Community
Tabu Nacktfotos: «Denk dir einen Fake-Namen aus und probier was»
Ein ausgebrannter Modedesigner, Nacktfotos und ein ungewöhnliches Projekt für die Krebsforschung
Mit seinem Projekt «Schwänze für Schwänze» fotografiert Timmi Taubenschreck sich selbst und andere nackt – und sammelt dabei Spenden für die Krebsforschung. Ein Gespräch über Tabus, seelenlose Bilder und die Freiheit, auf alles zu scheissen.
Timmi Taubenschreck: Ist das dein echter Name? Nein, der ist erfunden, aber ich mag ihn.
Wo kommt er her? Nach zehn Jahren als Modedesigner in Berlin war ich ausgebrannt, wollte was Neues, aber der Mode treu bleiben. Dabei fiel mir auf, wie oft Modefotos mehr den Stil der Fotografierenden zeigen als die Marke selbst. Das wollte ich ändern. Eine Freundin aus der Branche war in einer ähnlichen Lage. Wir starteten gemeinsam ein Fotoprojekt. Sie nannte sich Detlef Honigstein, ich wurde Timmi Taubenschreck. Absurde Namen, weil der Job für uns absurd war.
Wir hatten kein klares Ziel und wollten frei bleiben, jederzeit aussteigen können, ohne dass unsere echten Namen damit in Verbindung gebracht wurden. Es war nie als Karriere gedacht. Doch das Projekt wurde erfolgreich, wir etablierten uns bis nach Paris. Die Namen blieben – bis der Lockdown alles stoppte.
Und dann? Zwei Jahre keine Shows. Keine Jobs. Ich hatte plötzlich viel Zeit. Mein Vater wurde gleichzeitig schwer krank. Ich habe weiterhin fotografiert, zunächst Freunde am See. Daraus entstanden Bücher, Prints, die ich verkauft habe.
Dann begleitete ich meinen Vater zur Chemo und sah dort ein junges schwules Paar. Einer von beiden war Patient. Da wurde mir klar: Mir ging es gut, finanziell, psychisch, kreativ. Ich wollte, dass meine Arbeit mehr bewirkt als nur zu unterhalten. So entstand die Idee zu «Schwänze für Schwänze»: Kunst verkaufen, um die Krebshilfe zu unterstützen.
Wie haben die Leute reagiert? Es wurde nie infrage gestellt, aber auch nicht gefeiert. Es war einfach mein Projekt und meine Art, Geld für etwas Gutes zu sammeln. Ich habe bewusst auch Bilder verkauft, die stärker in Richtung «Sex sells» gingen. Wenn ich sehe, dass ein bestimmter Stil besser funktioniert, also mehr Likes und mehr Sichtbarkeit bringt, passe ich mich dem ein Stück weit an.
So finde ich heraus, wie ich noch mehr Spenden generieren kann. In den letzten drei Jahren habe ich das ziemlich ausgereizt. Vielleicht habe ich dabei manchmal auch zu viel Persönliches gezeigt, vor allem, was meine Nacktheit betrifft.
Inwiefern bist du zu weit gegangen? Ich habe sehr sexuelle Fotos gemacht. Aber bewusst keine gestellten Aufnahmen mehr. Früher am Set, da gab’s Storylines, Make-up, Haare, alles durchinszeniert. Jetzt ist es anders. Ich fotografiere, was ich sehe. Am See zum Beispiel. Wenn das Licht passt, mache ich ein Bild. Und das habe ich ins Schlafzimmer mitgenommen, also in meine Sexualität integriert. Ich glaube, ich habe manchmal ein bisschen zu viel geteilt.
Würdest du das im Nachhinein als Fehler bezeichnen? Nein, gar nicht. Ich bin jetzt 40, und seit einem halben Jahr habe ich das Gefühl: Wenn es alle Fotos, die ich gemacht habe – von mir und anderen – nicht gäbe, würde ich das irgendwann bereuen. Obwohl ich nie zufrieden bin mit mir, meinem Körper, meiner Sexualität, finde ich, Nacktfotos sind nie falsch. Alle sollten welche machen oder machen lassen. Man lernt sich selbst besser kennen.
Du hast vorhin erzählt, dass dieser Moment im Krankenhaus deine Sicht auf die Arbeit veränderte. Wie? Ich nehme meine Arbeit ernst, aber sie ist nicht mein Lebensmittelpunkt, sie definiert mich nicht. Und ich weiss: Ohne Instagram, ohne Postings würde es nicht funktionieren. Wenn es zu sehr in Richtung Job kippen würde, wäre ich raus. Der Spass daran hält mich dabei. Ich bin kein People-Pleaser. Ich bekomme oft Anfragen, ob ich jemanden gegen Bezahlung nackt fotografieren kann. Das habe ich nie gemacht. Weil es dann ein Job ist. Dann ändert sich der Blick auf das Bild. Zum Glück habe ich einen Job als Stylist, der mein Leben finanziert. Die Fotografie ist on top, damit bezahle ich Filme, Labor. Der Rest geht in die Krebshilfe. Das kann ich nur machen, weil es kein Job ist.
