W. H. Auden und der Wiener Callboy

Sensationsfund: Geheime schwule Liebespost entdeckt

Die wieder entdeckte Briefsammlung des Dichters W. H. Auden.
Die wieder entdeckte Briefsammlung des Dichters W. H. Auden. (Bild: oeaw.ac.at)

Rund 100 Briefe des Dichters W. H. Auden an seinen Liebhaber Hugo sind in Niederösterreich aufgetaucht – ein queerer Schatz, der neue Einblicke in Liebe, Begehren und Tabus der 1960er-Jahre liefert.

Er war einer der berühmtesten schwulen Dichter seiner Zeit – und hatte ein Faible für Wiener Jungs, wie sich jetzt herausstellt. In Niederösterreich sind rund hundert bislang unbekannte Briefe und Postkarten von W. H. Auden (1907–1973) aufgetaucht. Adressiert an «Hugo», einen charmanten Callboy aus Wien, den der britisch-amerikanische Lyriker in den 1960er-Jahren kennenlernte.

Ein Zufallsfund, der nicht nur die Literaturgeschichte aufrüttelt, sondern auch eine schwule Liebesgeschichte erzählt, die sich hinter verschlossenen Türen abspielte – zu einer Zeit, in der Homosexualität in Österreich noch strafbar war.

Alleinerbin des Nachlasses Wie in einem Film begann alles mit einem Fernsehinterview. Helmut Neundlinger, Leiter des Archivs der Zeitgenossen in Krems, sprach im ORF über Auden – und erwähnte beiläufig «Hugo», einen jungen Wiener, dem der Dichter sogar ein Gedicht widmete. Wenig später meldete sich eine Frau beim Sender: Sie war die Alleinerbin von Hugos Nachlass – und im Besitz von rund hundert Liebesbriefen und Karten, die Auden über Jahre geschickt hatte.

Der Rest ist Literaturgeschichte: Die Sammlung liegt heute im Archiv der Zeitgenossen und wird von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ausgewertet.

Der Dichter und der Stricher In den bekannten Auden-Biografien taucht Hugo höchstens als Randnotiz auf. Jetzt bekommt er endlich eine Stimme. «Auden schreibt an Hugo nicht von oben herab, sondern mit echter Zärtlichkeit, mit Witz, manchmal kokett, immer respektvoll», sagt Literaturwissenschaftlerin Sandra Mayer, die die Briefe gemeinsam mit Timo Frühwirth im Projekt «Auden in Austria Digital» erforscht.

Über fast zehn Jahre hinweg tauschten der weltberühmte Dichter und der Wiener Mann aus einfachem Milieu Gedanken, Geständnisse – und jede Menge Andeutungen aus. «Der Ton ist intim und überraschend offen», so Mayer. «Diese Briefe zeigen einen Auden, der sich nicht versteckt, sondern begehrt.»

Liebe unter Paragraf 129 In den 1960er-Jahren stand gleichgeschlechtlicher Sex in Österreich noch unter Strafe (MANNSCHAFT berichtete). Besonders am Land herrschte ein Klima der Angst – und doch wagte Auden, damals längst ein Weltstar, den offenen Austausch mit einem Mann, der alles andere als gesellschaftsfähig war.

Gemeinsam mit Andreas Brunner vom queeren Forschungszentrum QWien wird der Fund auch als kulturhistorisches Dokument gelesen: als seltenes Zeugnis schwulen Lebens in der Nachkriegszeit, zwischen Begehren und Tabu. «Diese Korrespondenz ist pure queere Zeitgeschichte», sagt Brunner. «Sie erzählt vom Mut, sich selbst treu zu bleiben – in einer Welt, die das bestrafen wollte.»

Kirchstetten Confidential Auden, der grosse Meister der modernen Lyrik, zog sich ab den 1950er-Jahren regelmässig in sein Landhaus in Kirchstetten zurück. Dort schrieb er, dort lebte er – und dort empfing er offenbar auch Gäste, die nicht nur über Dichtung sprechen wollten. Zwischen Zigaretten, Cognac und Manuskripten entstand in diesem niederösterreichischen Rückzugsort ein Netzwerk aus Literatur, Leidenschaft und Lust.

Dass der Fund jetzt ans Licht kommt, macht Auden auf neue Weise greifbar – nicht nur als Denker, sondern als Mensch mit Begehren, Widersprüchen und einer Sehnsucht nach Nähe.

Digitale Wiedergeburt eines Dichters Im Rahmen des ÖAW-Projekts «Auden in Austria Digital» werden die Briefe nun wissenschaftlich aufbereitet und online veröffentlicht. Damit wird nicht nur ein neues Kapitel in der Auden-Forschung aufgeschlagen, sondern auch ein Stück queerer Geschichte sichtbar gemacht – roh, ehrlich und so lebendig, dass man fast errötet beim Lesen.

Der Fund ist ein Glücksfall – und eine Erinnerung daran, dass auch Weltliteraten nicht nur mit Worten, sondern mit Herzen (und anderen Körperteilen) schrieben.

Der US-Autor Michael Schreiber veröffentlicht mit «Don Bachardy: An Artist’s Life» eine neue Oral History über den Künstler Don Bachardy – und damit über eine der bedeutendsten queeren Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts (MANNSCHAFT berichtete).

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare