Ghosting: Wenn sich Dates in Luft auflösen

Eine Begleiterscheinung des Datings im digitalen Zeitalter? Nicht unbedingt, findet der Experte.

Symbolbild: Jeff Tumale / Unsplash
Symbolbild: Jeff Tumale / Unsplash

Ist Ghosting ein Phänomen der Neuzeit oder eine altbewährte Exitstrategie? Wenn Männer bei Desinteresse am Gegenüber auf aktives Ignorieren setzen.

Von einem Moment zum nächsten bleiben Anrufe unbeantwortet und Nachrichten verlaufen ins Leere. Ghosting (vom englischen Wort «ghost» für «Geist») bezeichnet den abrupten Kontakt- und Kommunikationsabbruch zwischen zwei Personen. Meist wird dieser einseitig herbeigeführt, wobei offene Fragen und Unverständnis beim anderen zurückbleiben. Gerade eben schrieb man noch lebhaft miteinander, traf sich auf ein Date oder verbrachte die Nacht zusammen, und plötzlich herrscht komplette Funkstille. Damit umzugehen, fällt nicht jedem leicht. Über MANNSCHAFT.com fragten wir unsere Leserschaft nach ihren Erfahrungen.

Ohne Vorwarnung «Wir haben uns über Facebook kennen gelernt, tauschten schnell Nummern aus, haben täglich geschrieben und Voicemails verschickt. Dann wollte er, dass ich ihn besuche. Ich buchte mir ein Flugticket. Am nächsten Morgen war ich überall gelöscht und geblockt. Kommentarlos bekam ich das Geld für den Flug und hörte nie wieder etwas von ihm. Das hat mich damals heftig getroffen, weil ich ihn überaus sympathisch fand. Seitdem habe ich arge Probleme, Menschen beim Onlinedating zu vertrauen», schreibt ein MANNSCHAFT-Leser.

Das Perfide am Ghosting ist, dass es in den meisten Fällen völlig unerwartet geschieht. Quasi aus heiterem Himmel heraus. Wie ein schnell aufziehendes Sommergewitter, das einen beim Spazierengehen überrascht. Binnen wenigen Augenblicken wird aus der eben noch präsenten Person, die einem ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern vermochte, ein formloser Geist. Und während sich Gefühle wie Wut, Trauer oder Verzweiflung breitmachen, taucht das Gegenüber schlichtweg ab.

Leser #1: «Ich habe sehr lange mit einem lieben und gut aussehenden Typen geschrieben und mich zum Date verabredet. Pünktlich zur abgemachten Uhrzeit blockiert er mich und meldet sich nie wieder.»

Ein anderer Leser kommentiert: «Ich habe jemanden getroffen. Er war sehr nett. Gegen Ende des Dates haben wir uns geküsst. Insgesamt verbrachten wir sechs Stunden miteinander. Danach schrieben wir und wollten uns erneut treffen. Ausgemachte Termine wurden aber mehrfach verschoben und er reagierte nur zögerlich auf meine Nachrichten. Irgendwann hat er sich dann gar nicht mehr gemeldet oder geantwortet.»

180 Personen haben an unserer Ghosting-Umfrageim April 2020 auf MANNSCHAFT.com teilgenommen. (Mehrfachantworten waren möglich)
180 Personen haben an unserer Ghosting-Umfrageim April 2020 auf MANNSCHAFT.com teilgenommen. (Mehrfachantworten waren möglich)

Ein Volksphänomen Dass Ghosting keine Randerscheinung im Leben schwuler Männer darstellt, zeigt eine von uns initiierte Umfrage, an der rund 200 Personen teilnahmen. Ganze 80 % berichten von Ghosting-Erfahrungen. Vor allem nach längerem Schreiben über Apps oder Messengerdienste. Aber auch regelmässige Treffen schützen nicht zwangsläufig vor einem plötzlichen Kontaktabbruch. Rund 35 % aller Befragten geben an, nach mehreren Dates von einem Tag auf den anderen keine Rückmeldung mehr erhalten zu haben. Erstaunliche Zahlen, die am Empathievermögen der breiten Masse zweifeln lassen. Nur zeigt sich umgekehrt ein ähnliches Muster. Denn auch Personen, die wissen, wie es sich anfühlt, geblockt oder ignoriert zu werden, tun dies. Immerhin die Hälfte gibt an, in der Vergangenheit selbst geghostet zu haben, vorrangig auf Onlineplattformen. Beleidigungen oder der Fakt, nicht jeden Kontaktversuch beantworten zu wollen, werden dabei als Legitimationen herangezogen. Doch wo liegen die Gründe dafür, dass Ghosting für viele von uns zu einem probaten Mittel geworden ist, wortlos unser Desinteresse zu bekunden? Wir haben den psychologischen Psychotherapeuten Dr. Christian Rupp gefragt.

