Auf der Flucht vor der eigenen Familie – weil er schwul ist

Mohammeds Familie steckte ihn zwei Jahre lang in eine Klinik

Fast zwei Jahre
lang darf Mohammed die Klinik in Kuwait nicht verlassen. (Bild: nne Puhlmann)
Fast zwei Jahre lang darf Mohammed die Klinik in Kuwait nicht verlassen. (Bild: nne Puhlmann)

Mohammed Budeir aus Kuwait musste Tabletten schlucken und wurde von seiner Familie in eine Klinik gesteckt – nur weil er schwul ist. Nun hofft er auf einen Neuanfang in Deutschland.

Leyla* hat Angst um ihren Sohn. Sie weiss schon lange, dass Mohammed anders ist, anders als seine elf Geschwister. Aber jetzt kann sie es nicht länger verdrängen. Jetzt sitzt er vor ihr im Wohnzimmer, ihr 14-jähriger Sohn und sagt zu ihr: «Mama, ich bin schwul.» Leyla beginnt zu weinen. Auch zwei Stunden später weint sie noch. «Du musst das geheim halten», sagt sie. «Vielleicht können wir es in Ordnung bringen.»

Dass er Leyla von seiner sexuellen Orientierung erzählt, ist für Mohammed ein grosser Schritt. Er weiss es schon lange, will sich jetzt endlich nicht mehr verstellen müssen. Endlich die Wahrheit sagen. Leyla sagt: «Sie werden dich wie einen Kriminellen behandeln.»

Die Familie lebt in Al Jahra, einer Stadt in Kuwait, nicht weit von der Hauptstadt Kuwait City. Im arabischen Land sind homosexuelle Handlungen verboten. Wer erwischt wird, kommt für lange Zeit ins Gefängnis. LGBTIQ sind dort Aussätzige, die nur versteckt ihre Sexualität ausleben können. «Meine Mutter ist für mich mein Leben», sagt Mohammed. «Für sie habe ich gekämpft. Sie hat mich nie ganz verstanden, aber sie ist immer noch die eine aus meiner Familie, die mich am meisten unterstützt hat. Ich hatte immer eine enge Beziehung zu ihr. Wir sind wie Freunde und noch viel mehr.» Ähnlich über seine Familie spricht übrigens auch Adnan aus Syrien im Interview mit MANNSCHAFT.

Die wirklichen Probleme fangen an, als Mohammed sein Geheimnis einige Tage später seinem Vater anvertraut. Der reagiert wütend, er schlägt ihn und sperrt ihn ein – für die nächsten vier Jahre darf Mohammed nur zu Hause und in der Schule sein. «Er war immer ein Vater gewesen. Aber von diesem Tag an wurde er zum Monster, er wurde zu jemand anderem.»

Wenn die sozialen Medien zum Verhängnis werden Sara* hatte nie ein enges Verhältnis zu ihrem Bruder Mohammed. Sie ist das viertälteste Kind, er das zehnte. Als Mohammed 18 Jahre alt ist, zieht er von Kuwait nach Marburg, um dort Medizin zu studieren. Für Sara ist er ein ganz normaler Student. Einer, der ehrgeizig seine Ziele verfolgt. Sie ahnt nicht, wie sehr die Zeit in Deutschland ihn prägen wird. Jahrelang hat Mohammed gedacht, er sei krank, unnormal, der einzige Mann, der Männer liebt. Eingeredet hat ihm das vor allem sein Vater, aber auch seine Mutter. Sie sind die einzigen beiden Menschen, die damals schon von seiner sexuellen Orientierung wissen. In Deutschland findet Mohammed plötzlich Menschen, die wie er sind. Er spürt, dass er nicht der einzige Mann auf der Welt ist, der Männer liebt. Mohammed fängt an über Apps andere Männer kennenzulernen. Er hat immer noch Angst vor seiner Familie, aber endlich lernt er sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren.

Doch es unterläuft ihm ein Fehler. Ein Freund aus Griechenland, den er in Marburg über eine App kennengelernt hat, postet auf Facebook etwas über das Leben von LGBTIQ-Menschen. Und taggt Mohammed. Der Post erscheint auf Mohammeds Chronik, sichtbar für all seine Freunde. Also auch für seine Schwester Sara. Sie sieht den Post und erzählt ihrem Vater davon.

