Heilige, Freundin, Fremde – Über die Mutter in der queeren Literatur

Am Sonntag ist Muttertag

Symbolbild: Daiga Ellaby/Unsplash
Symbolbild: Daiga Ellaby/Unsplash

Welche Rolle spielt die Mutter in aktuellen queeren Buchveröffentlichungen? Von der gewalttätigen, über die sprachlose Mutter, bis zur verklärten Heldin ist vieles dabei.

Nun auch noch Didier Eribon. In seinem Buch «Eine Arbeiterin» schreibt auch er über seine Mutter. Über ihr Leben und ihr Sterben. Er setzt ihr ein Denkmal, reflektiert über seine Flucht aus dem Elternmilieu. Erst sehr spät, als die eigene Mutter schon krank und schwach ist, findet er einen Weg zu ihr zurück. «Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin», sagt er nach ihrem Tod. Eine Anerkennung durch die Mutter findet aber am Ende nicht mehr statt.
Didier Eribon © Pascal Ito/Flammarion/Suhrkamp Verlag
Didier Eribon © Pascal Ito/Flammarion/Suhrkamp Verlag

Er schreibt dies einige Jahre nachdem bereits Édouard Louis, mit dem Eribon gut befreundet ist, ein Buch über seine eigene Mutter geschrieben hat. Wie Eribon will auch Louis seiner Mutter ein Stück Würde zurückgeben, die ihr «Kräfte» genommen hätten, wie Louis schreibt, und zwar: «Gesellschaft, Männerwelt, mein Vater». Während Louis in dem davor erschienenen Buch über den Vater noch härter politisch anklagt, ist der Ton im Buch über die Mutter viel zärtlicher, besonders wenn es um die Schilderung ihrer Person geht.

Diese beiden Mütter werden nach allen Konflikten und Entfremdungen letztlich doch von ihren Söhnen verehrt. Doch es gibt auch die dunklen Figuren. Zuletzt etwa besonders markant dargestellt von Angelo Tijssens. Er beschreibt in seinem Buch «An Rändern» seine geradezu gefühlte Erlösung über den Tod seiner Mutter. Sie war alkoholkrank und tat ihm schreckliche Gewalt an. Von einer Hymne auf die eigene Mutter, einer nachträglichen Versöhnung oder auch nur Annäherung ist hier keine Spur.

Weit weniger drastisch, aber doch auch sehr kalt, kommen Mutter und Grossmutter in Kim de l’Horizons «Blutbuch» daher. Die Grossmutter ist das «Monster», die Mutter die »Eishexe». Im Berner Deutsch «Meer» und «Grossmeer» genannt, drohen beide Figuren die Protagonist*in geradezu in ihre Strudel mit hinabzuziehen.

Eine Welt der Sprachlosigkeit und kühlen Distanz begegnet den Lesenden auch in Evan Tepests «Schreib den Namen deiner Mutter». Mutter und Kind treffen sich, und schaffen es dennoch nicht, wirklich einmal ins Gespräch zu kommen. Die Mutter bleibt Welten entfernt, obwohl sie ihrem Kind räumlich bei dessen Besuch vor Ort ganz nah ist. Man lebt nebeneinander her, achtet bewusst darauf, dass sich die eigenen Bahnen bloss nicht berühren, um ja weiter seine Kreise ziehen zu können. Derweil redet die Mutter unentwegt, Reden ist für sie wie ein Schutzpanzer, ganz wie bei der «Meer» im «Blutbuch».

Wer sich von der eigenen Herkunft mit ihren Werten und Regeln abgrenzen wolle, tue dies immer auch von der Mutter – oft deutlicher als vom Vater, oder Geschwistern, sagt Sophie Emilia Seidler, Literaturwissenschaftlerin von der Uni München. Da queere Literatur oft mit Identitätsfindung, Emanzipation von Rollenbildern, familiären oder sozialen Zwängen zu tun habe, spiele die familiäre Prägung der Protagonist*innen häufig eine wesentliche Rolle, sagt sie. Die Mutter sei eben oftmals «Inbegriff von Zuhause und Familie».

In der feministischen Literatur und auch der Perspektive lesbischer Töchter auf die eigene Mutter habe die Abgrenzung schon immer eine grosse Rolle gespielt, erklärt die Literaturwissenschaftlerin. Meist gehe es um Anklagen, den Vorwurf, nicht revolutionär genug gewesen zu sein. Oftmals spiele hier auch die Angst eine Rolle, so werden zu können, wie die eigene Mutter. Eine solche Haltung sei etwa auch in Melissa Broders Buch «Muttermilch» zentral. Dort versucht die Protagonistin, sich von ihrer Mutter abzunabeln, die sie mit ihren Erwartungen zu erdrücken droht.

Evan Tepest (Foto: © Selma Kay Matter / Piper Verlag)
Evan Tepest (Foto: © Selma Kay Matter / Piper Verlag)

So zu werden wie ihre eigene Mutter – das Problem hätten schwule Autoren in autofiktionalen Texten nicht, meint Sophie Emilia. Auch deswegen, weil sie die Erwartungen, die oftmals auf den Töchtern lägen, nicht zu erfüllen bräuchten. Von ihnen erwarte in der Regel niemand, Kinder zu kriegen, oder Care-Arbeit zu leisten.