Ablehnung oder Selbstschutz? «Einerseits möchte der Ghostende offenbar nichts mehr mit der anderen Person zu tun haben. Zum Beispiel, weil er bemerkt hat, dass er sie eigentlich nicht mag. Oder er findet sie nicht mehr interessant genug. Für welchen Zweck auch immer», erklärt Rupp. «Andererseits wird versucht, zu vermeiden, die eigene Antipathie ehrlich mitteilen zu müssen.» Die Sorge, jemanden zu verletzen, oder die Angst, als Reaktion selbst verletzt zu werden, seien laut Rupp mögliche darunterliegende Motive. «Aus der Perspektive der ghostenden Person könnte man das durchaus als effiziente Gefühlsvermeidungsstrategie bezeichnen», ergänzt er.

Dr. Christian Rupp betreibt eine eigene Psychotherapie-Praxisin Schleswig-Holstein und promovierte zum Thema «Effekte kognitiver und metakognitiver Interventionen bei Zwangsstörungen». (Bild: zvg)
Dr. Christian Rupp betreibt eine eigene Psychotherapie-Praxisin Schleswig-Holstein und promovierte zum Thema «Effekte kognitiver und metakognitiver Interventionen bei Zwangsstörungen». (Bild: zvg)

Tatsächlich kennen wir dieses Verhalten auch aus anderen Lebensbereichen. Statt hinter unseren Meinungen zu stehen, sie mit Argumenten zu vertreten und uns damit angreifbar zu machen, kann es passieren, dass wir lieber den Kopf in den Sand stecken und warten, bis sich der aufkommende Sturm wieder gelegt hat. Ganz unserer Biologie und dem aus der Evolutionspsychologie bekannten «Flight or Fight»-Mechanismus folgend wägt unser Gehirn dabei ab, an welcher Stelle sich eine Auseinandersetzung lohnt und an welcher nicht. Ist uns ein Flirt, ein Date oder ein Mensch, mit dem wir eine gewisse Zeit verbracht haben, nicht wichtig genug, kann das Ergebnis entsprechend negativ ausfallen. Ähnliches gilt, wenn wir generell Schwierigkeiten haben, unsere Empfindungen zu äussern oder uns auf jemanden einzulassen.

Leser #2: «Nach drei tollen Dates wurde ich mehrfach geghostet. Dazwischen erklärte er mir immer wieder, dass es ihm nicht gut gehe. Nur, um mich beim nächsten Date wieder zu versetzen.»

Nichts Neues Bildet die Erscheinung des Ghostings nun aber eine nicht aufzuhaltende Entwicklung innerhalb unserer Gesellschaft ab? Verkommen wir etwa allesamt zu selbstsüchtigen Egoisten, denen die Gefühle anderer egal sind? «Ich wäre vorsichtig, mich so weit aus dem Fenster zu lehnen, weil es ein altes Phänomen ist. Diese konfrontationsvermeidende Art, Beziehungen zu beenden, hat es schon früher gegeben», antwortet Rupp. «Man muss allerdings einwenden, dass durch die sozialen Medien eine andere Qualität zu beobachten ist.»

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Laut des Psychotherapeuten liegt das in erster Linie daran, dass zwischenmenschliche Interaktionen durch die Nutzung digitaler Kommunikationswege anonymer, oberflächlicher und schnelllebiger geworden sind. «Besonders gefährlich finde ich in diesem Kontext, dass durch die vermeintliche Überauswahl an potenziellen Partner*innen der Sinn für den Wert jedes einzelnen Menschen verloren geht und sich der omnipräsente Gedanke manifestiert, man könne noch etwas Besseres finden und solle bloss keine Verbindlichkeiten eingehen. Warum sich also die Mühe machen, jemandem zu sagen, dass und warum man sich gegen ihn oder sie entschieden hat?»

Mein Ex hat mir gegenüber eine komplett andere Identität erfunden.

Wie würde ich selbst behandelt werden wollen? Niemand ist gezwungen, sich dafür zu rechtfertigen, warum er oder sie den Kontakt zu einer Person abbricht. Doch lebt es sich unbeschwerter, wenn man das eigene Verhalten ab und zu hinterfragt, anstatt sich naiven Illusionen hinzugeben. Etwas nicht zu kommunizieren, bedeutet nämlich nicht automatisch, den anderen zu schonen. Im Gegenteil. Eine klare Positionierung kann für das Gegenüber notwendig sein, um abschliessen und Hoffnungen ziehen zu lassen, die nie erfüllt worden wären. «Man sollte sich bewusst machen, wie sehr man die andere Person verletzt und was man von sich selbst für ein Bild zeichnet, wenn man ghostet. Dann sollte man vielleicht den Mut aufbringen, ihr so viel Respekt entgegenzubringen, dass man ihr eine ehrliche Rückmeldung gibt», sagt Rupp.

180 Personen haben an unserer Ghosting-Umfrage im April 2020 auf MANNSCHAFT.com teilgenommen.
180 Personen haben an unserer Ghosting-Umfrage im April 2020 auf MANNSCHAFT.com teilgenommen.