«Sara hat ihren Doktor in Englischer Literatur gemacht. Sie ist eine sehr strikte Person und das vermittelt sie auch ihren Studenten. Dass man sich immer an die Regeln halten muss», sagt Mohammed. «Ich bin nicht wütend auf sie, dass sie meinem Vater von dem Post erzählt hat. Sie wusste damals nicht, dass ich schwul bin. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann hätte ich es ihr gerne selbst erzählt. Dann hätte ich all meinen Schwestern viel früher von meiner sexuellen Orientierung erzählt, sie hätten meine Situation verstanden.»

Spende für das Ignorieren von LGBTIQ-Rechten

 

Der Vater ist wütend. Was für ein Skandal, den Mohammed da über seine Familie, seinen Namen bringen könnte. In aller Öffentlichkeit. Mohammed soll sofort nach Hause kommen. Sein Aufenthaltsstatus müsse geprüft werden, sagt der Vater zu ihm. Mohammed ist misstrauisch, hat er dies doch vor kurzem selbst getan. Doch sein Vater duldet keine Widerrede und bucht seinem Sohn ein Flugticket nach Kuwait.

Zwei Jahre in der Klinik Nach einigen Stunden Flug und einem Zwischenstopp in Dubai landet Mohammed in Kuwait. Es ist 23 Uhr und keiner da, um ihn abzuholen. Nach einer halben Stunde taucht Ali* auf, Mohammeds Vater. Mohammed erinnert sich noch genau, dass er einen schwarzen Anzug trug, wie so oft. Ali begüsst ihn nicht, Mohammed soll mit zum Auto kommen. Als Erstes fragt er Mohammed nach seinem Reisepass, er steckt ihn in die Tasche seines Jacketts und fährt los.

Als sie zuhause ankommen, weiss Mohammed schlagartig was los ist. Sein Vater und sein ältester Bruder misshandeln ihn, immer und immer wieder greifen sie ihn an. Dann sperren sie ihn in sein Zimmer. «Alles war zerstört. Mein ganzes Leben. Ich war so verzweifelt», sagt Mohammed. Er versucht sich im Badezimmer mit Reinigungsmittel das Leben zu nehmen. Seine Familie findet ihn, sie rufen den Rettungswagen. Mohammed wird ins Krankenhaus gebracht.

Nach vier Tagen geht es ihm besser, aber er darf nicht wieder nach Hause gehen. Seine Familie weist ihn in eine psychiatrische Klinik ein. Sie haben der Polizei von seiner «Krankheit» erzählt, davon, dass er schwul ist. Sein Vater, seine Mutter und sein ältester Bruder unterschreiben die Einweisung. Sie wollen den Namen der Familie schützen. Fast zwei Jahre muss Mohammed in der Klinik bleiben. Dort geben sie ihm Tabletten, sie wollen ihn mit Gesprächen von seiner «Krankheit» heilen. Besuch bekommt er nur von seiner Mutter Leyla. Sie will ihn dort rausholen, doch sein Vater lässt das nicht zu.

Liebt seine Familie immer noch: Mohammed. (Bild: Fast zwei Jahre lang darf Mohammed die Klinik in Kuwait nicht verlassen. (Bild: Anne Puhlmann)
Liebt seine Familie immer noch: Mohammed. (Bild: Fast zwei Jahre lang darf Mohammed die Klinik in Kuwait nicht verlassen. (Bild: Anne Puhlmann)

Nach knapp zwei Jahren verlässt Mohammed die Klinik. Er hat den Mitarbeiter*innen dort versichert, dass er nun «geheilt» sei, er sei jetzt heterosexuell. Sein Vater ist schwach, hat Krebs und lässt zu, dass Mohammed die psychiatrische Klinik verlässt. Als er wieder in Freiheit ist, ruft sein Vater ihn zu sich. Ali ist schwer krank, er wird bald sterben. Nur Leyla ist noch mit im Raum, als ihr Mann mit Mohammed redet.

«Er hat mich darum gebeten, ihm zu verzeihen. Ihm zu verzeihen, was er mir angetan hat all die Jahre», sagt Mohammed. «Er sagte, er hat versucht ein guter Vater für mich zu sein, aber er war es nicht. Ich konnte kaum etwas sagen. Ich habe geweint. Ich habe nur zu ihm gesagt, dass ich nicht weiss, ob ich ihm vergeben kann. Dann bin ich gegangen.»