Du hast einen Schrank voller Fotobücher, aber nach zehn Seiten schlägst du sie wieder zu. Dann ist bei mir Schluss, weil ich Angst habe, zu viel aufzusaugen und den Draht zu mir selbst zu verlieren. Wenn ich mich nicht schütze, verliere ich meinen Fokus und die Freude an meinen Bildern. Mein Auge nimmt alles auf, auf der Strasse sehe ich jeden Papierschnipsel und weiss noch Tage später, welche Farbe er hatte.
Ist das eine Art Hypersensibilität? Ja, ich bin ein bisschen autistisch veranlagt. Ich stottere auch, seit ich sechs oder acht bin. Und ich kann vieles nicht filtern. Wenn zu viel zusammenkommt, ist mein Kopf voll und müde. Dann geht nichts mehr.
Es ist nicht der klügste Job, den ich mir ausgesucht habe. Aber ich finde es spannend, mich genau damit zu beschäftigen und rauszufinden, was mich daran überfordert. Vielleicht wäre es einfacher, dem aus dem Weg zu gehen. Aber das will ich nicht. Ich versuche, mich dem zu stellen. Und meine Fotos – manchmal überfordern die mich selbst auch total.
Wie überfordern sie dich? Ich muss mich echt zurückhalten, nicht alles zu fotografieren, was ich sehe. Das geht ins Geld. Ich fotografiere nur auf Film, mit Entwicklung im Labor, was mittlerweile teuer geworden ist. Für ’ne Digitalkamera bin ich zu dumm. Wirklich. Es gibt nichts Schlimmeres als Fotos auf dem Handy oder von irgendeiner superteuren Digitalkamera. Sie sind seelenlos. Und ich kapiere es auch nicht. Bildbearbeitung? Keine Chance. Ich hab noch nie ein Bild von mir bearbeitet, einfach weil ich es nicht raffe.
Was macht dein «eigenes Auge» aus? Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen. Oder zumindest sehe ich sie detaillierter. Erst durchs Fotografieren wurde mir das klar.
Dass du auf dem Spektrum bist, weisst du erst, seit du fotografierst? Ja. Erst seit zwei Jahren.
Darf ich das aufschreiben? Gerne. Ich finde, da wird viel zu wenig drüber geredet. Und es sollte Thema sein, weil es normal ist. Es gibt so viele Menschen, denen es nicht gut geht, und sie wissen gar nicht, warum. So ging’s mir auch. Ich hab’ ewig nicht verstanden, warum ich keine gesunde Beziehung führen kann, keinen normalen Job machen. Warum ich selbstständig sein muss. Warum ich künstlerisch arbeiten muss. All das hatte eine Quelle.
Wie hast du es herausgefunden? Meine Beziehung war am Ende, auch in meiner Kunst klaffte ein Loch. Ich hatte ein diffuses Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. Bis mir klar wurde: Auch als homosexueller Mann trage ich eine gesellschaftliche Checkliste im Kopf. Frauen spüren diesen Druck vielleicht noch stärker, aber wir alle sind geprägt. Job, Familie, Kinder – mit 38 hatte ich zwei von zehn Punkten abgehakt, der Rest wird nie passieren. Nicht weil ich’s nicht könnte, sondern weil es in meinem Kopf keinen Platz hätte.
Ich begann mich zu fragen: Warum ist so vieles zerbrochen? Warum halte ich keine Beziehung? Warum stottere ich noch immer? Alles hängt zusammen, meine Reizverarbeitung, das Filtern, mein Muster. Erst durch Therapie und Coaching habe ich verstanden, wie ich funktioniere und Werkzeuge bekommen, damit umzugehen.
Seitdem hat sich viel verändert, besonders in meiner Fotografie. Ich bin freier, muss nichts mehr beweisen, kein Buch abschliessen, keine Räume füllen. Auch dieses Interview freut mich – gerade, weil es nicht auf meiner Liste steht.
Was ist an deinen Bildern besonders? Ich möchte kein Gefühl inszenieren – ich will, dass man das fühlt, was ich selbst gefühlt habe. Der perfekte Moment interessiert mich nicht. Viel spannender ist das Davor oder Danach. Ein Foto, das perfekt ist, hat keine Geschichte. Keine Seele. Wenn ich es aber schaffe, dass man sich als Teil der Szene fühlt – als sässe man mit auf der Decke oder am Bettrand –, dann bin ich zufrieden. Dann sehe ich auf dem Bild das, was ich auch mit meinen eigenen Augen sehe.
Deine Bilder zeigen viel nackte Haut, wirken aber nie voyeuristisch oder plump erotisch. Was bedeutet dir Intimität? Ein nackter Körper oder Sexualität sind nicht per se intim. Viel intimer ist es, jemandem beim Dasein zuzusehen. Ohne Filter, ohne Pose. Manche meiner Bilder sehen unglaublich sexuell aus, dabei sind sie in banalen Situationen entstanden. Es gibt zum Beispiel eine Serie mit zwei Freunden, die während des Lockdowns entstand. Wir waren oft zu dritt unterwegs, haben zusammen gekocht, geschlafen, ohne sexuelle Komponente. Trotzdem wirken diese Bilder auf viele so, als seien sie mitten aus einem wilden Sommer voller Lust. Dabei war es nur heiss und wir brauchten keine Hose.