In jüngsten autofiktionalen Texten sei besonders der Bildungsaufstieg ein wesentlicher Grund dafür, dass die Protagonist*innen keine Angst zu haben bräuchten, so zu werden, wie ihre Mutter. Dies spielt bei Eribon, Louis aber auch bei de l’Horizon und Tepest eine Rolle. Der eigene Bildungsaufstieg war zunächst eine Möglichkeit der Flucht. Dieser hat die Personen in eine schützende Distanz zu dem eigenen Milieu und zur Mutter gebracht, sie aber von ihr gleichzeitig auch entfremdet.

Hengameh Yaghoobifarah (Foto: Lior Neumeister)
Hengameh Yaghoobifarah (Foto: Lior Neumeister)

Die Überwindung dieser Distanz könne aber später nur gelingen, sagt Sophie Emilia, wenn die Mutter «über sich, und das kulturelle System, dem sie angehört, hinauswächst», und so das queere gebildete Kind vollständig anerkenne.

Bei Eribon gelingt dies aber nicht. Auch die Hauptfigur Alex in Evan Tepests Roman «Schreib den Namen deiner Mutter» hadert damit. «Ich will einfach, dass sie meine Realität anerkennt», klagt Alex gegenüber ihrem Freund Wassil über ihre Mutter. Und er entgegnet schlicht: «Aber das kann sie nicht. Du wartest auf etwas, das nicht passieren wird».

Auch wenn in aktuellen Veröffentlichungen auch non-binäre oder trans* Personen vorkommen, sei die literarische Beschäftigung mit der Figur der Mutter bisher, auch im queeren Bereich, noch immer patriarchal geprägt, beklagt Chris Tischer vom Blog «Queer Bookster». Cis Männer hätten auch heute noch die meiste Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb und die meisten Publikationen. Damit sei die Rolle der Mutter immer noch eng mit dem male gaze, dem männlichen Blick auf Frauen und Weiblichkeit, verbunden.

Als ein Beispiel, in dem es nicht um diesen männlichen Blick gehe, nennt Chris das Buch «Die Nähe verlieren» von Dragoslava Barzut. Hier steht ein Mädchen im Zentrum, das im Jugoslawien der 70er und 80er Jahre aufwächst. Elodi verliebt sich in Dolores und muss in ihrer queerfeindlichen Umgebung zurechtkommen. Ihre Familie ist ihr dabei keine grosse Hilfe.

Einen weiteren Kontrast zu schwulen Männern, die ihre eigene Mutter – wenn auch spät – in den Himmel heben, bildeten Texte von FLINTA*-Autor*innen, sagt Chris. Aus nicht binärer Perspektive hatte zuletzt etwa Hengameh Yaghoobifarah den Roman «Ministerium der Träume» veröffentlicht. In der Geschichte nimmt Nas das Kind der Schwester auf. Auch wenn ein Kind gar nicht so recht in das eigene Leben passt, nimmt Nas es zu sich und muss sich nun mit den Gedanken rund um Wahlfamilie und biologische Familie auseinandersetzen.

Bei bisher erschienenen trans Erzählungen über Mütter, meint Chris, stünden oft eine feministische Betrachtung über Mütter und Weiblichkeit im Zentrum. Auch spiele die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen generell ohnehin eine starke Rolle. Insbesondere in trans Biografien fänden sich häufig ältere Frauen, die «eine Mutterrolle ausserhalb der Herkunftsfamilie einnehmen» würden. Darüber würden auch die eigenen Wahl-Familiensysteme in der queeren und trans* Community betont, sagt Chris.

Alana S. Portero (Foto: Jaime Llamas & Bárbara Lara)
Alana S. Portero (Foto: Jaime Llamas & Bárbara Lara)

Zu diesem Thema ist zuletzt auch «Die schlechte Gewohnheit» von Alana S. Portero erschienen. In dieser Geschichte geht es um ein trans Mädchen, das im Arbeiter*innenviertel von Madrid in den 80er Jahren aufwächst. Sie findet am Ende in einer älteren Sexarbeiterin ihre trans* Mutter.

In all diesen unterschiedlichen Facetten, wie Mütter in letzter Zeit literarisch verarbeitet würden, sei aber dennoch zu beobachten, meint Chris, dass stereotype Muster langsam aufgebrochen würden. Es seien weniger altbekannte Muster wie die liebevoll-aufopfernde Mutter gegen die böse Stiefmutter vorherrschend. So finde aktuell doch so etwas wie eine Diversifizierung der Mutterdarstellungen statt.

Zudem seien auch immer wieder neue Trends zu beobachten, merkt Sophie Emilia von der Uni München an. Eine solche positive Entwicklung sei etwa die «trans* Euphoria». Damit würden neben allen traumatischen Erfahrungen, die unbedingt erzählt werden müssten, auch positive und kraftspendende Erzählungen von trans Menschen betont.

Letztlich freue sich Literaturwissenschaftlerin Sophie Emilia aber schon jetzt auf den Tag, wenn es eine Überwindung der «Ablösung-von-den-Eltern-Plots» geben könne. Wenn dann «queere Elternschaft» oder andere Phasen des Erwachsenenlebens zu einem grösseren Thema im Literaturbetrieb geworden seien.

Chris Tischer betreibt den Blog Queer Bookster und postet auch auf Instagram.

Sophie Emilia Seidler ist Literaturwissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht zu Genderrollen, «abnormen Körpern» und der Antikerezeption in zeitgenössischer Literatur.

«Fragile as Glass» – Ein Fotobuch über queeres Leben in Zeiten des Ukrainekrieges (MANNSCHAFT berichtete)

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