Die Ehe soll es richten Als der Vater stirbt, ist es Tareks* Aufgabe die Familie zusammenzuhalten. Er ist der Älteste der zwölf Geschwister. Tarek beobachtet Mohammed genau, er lässt ihn nicht aus den Augen. Doch Mohammed verhält sich unauffällig. Er studiert BWL in Kuwait und fängt parallel an zu arbeiten. Bald zieht er in ein eigenes Apartment. Was Tarek nicht weiss: Mohammed lebt seine Homosexualität weiter aus. Durch eine App lernt er seinen ersten Freund kennen, einen Syrer, der in den Niederlanden wohnt. Sie verabreden sich oft und reisen über das Wochenende mehrmals nach Spanien.

Tarek misstraut Mohammed auch weiterhin. Er droht ihm: «Wenn du nicht heiratest und dieses ganze Problem löst, dann schicken wir dich zurück in die Klinik.» Mohammed hat Angst, aber er weiss nicht, wie er der Situation entkommen kann. Bis sie dann eskaliert.

Tarek und Leyla haben eine Hochzeit für Mohammed arrangiert. Er soll seine Cousine heiraten. Doch das ist ganz und gar nicht das, was Mohammed will.

Er beichtet seiner Cousine, dass er schwul ist und sie nicht heiraten kann. «Ich wollte nicht einer dieser Männer sein, die schwul sind und trotzdem eine Frau heiraten», sagt Mohammed. «Meine Cousine sollte einen anderen Mann heiraten, damit sie glücklich wird.» Er will nicht sein ganzes Leben lang so tun, als wäre er hetero.

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Tarek kann das nicht akzeptieren. Er fürchtet einen Skandal und ruft die Polizei. Er erzählt den Beamten, dass Mohammed krank sei und wieder zurück in die Klinik müsse. Doch es kommt anders.

«Tarek ist sehr clever und hat sich sein Leben selbst aufgebaut. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, dann tut er es auch», sagt Mohammed. «Aber er ist auch sehr zornig. Mein Vater und er hatten ein schlechtes Verhältnis, sie haben immer nur gestritten.»

Die Polizisten verhaften Mohammed. Sie durchsuchen seine Wohnung und sein Smartphone – und finden Fotos von Mohammed und seinem Freund. Sie finden die Apps, mit denen Mohammed andere homosexuelle Männer kennenlernt und lesen seine Beiträge in sozialen Netzwerken. (Der lesbischen Kehinde aus Nigeria wollte die Familie ihre Homosexualität mit Gewalt austreiben – MANNSCHAFT+).

Auch wenn sie mich verletzt haben, sie sind immer noch meine Familie.

Kein Hass für die Familie Mohammed weiss, dass seine einzige Option jetzt noch die Flucht ist, wenn er nicht eine lange Haftstrafe absitzen will. Er ruft einen guten Freund an, den er aus dem Fitnessstudio kennt und bei der Regierung arbeitet. Mohammed zahlt ihm viel Geld, damit er seine Kontakte spielen lässt. Der Freund hilft ihm aus dem Gefängnis zu fliehen, Mohammed wohnt für zwei Wochen bei ihm. Bis er schliesslich, in einer Nacht im Sommer 2018, in ein Flugzeug nach Malaga steigt. Von dort aus fliegt er weiter nach München. Mohammed möchte endlich in Freiheit leben, sich nicht mehr verstecken müssen.

Inzwischen wohnt er in Augsburg, möchte seinen Master in BWL so schnell wie möglich beginnen. Für die nächsten drei Jahre ist er in Deutschland geduldet. Aus seiner Familie hat er nur noch mit seiner Mutter Leyla Kontakt. Ab und zu telefonieren sie. Leyla freut sich für ihren Sohn und ist stolz darauf, dass er seinen Weg geht.

«Ich hasse meine Familie nicht. Auch wenn sie mich verletzt haben, sie sind immer noch meine Familie. Es gibt bestimmte Umstände in Kuwait, wie Religion, Kultur und Gesetze. Deshalb handeln sie so, wie sie es tun. Sie wissen es einfach nicht besser. Aber diese Sicht auf Homosexualität muss sich ändern. Ich will etwas dazu beitragen, dass sich etwas wandelt.»

Text: Antonia Franz

*Die Namen von Mohammeds Familienmitgliedern wurden auf seinen Wunsch hin geändert. Die Geschichte basiert allein auf Mohammeds Erinnerungen und Erzählungen, mit seiner Familie konnte für diesen Artikel nicht gesprochen werden.

Mehr Geschichten Das Magazin «Rainbow Refugees (Stories)», das vom Fotografen Francesco Giordano in München initiiert wurde, erzählt die Geschichten von 27 LGBTIQ-Geflüchteten, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität in ihren Heimatländern verfolgt werden. Es kann online bestellt werden.

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