«Islamische Länder kannten im 13. Jahrhundert schon Sex-Ratgeber»

François Boucher - Jupiter und Kallisto (Foto: Wikipedia/The Yorck Project)
(Bild: Foto: Wikipedia/The Yorck Project)

Der Historiker Dino Heicker hat eine «Weltgeschichte der Queerness» geschrieben. Gegenüber MANNSCHAFT spricht er über Homosexualität im alten China, inter Personen im Mittelalter und die «Erfindung der Homosexualität» in Deutschland.

Heicker räumt mit verfestigten Vorurteilen auf und bringt Licht uns Dunkle. Er startet damit in der griechischen Antike: Zeus sei der queere Gott schlechthin gewesen.

Die queeren Helden der Geschichte sind vielen Menschen bekannt. Oscar Wilde gehört dazu, Caravaggio und Michelangelo. Doch wie war es im als sittenstreng geltenden Mittelalter? Wie in vergangenen Jahrhunderten in der islamischen Welt, oder im Fernen Osten?

Dino Heicker (Foto: D.O.N.)
(Bild: Foto: D.O.N.)

Dino Heicker räumt in seinem Buch mit verfestigten Vorurteilen auf und bringt Licht uns Dunkle. Er startet damit in der griechischen Antike. Zeus sei der queere Gott schlechthin gewesen, schreibt er. Er konnte sich in andere Geschlechter verwandeln, hatte als Mann mit Männern Beziehungen und in eine Frau verwandelt dann mit einer Frau. Auch mit Wetterphänomenen trieb er es.

Das Spannende: viele der Sexualitäten und sexuellen Orientierungen, für deren Anerkennung in den letzten Jahren mühsam gekämpft wurde, kommen in den Geschichten der griechischen Mythologie schon vor - auch wenn sie bisher kaum wahrgenommen oder gar unterdrückt wurden. Die Jagdgöttin Artemis etwa kann als asexuell gelesen werden und der Seher Tiresias wechselte zeitweise sein Geschlecht. Natürlich fehlen bei Heicker auch nicht Lesbos und Sappho, die bis heute als lesbische Ikonen dienen (MANNSCHAFT berichtete), sowie die «Heilige Schar», eine Armee, die nur aus schwulen Männern bestand.

Weltgeschichte der Queerness (Foto: BeBra Verlag)
(Bild: Foto: BeBra Verlag)

Gleich eine ganze Weltgeschichte der Queerness zu schreiben ist natürlich ein riesiges Unterfangen. «Man hätte ein Buch zum Thema Queerness auch problemlos mit Themen aus dem deutschsprachigen Raum füllen können», sagt Dino Heicker gegenüber MANNSCHAFT, «aber der Blick über den Tellerrand hinaus in die historische Tiefe und die geografische Weite hat sich bei diesem sehr, sehr vielfältigen Thema einfach angeboten.»

Und in der Tat berichtet der Autor dann von der «Liebe des angebissenen Pfirsich», wie in China gleichgeschlechtliche Beziehungen bezeichnet wurden. Dies geht auf eine Geschichte aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zurück, in der sich zwei männliche Lover einen Pfirsich teilten. Solche Lieben werden bis heute auch «die Liebe des abgeschnittenen Ärmels genannt». Dies stammt aus einer Erzählung, wonach sich im 1. Jahrhundert ein Kaiser in einen Höfling verliebte. Als dieser auf seinem Arm einschlief und er ihn nicht wecken wollte, schnitt er sich seinen Ärmel vom Gewand ab.

«Auffällig ist die relative Gelassenheit gegenüber mann-männlicher Sexualität und wohl auch weiblicher Homosexualität im alten China», erklärt Heicker. «Das war eine durchaus akzeptierte Spielart der Liebe, die gesellschaftlich nicht verachtet war. Dass in aller Regel gleichzeitig eine gegengeschlechtliche Ehe geführt wurde, gehört mit zum Gesamtbild.» Bei diesem Blick nach Asien berichtet Heicker auch von Liebesgeschichten zwischen Samurais in Japan, oder einem Schriftsteller, der im 17. Jahrhundert den «Spiegel der Männerliebe» verfasste».

