Neues Album von Patrick Wolf: Ode an den flüchtigen Moment

Queerer britischer Musiker bringt neue Musik heraus

Patrick Wolf: Crying the Neck (Foto: Furmaan Ahmed)
(Bild: Foto: Furmaan Ahmed)

Nach mehr als zehn Jahren ist Patrick Wolf mit einem neuen Album zurück. Er singt auf «Crying the Neck» von harten Zeiten, die hinter ihm liegen. Gleichzeitig feiert er das Leben.

«Wie viele Jahre kann man verschwunden sein, bevor sie eine Patrouille losschicken?» fragt Patrick Wolf auf seinem neuen Album ironisch. Nach mehr als einem Jahrzehnt ohne neues Album ist der britische Musiker mit «Crying the Neck» zurück. Bis Anfang der 2010er Jahre galt er mit Songs wie «The Magic Position» oder «Together» als Indie-Star. «Bermondsey Street» machte ihn für viele auch zur queeren Ikone. Dann war auf einmal Schluss. Niemand wusste so recht, was er danach getrieben hatte.

Er musste in der Zwischenzeit den Tod seiner Mutter verkraften, wurde von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Danach hatte er mit einer Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen und war auch noch pleite. Zwar kam 2023 schon eine EP mit fünf Songs heraus, bis zum neuen Album dauerte es aber noch bis zu diesem Jahr. Er kämpfte sich zurück in ein gesundes Leben und auch auf die Bühne. Dabei heraus kam nun «Crying the Neck». Dieses Album beinhaltet nun aber keine Musik, die einem schwer im Magen liegt. Die Songs ziehen einen nicht runter, sondern halten einen und heben einen manchmal sogar empor.

Es beginnt mit «Reculver». Einem Song, den er mit Anfang 16 angefangen hat zu schreiben und erst kürzlich beendet hat. Der sehr junge und der nun über 40-jährige Songwriter sprechen hier also gleichzeitig. Dieser Song steht mit dem letzten des Albums, «Foreland», in einem Spannungsbogen, in dem der Erzähler reifer und erfahrener geworden ist. Dies wird nun unter anderem durch eine queere Referenz deutlich. So beklagt er im ersten Song noch, dass er keine Kinder und keinen Ehemann habe. Im letzten Song sagt er, dass er nach Hause müsse, um die Jungs zu füttern. Man merkt, dass viele Kämpfe hinter dem Erzähler liegen. Und auch, wie sich Prioritäten verschieben.

Dieser und andere Songs sind aber kein reiner Blick zurück. Wolf muss weiterziehen, sich verändern um lebendig zu sein. Davon spricht er auch in «Oozlum», was nach einem englischen Fabeltier benannt ist, das immer im Kreis fliegt und somit für ein absurdes Verhalten steht. «Stare at the past too long - to there you’ll disappear» (Wenn du zu lange in die Vergangenheit blickst, wirst du dorthin verschwinden), singt Wolf.

Patrick Wolf: Crying the Neck (Foto: Furmaan Ahmed)
(Bild: Foto: Furmaan Ahmed)

Um das alles bewerkstelligen zu können, musste er wegziehen aus London. Er landete im südenglischen Kent, wo er nun bei den weissen Klippen von Dover lebt. Dort hat er sich in seinem Garten ein eigenes Studio gebaut, in dem er in den letzten Jahren dieses Album selbst geschrieben, komponiert und mit Brendan Cox produziert hat. Er spielt neben Klavier und Gitarre auch auf diesem Album wieder Geige, Appalachian Dulcimer, Bariton-Ukulele und Kantele.

Wie sehr die südostenglische regionale Kultur Einfluss auf ihn genommen hat, sieht man schon auf dem Albumcover. Dort ist er inmitten eines Weizenfeldes mit einer Erntesichel zu sehen, die auch eine Mondsichel sein könnte - eine Anknüpfung an das Cover seines letzten Albums «Sundark and Riverlight» von 2012?

Das Ritual «Crying the Neck» ist ein Schrei, ein Gesang, der den Schnitt der letzten Getreideähre bei der Ernte markiert. Diese Zeile, «Crying The Neck», singt Wolf im Song «The Curfew Bell» (Sperrstundenglocke) berührend, traurig aufsäufzend und gleichzeitig hymnisch gegen den Himmel richtend. Es markiert ein ultimative Ende. Streichinstrumente, die Wolf selber spielt, bringen das Lied ohne Worte zu Ende. Sprachlosigkeit löst sich so in instrumentaler Allgegenwart auf.

