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«Schwulsein ist nicht abendfüllend» – oder doch?

Ist Homosexualität wirklich nur gleichgeschlechtliches Begehren, fragt unser Kommentator

LGBTIQ News
Symbolbild: iStockphoto

Nie waren die Zeiten für homosexuelle Frauen und Männer so frei – zumindest in den westlich-industrialisierten Ländern, schreibt unser Autor in seinem Kommentar* und fragt: Ist Schwulsein heute nur noch eine Trivialität?

Früher hiess es, «Schwulsein ist nicht abendfüllend». Gemeint mit dieser Bemerkung, dass es aufs Coming-out, auf CSDs, auf das Dies und Das öffentlich-homosexuellen Lebens nicht ankomme. Insofern liegt richtig, wer denkt, dass damit alles diskreditiert werden sollten, die auf eben dies Wert legen: Schwulsein – und das offen.

Einschliesslich der Idee, dass schwule Männer – und gerne kann man dies alles auf lesbische Frauen übertragen – zwar sich biologisch-genetisch nicht von anderen Männern unterscheiden, aber doch als solche eine eigene Kultur hervorgebracht haben, eigene Arten der Kommunikation und des Miteinander, und das nicht nur im Positiven: Zickenkrieg ist ja nichts Unbekanntes unter uns. Schwulsein sei nicht abendfüllend, um diese Wendung zu wiederholen, war eine sprachliche Wendung, die sagte: Ich unterscheide mich von anderen Männern nur in puncto Begehren, nicht in sonstiger Hinsicht.

Und ich würde sagen, wortwörtlich verstanden: Stimmt, das eigene Begehren durchzieht einen zwar in jeder Sekunde wie nichts im Gemüt wie im Körper, was nicht mit Dauererotisierung verwechselt werden darf. Aber abendfüllend ist das schon auch, wenngleich sich schwule Männer, abgesehen vom Begehren, sich in so gut wie nichts von anderen grundsätzlich unterscheiden. Die einen mögen mehr Mode und Schmuck, die anderen Kernigeres, das eigene Bike pflegen und ins Fussballstadion gehen. Oder was auch immer, Langweiliges, Aufregendes oder Banales. Schwulsein ist eben nur ein gleichgeschlechtliches Begehren …


Stopp! Hier muss ich mir selbst Einhalt verordnen. Was ich schildere, entstammt ja einer Zeit, die 30 bis 40 Jahre zurück liegt. Manche sagen das immer noch – aber trifft es noch zu: Schwulsein ist doch nur eine Trivialität, so wie bei anderen Menschen die heterosexuelle Veranlagung? Ist es nicht immer noch so wie einst, dass einen der eigene Umstand, schwul (oder lesbisch, bisexuell oder trans), es nicht mehr verleugnen zu wollen, vor allem nicht vor einem selbst, so irre macht, weil man von aller Welt eben mit diesem einen Persönlichkeitsmerkmal identifiziert wurde – und mit nichts anderem?

Ich würde sagen: Heute hat der Spruch eine gewisse Berechtigung gewonnen. Nie waren die Zeiten für homosexuelle Frauen und Männer so frei – zumindest in den westlich-industrialisierten Ländern, in denen wir Rechtsgleichheit (fast) in jeder Hinsicht uns erkämpft haben. Klar, in bestimmten Ecken oder Vierteln will man lieber offen ‚so‘ sein, aber meist ist man nur der besonderen Beachtung wert, weil man eben Teil einer Minderheit ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Dass Schwules oder Lesbisches in den meisten Ländern der Welt eben nicht so weitgehend souverän artikuliert werden kann, ist natürlich eine Tragödie. Für all unsere queeren Geschwister, etwa in den meisten afrikanischen oder asiatischen Ländern, auch in grossen Teilen Osteuropas. In Ungarn zum Beispiel kämpft ein rechtspopulistischer und autokratischer Ministerpräsident wie Viktor Orbán um die Parlamentsmehrheit (MANNSCHAFT berichtete), kriegt vom höchsten EU-Gericht wegen korruptiver Verwendung von EU-Geldern tüchtig eins auf die Mütze – und behauptet nun, die EU sei eine LGBTIQ-Lobby, darum gehe in Wahrheit der Konflikt (MANNSCHAFT berichtete). Geht er nicht: Wir lernen, dass hierzulande, in Mitteleuropa, das böse Stigma des schwule Abendfülle abstreitenden Homosexuellen sehr verblasst (ist).


Und wir können zur Kenntnis nehmen, dass es niemanden unter unseren queeren Geschwistern in Ungarn und anderswo hilft, behaupten wir, so jedenfalls einige Aktivist*innen, auch bei uns herrschten noch weitflächig und dominant Homophobie. Tut es nicht. Es gibt nach wie vor antischwule (und antilesbische) Sprüche, Hässlichkeiten gegen unsereins nicht nur selten. Aber das meiste der Arbeit ist geschafft. Und es bleibt: Schwulsein ist in einer Person nur ein – wenngleich extrem wichtiger – Aspekt unserer Persönlichkeit.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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