Zehntausende demonstrieren gegen Rechts: «Wähl Liebe»
Die besten Bilder aus Hamburg und Berlin
Kurz vor der Bundestagswahl demonstrieren Queers und Allys deutschlandweit für Vielfalt und gegen den Rechtsruck. Unter dem Motto «Wähl Liebe» nahmen Zehntausende Menschen teil.
Aus Berlin und Hamburg berichten Saskia Balser und Stephan Bischoff
Auf dem Potsdamer Platz knirscht der Schnee unter den Füssen. Doch das ist kaum zu hören, denn der Bass dröhnt und Tausende Menschen singen lautstark: «I’m on the right track, baby I was born this way!» Der Lady-Gaga-Song gehört zum CSD genauso wie bunte Outfits und viel nackte Haut – eigentlich. Denn heute sieht man stattdessen Winterjacken, Mützen und Schals. Statt Bier halten die Menschen wärmende Getränke wie Tee und Kaffee in den Händen. Doch das tut der Stimmung beim Winter-CSD keinen Abbruch.
Trotz frostiger Temperaturen versammeln sich Tausende von Menschen in der Hauptstadt, um erstmals bei einem CSD im Winter ein Zeichen für Vielfalt, Toleranz und Demokratie zu setzen. Polizeiangaben zufolge sollen es etwa 6'000 Menschen sein, während die Veranstalter*innen von gut 15.000 Teilnehmenden sprechen. Unter dem Motto «Wähl Liebe» ist die Demonstration Teil einer bundesweiten Kampagne, die zur bevorstehenden Bundestagswahl am 23. Februar auf die Rechte der queeren Community aufmerksam macht.
Die Atmosphäre ist ausgelassen und entschlossen. Es werden die üblichen Pop-Hits gespielt und viele Menschen singen und tanzen begeistert. Doch es wird auch deutlich: Der Winter-CSD ist weitaus mehr als eine Party. Hier geht es um etwas.
Der Demonstrationszug startet symbolisch um 11:55 Uhr – «5 vor 12» – in der Scheidemannstrasse am Bundestag. Von dort zieht die Menge über das Brandenburger Tor und den Potsdamer Platz bis in den Nollendorf-Kiez, das historische Zentrum der queeren Community in Berlin. Entlang der Strecke werden Reden gehalten, die auf die aktuellen Herausforderungen und Forderungen der LGBTIQ-Community hinwiesen.
Die Organisator*innen des CSD haben klare politische Forderungen an die nächste Bundesregierung. Sie fordern beispielsweise, dass Queere Rechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Die rechtliche Gleichstellung und der Schutz vor Diskriminierung sollten verfassungsrechtlich verankert werden. Auch die finanzielle Absicherung queerer Projekte wird gefordert, denn Beratungsstrukturen und Unterstützungsangebote benötigen eine stabile Finanzierung. Zudem sollen queere Menschen besser vor Hasskriminalität geschützt werden. Angesichts steigender Anfeindungen forderte die Community wirksame Massnahmen gegen Gewalt und Hetze.
Berlin war nicht die einzige Stadt, die ein klares Statement für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung setzte. In mehr als 50 deutschen Städten fanden am gleichen Tag Demos statt. Es waren nicht nur Demonstrationen für die Rechte der queeren Community, sondern auch Appelle an alle Bürger*innen, sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen.
Der Influencer Robin Solf, der einen Wagen auf dem Winter-CSD in Berlin moderierte, sagt auf Instagram: «Ich habe nie gedacht, dass ich einen Pride im Februar sehen werde, aber es war wichtiger denn je, dass wir jetzt nochmal auf die Strasse gehen, denn am 23. sind Wahlen und wir müssen beweisen, dass wir lauter sind und vor allem auch gegen rechts. Deswegen setzt eure Kreuze weise.» In Zeiten zunehmender Polarisierung und queerfeindlicher Tendenzen ist die Botschaft klar: Demokratie lebt von Vielfalt – und jede Stimme zählt.
Einer Polizeisprecherin zufolge nahmen rund 6'000 Menschen an der Parade teil. CSD-Sprecher Andre Lehmann sprach von gut 15'000 Teilnehmenden.
In rund 45 Städten fanden Demonstrationen und weitere Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen statt. In Köln hätten in der Spitze 10'000 Menschen an der Kundgebung auf dem Neumarkt teilgenommen. In Frankfurt am Main gingen mehr als 15'000 Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Strasse. Die Polizei sprach von einem friedlichen Treffen ohne Zwischenfälle. Es gab zahlreiche Redebeiträge und viel Musik. Auch in anderen hessischen Städten wie Darmstadt mit rund 1'500 Menschen gab es Aktionen.
In Karlsruhe zogen 5.000 Menschen durch die Innenstadt und haben für eine demokratische Wahl, für queere Rechte und gegen Rechtsextremismus demonstriert. Dazu hatten der Verein CSD Karlsruhe zusammen mit Queerkastle und anderen queeren Vereinen aufgerufen.