Doch in dieser Stimmung verharrt das Album keinesfalls. Andere Songs zeigen nie nur Schmerz, sondern auch Liebe, Widerstand, Kraft und Hoffnung. So in «Dies Irae», diesem lebensmutigen Song, der, wie der Titel sagt, die «Tage des Zorns» heraufbeschwört, wenn Wolf fragt: «Was kann ich tun, um das Anbrechen des nächsten Tages aufzuhalten?» Weder die Nacht sei schon da, noch die eigene Beerdigung. «Wir sind lebendig!», singt er im Refrain. Es ist eine Ode an den flüchtigen Moment.

Eine solche Kraft aus dem Abschiednehmen symbolisiert auch eine englische Legende von einem hölzernen Pferd, das vergraben wird um dann mit magischen Fähigkeiten wiederzukehren. Diese kommt im Song «Better or Worse» vor, der mit einer energiegeladenen, von Last befreiter akustischer Gitarre beginnt.

Einen solchen Wendepunkt, vom Niedergang zur Selbstbefreiung, besingt er auch in «Jupiter». Dort heisst es: «On the darkest night - I see most clear - The way to anywhere - But here». (In der dunkelsten Nacht sehe ich am klarsten die Wege, die überall hin führen, weg von hier). Das Dunkel ist hier nicht das Ende, sondern der Beginn des Neuen. Der Zeitpunkt, wenn man am klarsten sehen kann, weil alles ablenkende Helle verschwunden ist. Darin erzählt Wolf von seiner Entziehungskur. 90 Tage war er täglich in eine ambulante Klinik gegangen und eines Morgens hatte er aus seinem Fenster den Planeten Jupiter erblickt. Daher der Songtitel. Es ist neben «Dies Irae» einer der musikalisch eingängigsten Songs.

Von romantischer Liebe handelt auf diesem Album nur ein einziges Stück, nämlich «Limbo», über den Schwebezustand eines Paares. So richtig romantisch geht es hier aber auch nicht zu, denn es handelt von zwei Personen, die nicht so recht wissen, ob sie noch zusammengehören oder nicht. Patrick Wolf und Zola Jesus singen hier gemeinsam, abwechselnd, aufwühlend, so als würden sie sich ins Wort fallen, sich ständig anziehen und abstossen. In diesem Song ist die emotionale Spannung aber weniger existentiell, sondern bei allem Beziehungsstress fast spielerisch.

So sehr es in dem Album um Innenansichten geht, sticht besonders ein Song hervor, der mit dieser Perspektive bricht. In «Hymn oft the Haar» (Hymne des Seenebels) beschreibt Wolf, wie er am Strand in der Nähe von Dover einen jungen Mann sieht, der scheinbar an der Küste liegt und schläft. Plötzlich stellt sich heraus, dass es sich um einen ertrunkenen Geflüchteten handelt. So brechen die gegenwärtigen Krisen in das Persönliche ein. Der Sänger fragt sich, ob er all die Zeit zu ignorant für dieses Leid gewesen sei, während die Welt von einer Krise zur nächsten eilt. Wie soll man umgehen mit den Katastrophen, wenn man nicht mehr wegsehen kann, aber man zu ohnmächtig ist, sie allein zu lösen?

Als versöhnliches Gegenstück zu all den Verlusten, dem Streit, den Bedrohlichkeiten kommt «On Your Side» daher. Musikalisch ganz unmittelbar, nahbar, direkt, in einer lebendigen Akustikversion. Wolf singt davon, dass jemand einem an der Seite bleibt, auch wenn sich alles um einen herum verschworen hat und man selbst sich machtlos fühlt.

So ist «Crying the Neck» von Patrick Wolf voll von Krisen, die ungeschönt und literarisch fein beschrieben werden, bei denen dann aber Antworten auf diese bedrohlichen Zustände, Hoffnungslichter und Auswege durchschimmern. Es geht nicht um das Besingen von Schmerz, sondern um dessen Überwindung.

«Ich pfeife in die Dunkelheit, die du verbirgst. Hier draussen an deiner Seite werde ich die Stellung halten», singt er in «On Your Side». Hier wird nur am deutlichsten, was auch in anderen Songs sichtbar ist: Trotz allen Schmerzes und der Notwendigkeit, im Laufe der Zeit weiterzuziehen, geht es um die Kraft durch Begegnungen und den musikalische Zauber, der Menschen zum Klingen bringen kann.

«Die Geschichte der Aids-Hilfe Schweiz ist eine der sexuellen Befreiung» (MANNSCHAFT berichtete)

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