Soll mein Psychotherapeut auch schwul sein?
Unser Kolumnist über «Abstinenzregel» und Abhängigkeitsverhältnis
Muss ein Therapeut ebenfalls schwul sein, um sich in deine Lage versetzen zu können? Unser Kommentar* von Peter Fässlacher, Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über Liebe und Leben von LGBTIQ.
Eine hochspannende Frage! Interessanterweise liegt darin aber ein grosses, hierarchisches Ungleichgewicht. Bevor ich mir nämlich einen schwulen Therapeuten suchen kann, muss ich zuerst einen finden. Und zwar einen offen schwulen Therapeuten! Zunächst einmal muss also der Therapeut bereit sein, von sich aus seine sexuelle Identität preiszugeben – und das ist nicht selbstverständlich.
Grund dafür ist die sogenannte «Abstinenzregel». Sie besagt, dass Therapeut*innen so neutral wie möglich sein sollen und keinen Einblick in ihr persönliches Leben, Denken und Fühlen geben dürfen. Damit soll einerseits garantiert werden, dass es im therapeutischen Prozess ausschliesslich um die Klient*innen geht und andererseits sollen diese so vor einem Abhängigkeitsverhältnis bewahrt werden.
Diese Regel stammt aus der Psychoanalyse und wird – je nach therapeutischer Richtung und Generation – mehr oder weniger streng gehandhabt. Die einen halten sich ausnahmslos an diese Regel, die anderen kommunizieren nach aussen sehr eindeutig, dass ihre Praxis «queer-friendly» ist und signalisieren damit eine gewisse Offenheit. Andere Therapeut*innen wiederum sind offen auf den bekannten Datingplattformen unterwegs. Die Gründe, es den Klient*innen zu sagen oder nicht zu sagen sind letztlich unendlich und werden unter Therapeut*innen auch hitzig diskutiert.
Was mache ich nun, wenn ich wissen möchte, ob mein Therapeut schwul ist? Wenn er es schon nicht sagt, kann ich ihn natürlich einfach fragen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass die Antwort «Warum möchten Sie das wissen?» lautet. Eine Frage, die zwar provokant und ausweichend klingen mag, aber in Wirklichkeit gar nicht so uninteressant ist. Warum will ich eigentlich zu einem schwulen Therapeuten? Glaubt man, dass man sich besser verstanden fühlt? Hat man keine Lust, einem heterosexuellen Therapeuten die PrEP zu erklären? Für mich gibt es überzeugende Argumente, die sowohl für als auch gegen einen schwulen Therapeuten sprechen. Zwei davon halte ich für besonders relevant.
Es ist möglich, einen schwulen Mann kennenzulernen, ohne mit ihm Sex zu haben.
Pro: Für viele schwule Männer ist Sex der erste Schritt, um andere schwule Männer kennenzulernen. Erst dann wird entschieden, ob daraus eine Freundschaft, eine Affäre, eine Beziehung oder gar nichts wird. Ein Verhalten, das sich über die Jahre verfestigen und zu einem Muster werden kann. Wenn man nun von seinem Therapeuten weiss, dass er schwul ist, kann das zu einer wichtigen persönlichen Erfahrung werden: Es ist möglich, einen schwulen Mann kennenzulernen, ohne mit ihm Sex zu haben. Sex ist nicht die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu treten und eine Verbindung aufzubauen. Vielleicht gerade dann relevant, wenn ich mir eigentlich eine Beziehung wünsche?
Contra: Viele schwule Männer haben die Erfahrung gemacht, dass sie aufgrund ihres Schwulseins verstossen und zurückgewiesen wurden und zwar meist von Heterosexuellen. Bei einem heterosexuellen Therapeuten könnte man nun die – wichtige – Erfahrung machen, dass ein Heterosexueller auch ein Verbündeter sein kann. Und nicht immer nur ein Gegner. Es wäre eine Form der Versöhnung mit jenem Teil der Gesellschaft, die einen verstossen hat.
Zum Thema: Was, wenn dich deine Eltern wegen deiner Homosexualität zum Psychologen schicken wollen? Das rät unser Dr. Gay.
Es ist das eigene Bauchgefühl, das die Entscheidung für oder gegen einen schwulen Therapeuten passend trifft. Es gibt nämlich kein Richtig oder Falsch. Entscheidend ist in jeder Therapie etwas anderes: Alle Studien zu diesem Thema kommen zu dem Schluss, dass das wirklich Wirksame in der Therapie die Qualität der Beziehung zum Therapeuten ist. Egal, ob schwul oder nicht.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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