Wem das schwerfällt, dem hilft möglicherweise ein Gedankenexperiment, ein Perspektivenwechsel: Wenn ich selbst in der Rolle der Person wäre, deren Kontaktversuche plötzlich keinerlei Rückmeldung mehr erfahren, wie würde ich mich fühlen? Was würde ich mir wünschen, damit es mir besser geht? Natürlich spielt es eine Rolle, wie sehr man in eine Verbindung involviert war und ob es sich um einen flüchtigen Chat oder eine länger währende Kommunikation gehandelt hat. Doch sind Menschen unterschiedlich, was ihre Empfindlichkeit und den Umgang mit Ablehnung betrifft.

Leser #4: «Mit einem Mann, den ich mehrmals getroffen hatte, plante ich eine Reise. Auf einmal brach er den Kontakt ab. Im Nachhinein erfuhr ich, dass er alleine gefahren ist.»

Von tiefer Trauer bis zu Gefühlen der Belanglosigkeit Ablehnung kann psychisch und physisch krank machen. Das belegt auch eine gross angelegte Studie von Martelli und Kollegen aus dem Jahre 2018. Der mit der Ablehnung einhergehende emotionale Stress ziehe nicht selten Depressionen, sozialen Rückzug, Angstzustände oder ungünstige Kompensationsstrategien wie Suchtverhalten nach sich.

«Während Menschen mit einem gefestigten Selbstwertgefühl und einer grundlegenden Selbstsicherheit wenige bis keine Auswirkungen spüren, kann Ghosting für die, die darüber eben nicht verfügen, durchaus drastische negative Effekte haben», warnt Rupp. Besonders gefährdet seien Jugendliche, junge Erwachsene und diejenigen Mitglieder der LGBTIQ-Community, die aufgrund ihres Andersseins in der Vergangenheit Diskriminierungen erfahren haben. «Diese Menschen sehen die Tatsache, abgelehnt worden zu sein, schnell als Beleg dafür, dass sie nicht gut genug oder liebenswert sind. Wobei ich betonen möchte, dass die reine Erfahrung des Ghostings nicht die alleinige Ursache, sondern eher der letzte Tropfen in einer langen Kette aus Ablehnungserfahrungen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Als problematisch ist es dennoch einzustufen.»

Nun aber direkt loszustürmen und jedem ungefiltert die eigene Meinung ins Gesicht zu sagen, sei auch keine wirkliche Lösung, erklärt Rupp: «Es hängt wohl davon ab, wie ich meine Worte formuliere. ‹Sorry, du bist nicht mein Typ› ist sicher leichter zu verdauen als ‹Ich steh nicht auf Tunten› oder ‹Du bist viel zu fett›.»

Leser #5: «Ein guter Freund blockierte mich aus dem Nichts.»

Mal anders gedacht Der überwiegende Teil der Befragten (48 %) gibt an, dass ihn zurückliegende Ghosting-Erfahrungen zwar beschäftigt hätten, dass dies aber nach einiger Zeit auch wieder nachgelassen habe. Wirklich egal ist das Erlebte nur rund 13 % gewesen. Andauernden Frust und Trauer verspürten hingegen rund 39 %.

«Ich würde dazu raten, die Bewertung des Erlebten in eine bestimmte Richtung zu lenken», sagt Rupp. «Statt das Ghosting als Beweis dafür heranzuziehen, dass man selbst nicht okay ist, kann man es auch als Selbstoffenbarung der anderen Person verstehen. Immerhin sagt es etwas über jemanden aus, wenn er oder sie die ehrliche Konfrontation scheut. Wahrscheinlich steckt dahinter eine grosse Unsicherheit oder eine ausgeprägte Oberflächlichkeit.» Sich zu fragen, ob man eine solche Person in seinem Leben haben wolle, sei hilfreich. «Schon hat man den Spiess umgedreht. Frei nach dem Motto: Wer mich ghostet, den darf ich getrost aussortieren», bestärkt Rupp.

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Wenn das allein aber nicht zu einer emotionalen Besserung führt, ist es wichtig, auf Hilfe zurückzugreifen. Das kann in Form von Gesprächen mit Freunden geschehen oder in einer Therapie, wo einem ein offenes Ohr geschenkt wird.

Leser #6: «Jemand, mit dem ich über Monate geschrieben hatte, erzählte mir, er sterbe an Krebs, um aus der Sache wieder rauszukommen.»

Keine Angst vor Gespenstern Ungeachtet dessen, ob es im Vorhinein Warnzeichen gab oder nicht, es bleibt die Erkenntnis, dass Ghosting fast jede*n treffen kann. Aber auch, dass es oft wehtut, diese Erfahrung zu machen. Wirklich schützen kann man sich nämlich nicht. Es sei denn, eine Person kontaktiert einen nach längerem Kommunikationsabbruch erneut. Dann gilt es, gründlich zu prüfen, ob man sich – fern jedweder Euphorie – noch einmal auf sie einlassen möchte oder lieber vorzeitig die Reissleine zieht. Die eigenen Gefühle im Blick zu behalten, sich aber auch zu vergegenwärtigen, wie das Gegenüber sich aufgrund meiner Handlungen fühlen könnte, bildet eine solide Grundlage für den respektvollen Umgang miteinander. Bereiten wir dem Spuk also ein Ende und lassen all die Geister weiterziehen.

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