Du hast in einem Mail erwähnt, dass deine Bilder nicht besonders divers sind. Wie meinst du das? Je sichtbarer meine Arbeiten wurden, desto öfter kam die Rückmeldung: «Da fehlen andere Körper. Andere Geschlechter. Andere Hautfarben.» Und ich verstehe das. Aber ich musste mir klarmachen: Ich bin kein Dienstleister. Ich mache keine Auftragsarbeiten. Ich fotografiere mein Leben und das ist eben nicht besonders divers. Mein Freundeskreis ist überwiegend männlich, weiss, cis und schwul. Das sind die Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe und die ich fotografiere. Ich kann keine Lebensrealität abbilden, die nicht meine eigene ist. Das will ich auch gar nicht. Von aussen wird das manchmal nicht gesehen, was auch okay ist.
Wie gehst du mit dem Wunsch um, in Ausstellungen oder Publikationen wie dieser dennoch mehr Vielfalt zu zeigen? Ich werde nichts extra dafür fotografieren. Das wäre nicht ehrlich. Aber ich habe wahnsinnig viele Fotos – ich könnte 20 Jahre lang jeden Tag eins posten. Und da sind natürlich auch andere Menschen dabei. Es gibt nicht nur dieselben drei Jungs, mit denen ich alles teile. Aber: Was ich zeige, ist immer nur ein kleiner Ausschnitt aus meinem grossen Archiv.
«Ich lebe maximal sieben Tage im Voraus»
Timm Süssbrich
Was steht in Zukunft bei dir an? Ausstellungen, Projekte? Ich kann nicht planen. Ich lebe maximal sieben Tage im Voraus. Ich habe gerade weder ein konkretes Ziel noch grosse Pläne. Und das ist genau richtig so.
Was würdest du jungen queeren Kreativen mit auf den Weg geben, die sich noch nicht trauen, ihre eigene Stimme in der Kunst zu finden? Ich glaube, es gibt kaum etwas Einfacheres, als sich in der Kunst auszuprobieren. Oder: Mach’s wie ich, denk dir einen beschissenen Fake-Namen aus und probier dich einfach aus. Gerade in der Kunst hast du nichts zu verlieren. Natürlich hängt es auch ein bisschen davon ab, wo du bist. Wenn du queer und aus einer Grossstadt wie Köln, Berlin, Hamburg oder München bist, hast du’s oft schon leichter. Aber in der Kunst musst du dich niemals zurückhalten. Das ist ein riesengrosser Spielplatz. Ich hab’ schon immer gemacht, worauf ich Lust hatte. Und wenn es nur für mich war – oder für Mama, Papa, den Kühlschrank. Ein Bild für Freund*innen. Stell’s auf der Strasse aus, häng es an die Wand. Mach es einfach.
Bei dir hört sich das so einfach an. Kunst kann so einfach sein. Ich hatte mal einen Stapel Bilder, ausgedruckt auf normalem Büropapier. Zwölf Motive, A4. Und dann hab’ ich mir eine ruhige Strasse gesucht, eine Mauer und die Bilder auf Augenhöhe aufgeklebt. Und einfach dagelassen. Wer wollte, konnte sich eins mitnehmen. Das war meine kleine Ausstellung. Kunst kann laut sein oder ganz leise. Schön oder hässlich. Du kannst alles sein und vor allem du selbst. Ich bin heute nicht mehr der Gleiche wie mit 20 – zum Glück. Aber Kunst hat mir geholfen, mit mir selbst klarzukommen. Selbstbewusster zu werden. Und auf Dinge zu scheissen. Das ist vielleicht das Beste daran.
Sagst du mir zum Schluss noch deinen echten Namen? Timm Süssbrich.
Wie kein anderes Paar setzen sich Florin Buhuceanu und Victor Ciobotaru für die Community in Rumänien ein. Für das Recht auf Partnerschaft haben sie ihr Heimatland sogar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt – und gewonnen (MANNSCHAFT-Story).
Entdecke weitere Beiträge in unserem Online-Magazin:
Kerstin und Laskaar besingen den Herbst | Aktuelle Herbst-Ausgabe 2025
Online-Magazin
MANNSCHAFT Magazin
Sommer 2025: «Aurélie» & «Norbert»
Online-Magazin
Alle MANNSCHAFT-Ausgaben auf einen Blick!
Online-Magazin
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
Pierre Sanoussi-Bliss: «Ich hätte nicht mit Jurassica Parka gearbeitet»
News
Schwul
Film
Matt Bomer über Jonathan Bailey: Perfekt als «Sexiest Man Alive»
Unterhaltung
Schwul
«Freundlichkeit ist mein Widerstand» – Tom Neuwirth über seine queere Lebenshaltung
Unterhaltung
Musik
Österreich
Eurovision Song Contest
Theater