hinien passte. Dann wurde er auch noch von der Wohnungseigentümerin bedroht. Dieses Erlebnis hat bei ihm nachhaltig Spuren hinterlassen, wie er heute sagt: «Nach diesem Vorfall wurde es für mich immer schwieriger, Menschen zu vertrauen».

Eddie protestiert für die Unterstützung der Ukraine
Eddie vor dem Brandenburger Tor (Bild: Privat)

Als er dann ein anderes Zimmer fand, musste er sein ganzes Gehalt, das er aus seinem Job bekam, in die Miete stecken. «Es war dann aber kein Geld für Essen mehr übrig, also bat ich andere um Hilfe und sammelte Flaschen, um wenigstens Essen zu kaufen», sagt er heute. Vom deutschen Jobcenter bekam er keinerlei Hilfen. Erst nach mehr als einem Jahr in Deutschland konnte er endlich Sprachkurse besuchen. Dies ermöglichte es ihm einen Job zu finden, der immerhin genug Geld einbrachte, um davon Miete und Lebensmittel bezahlen zu können.

«Ich habe mich für Deutschland entschieden, weil ich mich insbesondere in Berlin freier und selbstbewusster fühle.»

Eddie

Trotz dieser Erlebnisse in Berlin, wo er so einen schweren Start hatte, blieb sein Bild von Deutschland positiv. «Ich habe mich für Deutschland entschieden, weil ich das Gefühl hatte, dass ich mich in Deutschland, insbesondere in Berlin, freier und selbstbewusster fühle», sagt er. «Ich mag das Gefühl von Freiheit.» Für ihn sei es immer wichtig gewesen, sich in der Gesellschaft, in der er lebt, nicht zu verstecken, sondern so zu sein, wie man sei, und sich nicht an Vorstellungen anderer Leute anzupassen. «Das habe ich in Berlin gespürt», sagt Eddie.

Auch die Mobilität in Deutschland weiss er sehr zu schätzen. Er finde es toll, «wenn man sich entscheiden kann, in eine andere Stadt zu fahren, ohne es Wochen oder Monate im Voraus planen zu müssen.» Was ihn allerdings an Deutschland ärgere, seien die hohen Mietpreise und der Mangel an Wohnungen. Ebenfalls die sehr langen Wartezeiten bei einem Arzt oder einer Behörde irritieren ihn immer wieder. «Für ein bestimmtes Dokument braucht man wieder fünf weitere Dokumente», sagt er ungläubig. Behörden benötigten viele Monate, um Anträge zu bearbeiten, manchmal seien diese sogar innerhalb der Ämter verloren gegangen.

Und wie blickt Eddie heute, im Alter von 21 Jahren, auf seine Erlebnisse zurück? «Im Laufe dieser Jahre bin ich definitiv erwachsen geworden. Ich wurde viel unabhängiger und habe keine Angst mehr, Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen», sagt er. Diese Herausforderungen hätten ihn verantwortungsbewusster und stressresistenter gemacht.

Für die Zukunft erhoffe er sich, dass der Krieg in seinem Land vorbei sein solle und er nach Hause kommen könne, um seine Heimatstadt und seine Familie wiederzusehen. «Aber ich habe nicht vor, in der Ukraine zu bleiben», sagt er. «Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich in Deutschland bleiben oder weiter nach Möglichkeiten suchen werde, meine Situation zu verbessern. Ich hoffe, dass ich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen muss und wünsche mir eine ruhige und gute Zukunft», sagt Eddie, «und wenn sich eine Gelegenheit für etwas anderes ergibt, werde ich sie nicht ausschlagen».

Mehr: «Leuchtendes Beispiel» – Pride Award für Susanne Baer (MANNSCHAFT berichtete)

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