Edward II. und Piers Gaveston von Marcus Stone (Foto: Wikimedia/Kunst für alle)
(Bild: Foto: Wikimedia/Kunst für alle)

Queer geht es auch in den Geschichten von 1001 Nacht zu. In einer davon geht es um eine Frau die Männerkleidung trägt, die dann später als Frau mit einer anderen Frau zusammenlebt und dann sogar polyamore Beziehungen eingeht. Aber nicht nur in der Mythologie, auch in den realen Gesellschaften existierte in der islamischen Welt offenbar eine gewisse Offenheit für Queerness.

«Es gab in islamischen Ländern im 13 Jahrhundert tatsächlich so etwas wie Sex-Ratgeber. In einem Buch mit dem schönen Titel ,Herzenslust oder: Was man in keinem Buch findet' werden diverse Sexualitäten beschrieben, unter anderem auch lesbische Aktivitäten», sagt Heicker. «Es gab wohl in gewissen Gesellschaftsschichten einen lockeren Umgang mit allen Spielarten der Sexualität, die dann nicht homophob abgewertet wurden.»

In der «Weltgeschichte der Queerness» geht es aber nicht nur um positive, befreiende Entwicklungen. Plastisch beschreibt Heicker auch die Rückschritte. Wenn etwa Kaiser Justitian im römischen Reich mit dem Aufkommen des Christentums drastische Strafen gegen queeres Leben erlässt oder später Kaiser Karl V. im 16. Jahrhundert ebenfalls das Strafrecht verschärft. Die Zeiten von Nationalsozialismus und Aids-Epidemie fehlt natürlich ebenfalls nicht.

«Wenn man über queere Sexualitäten oder Geschlechtsidentitäten schreibt, erhält man auch eine Geschichte der Skandale, der unnötigen Tode und dergleichen mehr», sagt Heicker. «Es kann einen schon frustrieren, wenn man sieht, dass es über die Jahrhunderte hinweg immer wieder Zeiten gab, in denen Menschen nicht das ausleben konnten, was sie sind».

Im Mittelalter dürfen natürlich nicht die als schwul geltenden Könige Edward II. von England und Philipps der Schöne von Frankreich fehlen. Jenseits dieser bekannten Personen gräbt Heicker aber auch andere Geschichten aus, die den meisten Lesenden unbekannt sein dürften. So auch diejenige über Yde und Olive, zwei Frauen aus einer französischen Heldendichtung, die später ein Paar werden.

«Was ich allerdings überraschend fand, waren diese mittelalterlichen Geschichten von inter*Personen, die ihr durch einen Zufall zu ihrem ‹wahren› Geschlecht fanden», sagt der Autor. «Die entschieden sich für dann für eine Geschlechterrolle, die möglicherweise der bislang gelebten entgegengesetzt war. Die durften in dem neu gewählten Geschlecht unangefochten weiterleben. In das andere Geschlecht zurückkehren durften sie allerdings nicht mehr.»

In der auf das Mittelalter folgenden Neuzeit dürfen dann in Heickers Buch natürlich die grossen Helden nicht fehlen: Caravaggio und Michelangelo. So sehr er ihnen Platz einräumt, versäumt es Heicker aber nicht, auch in dieser Epoche den Blick auf das bisher wenig Bekannte zu richten. So geht es etwa um eine Person, die in der Wundversorgung gearbeitet hat und als trans Mann gelesen werden kann. Der Autor erläutert daneben auch, wie spanische Eroberer in Südamerika gegen queere Indigene vorgegangen sind.

Michelangelo's David (Foto: Wikimedia/Commonists)
(Bild: Foto: Wikimedia/Commonists)

Bei der Arbeit für das Buch ist Heicker auch immer wieder auf Schwierigkeiten gestossen, wenn es darum ging, eine weltweite Perspektive durchzuhalten. So sei es teilweise schwer gewesen, überhaupt einen Überblick über das gesellschaftliche Leben vergangener Jahrhunderte zu bekommen. «Viele der Dokumente, die wir aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit haben, sind Gerichtsakten. Nur deshalb wissen wir etwas darüber. Wir wissen weniger über Leute, die ihr Leben friedlich in irgendeinem Schweizer Bergtal gefristet haben und nie irgendwie aktenkundig geworden sind.»