Die gesellschaftliche und politische Lage sei in einer Weise in Veränderung, in der insbesondere Minderheiten immer weiter unter Druck gerieten und die für viele Menschen konkrete körperliche, psychische und rechtliche Gefahr bedeute, schrieb die CSD-Bewegung in ihrem Aufruf.
Der Ton werde immer feindseliger, rechtsextreme Parteien würden immer stärker. Es sei Zeit, sich dem entgegenzustellen. Auch die Kirchen in Frankfurt und der Deutsche Gewerkschaftsbund beteiligten sich am Aufruf zur Demonstration.
In Hamburg, auf dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn hatte der Verein Hamburg Pride zur Demo aufgerufen und die Hamburger*innen folgten dem Aufruf zahlreich. Rund 4000 Menschen kamen vor der Bühne zusammen um ein deutliches Zeichen für Sichtbarkeit, Selbstbestimmung und für den Erhalt demokratischer Grundrechte zu setzen.
Die beiden Co-Vorsitzenden von Hamburg Pride – Jenny Saitzek und Christoph Karmann hatten in ihrer Begrüssung eindringliche Worte gefunden um die aktuelle gesellschaftspolitische Situation queerer Menschen und den drohenden Roll-Back im Bereich queerer Bürgerrechte zu verdeutlichen. Eine ganze Phalanx an Speaker*innen gab Statements zur aktuellen Situation ab ermunterten zu Selbstermächtigung und Sichtbarkeit.
Es ist Zwölf! Mit diesen eindringlichen Worten machte der Historiker und Autor Gottfried Lorenz deutlich, wie brisant sich die Situation queerer Menschen derzeit in der gesellschaftlichen Diskussion entwickelt. Besonders verwies er auf die Notwendigkeit einer geschlossen, vereint und intern wertschätzend agierenden Community. Eine Aufspaltung und interne Grabenkämpfe seien brandgefährlich. Eine Aufforderung, die sich wie ein roter Faden durch nahezu alle Beiträge zog.
Hochzufrieden mit dem Verlauf der Veranstaltung zeigt sich Manuel Opitz, Vorstand Presse und Öffentlichkeitsarbeit bei Hamburg Pride: «Wir haben die Teilnehmenden der Kundgebung klatschen, lachen und vor Rührung weinen sehen. Unsere Speaker*innen und Musiker*innen haben viele Emotionen bei den Menschen ausgelöst und etwas Besseres können wir uns als Veranstalter nicht vorstellen. Besonders stolz sind wir darauf, dass wir die Wähl-Liebe-Kampagne mit einer grossen inhaltlichen Tiefe darstellen konnten und dass die Beiträge eindringlich klar gemacht haben, dass es bei der Wahl am 23. Februar um etwas geht: nämlich um unsere Rechte und um das gesellschaftliche Klima, in dem wir leben möchten.»
Gefragt nach einem Fazit sagt Manuel Opitz: «Hamburg ist und bleibt bunt: Wir und alle Teilnehmenden der Kundgebung haben ein starkes Zeichen für eine vielfältige Gesellschaft gesetzt. Wir lassen uns unsere Rechte nicht wegnehmen - und wir kämpfen weiter für mehr Schutz von queeren Menschen.»
Auch in kleineren Städten wie Bremerhaven traten Demonstrant*innen für die Rechte queerer Menschen ein. Dort versammelten sich rund 40 bis 50 Menschen, um ein klares Zeichen für eine vielfältige und demokratische Gesellschaft zu setzen. Die Veranstaltung, organisiert vom CSD Bremerhaven, fand vor dem Stolperstein an der Goetheschule statt und war geprägt von eindringlichen Redebeiträgen sowie einem starken gesellschaftspolitischen Appell.
Die Veranstalter*innen betonten die Dringlichkeit ihres Anliegens: «Wir stehen hier, weil wir daran erinnern wollen, was droht. Es gibt bestürzende Parallelen zu 1933. Auch damals haben die Konservativen die junge, neue Partei völlig unterschätzt. Auch damals waren es vor allem junge Männer, die sich selbst feierten. Und die sich in Antifeminismus vereinten.» Sie unterstrichen, dass die Vorstellung einer «homogenen“ Gesellschaft eine Lüge der Rechten sei: «Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt sind sehr, sehr alt. Sie gehören einfach dazu. Unsere Bevölkerung ist bunt. Das hat Tradition.»
In Osnabrück zogen nach offiziellen Angaben zwischen 3'000 und 3'500 Menschen durch die Stadt, in Braunschweig etwa 2'000, in Hannover 800, in Oldenburg 450 und in Wilhelmshaven an die 350. Insgesamt waren deutschlandweit etwa 100'000 Teilnehmende erwartet worden.
Die Anpassung des Geschlechtseintrags ist seit November unkompliziert möglich. In Baden-Württemberg hat ein Häftling im Männergefängnis davon Gebrauch gemacht (MANNSCHAFT berichtete).
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