Dort, wo es allerdings durch Überlieferungen, Tagebücher und Berichte eine gute Quellenlage gab, strotzt Heickers Buch nur so vor Informationen. So berichtet er von den sogenannten Zuni-Männern. Das waren Männer, die in einer von Frauen geleiteten Gesellschaft im heutigen New Mexico im 19. Jahrhundert als Frauen leben wollten. Auch sie gingen schon davon aus, dass ein Geschlecht nicht angeboren sei, sondern eine soziale Konstuktion, schreibt Heicker. Spannend ist auch die Geschichte über ein Frauenpaar in Tasmanien, bei dem sich eine von beiden als Mann ausgab.

We'wha in Washington (Foto: Wikimedia/John Karl Hillers)
(Bild: Foto: Wikimedia/John Karl Hillers)

Grossen Raum in dem Buch nimmt natürlich dann die Phase der Verwissenschaftlichung von Sexualität ein. «Der ungarisch-österreichische Übersetzer und Publizist Karl (Károly) Maria Kertbeny hat 1868 drei neue Begriffe erfunden, nämlich ‹homosexual›, ‹monosexual› und ‹heterosexual›. Das war, wie ich es nenne: die Erfindung der Homosexualität», so Heicker.

«Zur gleichen Zeit ist Karl Heinrich Ulrichs an die Öffentlichkeit gegangen und hat gesagt: Ich empfinde gleichgeschlechtlich und das muss entkriminalisiert werden. Das ist keine sündhafte Verirrung, sondern eine Veranlagung. Kertbeny und Ulrichs kannten sich. Beide versuchten, das gesellschaftliche Verpöntsein von gleichgeschlechtlich Liebenden, aber eben auch das Unter-Strafe-Stehen gleichgeschlechtlicher Liebe abzuschaffen.» Nebenbei erfahren die Lesenden dann auch, dass das Wort «queer» bereits in den 1830er Jahren vom österreichisch-amerikanischen Schriftsteller Charles Sealsfield benutzt wurde.

Ende des 19. Jahrhunderts explodierte dann gleichsam die Entwicklung was Kämpfe, Debatten und Sichtbarmachung von sexuellen Identitäten und Orientierungen angeht. Dazu gehört neben dem Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld in Berlin (MANNSCHAFT berichtete) natürlich auch die Geschichte von Lili Elbe, über die Heicker ebenfalls ausführlich berichtet. Lili Elbe war eine der ersten Personen, die sich 1931 einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hatte.

Lili Elbe (Foto: Wikimedia/unbekannt)
(Bild: Wikimedia/unbekannt)

Das Buch endet in unseren Tagen, im «post-queeren Zeitalter» wie Heicker sagt. Und er blickt dabei durchaus speptisch in die Zukunft. «Es gibt jetzt eine Gegenbewegung zu dieser grossen Offenheit und Ausdifferenzierung in sexuellen Dingen, beziehungsweise auch in Gender-Belangen», erklärt der Autor. Aber auch hier macht ihm ein Blick in die Vergangenheit Hoffnung: «Magnus Hirschfeld hat schon in den 1910er Jahren gesagt, dass es Millionen von unterschiedlichen Zwischenstufen gibt mit verschiedengradigen männlichen und weiblichen Anteilen.»

Vielleicht ist gerade in einer Zeit, in der einerseits Fortschritte als selbstverständlich gelten, und andererseits andernorts der Rückschritt auf dem Vormarsch ist, solch ein Fundus an geschichtlichem Überblick hilfreich. Er sagt: Seht her, was schon einmal möglich war, wie mutig einzelne Personen schon einmal gewesen sind.

Die neue Serie ist viel mehr als eine Coming-out-Komödie: «Overcompensating» – Deftige Sex-Scherze und rührende Niedlichkeit (MANNSCHAFT berichtete)

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