«Du und ich und die Schwalben»: Teil 2 der Jura-und-Wolodja-Trilogie
Die Fortsetzung des in Russland verbotenen Bestsellers ist endlich auch auf Deutsch erschienen
Fast ein halbes Jahr musste die deutschsprachige Leser*innenschaft warten, um zu erfahren, wie es mit Jura und Wolodja aus «Du und ich und der Sommer» weitergeht. Jetzt ist «Du und ich und die Schwalben» übersetzt erschienen. (Achtung: Dieser Artikel enthält mögliche Spoiler!)
Wir erinnern uns: Das russisch-ukrainische Team Katerina Silwanowa und Elena Malisowa hatte sich auf der Selfpublishing-Plattform Ficbook kennengelernt, wo man eigene Geschichten online veröffentlichen kann. Die beiden Frauen – eine arbeitete in Russland im IT-Support eines Handelsunternehmens, die andere in der Ukraine im Einzelhandel – freundeten sich an und beschlossen, gemeinsam eine Geschichte über zwei Jungs zu schreiben, die sich zu Sowjetzeiten 1986 in einem Pionierlager in Charkiw begegnen und ineinander verlieben (MANNSCHAFT berichtete).
Danach werden die Teenager jedoch auseinandergerissen, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse eine solche Beziehung nicht erlauben, weder in Moskau, wohin Gruppenleiter Wolodja mit seinen 19 Jahren zurückkehrt, noch in Charkiw, wo der 16-jähirge Pionier Jura mit seiner Familie lebt. Bald darauf kommt die politische Zeitenwende, die UdSSR bricht zusammen, die Ukraine wird unabhängig.
Juras Familie – die jüdische Vorfahr*innen in Deutschland hat – zieht weg, und Jura erlebt ein anderes Leben in Berlin, wo er in den 1990ern und frühen 2000er Jahren seine Homosexualität vergleichsweise frei ausleben kann. Wolodja – zurückgeblieben in Moskau und mit seinen Eltern auf der Flucht vor der sich neu etablierenden Mafia, die Unternehmer terrorisiert – muss seine Gefühle und Sehnsüchte verstecken, unterdrücken, verleugnen. Er verliert den Kontakt zu Jura.
Herzstillstandmoment Nach der epischen Breite, in der in Band 1 ihre Pionierlagerliebesbeziehung in den schillerndsten Farben gezeichnet wurde (auf 400 Seiten!) und nach dem Schnelldurchlauf, in dem dann die weitere getrennte Entwicklung abgehandelt wurde, kam es bekanntlich am Ende des ersten Romans zu einem wirklichen Herzstillstandmoment, als sich Jura und Wolodja nach 20 Jahren 2006 in Charkiw wiederbegegnen, unter ihrer Trauerweide an der einst vergrabenen Zeitkapsel. Das war (und ist) wahrlich ein Moment für die literarische Ewigkeit. Der mit der Umarmung und offensichtlich ungebrochenen Zuneigung der beiden zueinander endet. Aber beim Lesen die Frage aufwirft: Was passiert denn jetzt als nächstes?
«Du und ich und die Schwalben» knüpft erwartungsgemäss mit einem Prolog genau da an, wo das erste Buch aufhört: kurz vor der Wiederbegegnung. Wolodja sitzt in Charkiw im Konzertsaal, wo Juras Musik gespielt wird. Aber er weiss nicht, ob der Dirigent, den er nur von hinten sieht, wirklich Jura ist. Und dann … kommt alles anders als gedacht.
Denn statt linear weiterzuerzählen, was nach dem Konzert passiert und was wir bereits aus Buch 1 kennen, machen die Autorinnen einen grossen Sprung zurück. Zurück zum Pionierlager 1986. Von dort aus schildern sie die ganze Geschichte noch einmal neu, diesmal jedoch aus der Perspektive von Wolodja, statt der des schwärmerischen und rebellischen Jura.
Selbstverletzungen, Panikattacken, Pillensucht Das kann einen starken Irritationsmoment auslösen, weil wir als Leser*innen ja aus Band 1 wissen, was mit Wolodja passiert ist zwischen 1986 und 2006. Zumindest in groben Zügen. Es stand in seinen Briefen, die Jura in der Zeitkapsel fand. Aber es ist Silwanowa und Malisowa offensichtlich ein Anliegen, diesmal nicht die Liebe in epischer Breite auszumalen, sondern die Selbstverleugnung eines jungen Mannes, der glaubt, seine Sexualität sei eine «Krankheit», er sei «abnormal», eine «Schande» für seine Familie usw. Wir erleben, wie Wolodja immer weiter in einen Kreislauf von Selbstverletzungen, Panikattacken, Pillensucht, Verzweiflung und emotionalen Sterbens als Folge von missglückten Konversionstherapien gerät.
Die Autor*innen schildern, wie sowohl im Kommunismus Menschen gezwungen wurden, ihre wahren Bedürfnisse zu verleugnen, um dem vermeintlichen Ideal einer «utopischen» Gesellschaft zu entsprechen, die sie zu Robotern degradieren will. Es werden im Buch die fatalen Worte von Maxim Gorki zitiert, wonach das Zulassen von Homosexualität in Russland den Faschismus zur Folge hätte. (Man kennt solche Argumentationen noch heute von Putin.) Wir erleben auch, wie nach der Wende Wolodja mit seinen Eltern in der Ukraine lebt, wo Homosexualität 1992 zwar entkriminalisiert wurde, die Mentalität der Menschen aber – auch die von Wolodjas Eltern und Freund*innen – weiterhin auf totale Ausgrenzung zielt (MANNSCHAFT berichtete). Schwule Männer werden als «Päderasten» beschimpft. Die wenigen, die es wagen, sich über «extravagante» Kleidung und «tuntige» Bewegungen zu exponieren, trifft die ganze Wucht der Ächtung. Die auch gewalttätige Züge annehmen kann.
Politisches Statement Silwanowa und Mailisowa hatten in Interviews wiederholt erklärt, dass sie ihr Buch als politisches Statement sehen. Das ist in Band 2 klarer denn je. Denn man leidet als Leser*in mit Wolodja, wenn er versucht, mit einer Verlobten zusammenzuleben und eine Familie zu gründen, wenn er sich bemüht, die Erwartungen seines Vaters zu erfüllen, wenn er die Fassade eines erfolgreichen Immobilienunternehmers um sich herum errichtet, der irgendwann das Gelände des ehemaligen Pionierlagers Schwalbe kauft und sich dort ein Haus mit hohen Gartenmauern errichtet, damit niemand hineinschauen kann. Der seine Sehnsucht nach «mehr» nicht stillen kann mit anonymen Begegnungen in Darkrooms oder Cruising-Parks oder mit einem verheirateten Arzt, der immer wieder verspricht, seine Frau für Wolodja zu verlassen, es aber nie tut. Und wir wissen die ganze Zeit beim Lesen, dass am Ende all dieser Selbstzerstörung die Wiederbegegnung mit Jura stehen wird.
Der dann aber – was wir in Band 1 eben noch nicht wussten – auf einen tief verstörten und emotional beschädigten Wolodja trifft. Was drei Fragen aufwirft: Können die beiden nach 20 Jahren als Liebende einfach da weitermachen, wo sie aufgehört hatten? Oder können sie sich zumindest nach all der Zeit neu ineinander verlieben, in die Menschen, die sie inzwischen geworden sind? Und kann solch eine Liebe zu Jura Wolodja wirklich «heilen» von allem, was ihm widerfahren ist in seiner schier erdrückenden Einsamkeit?
Das ist der Teil von Buch 2 (ab zirka Seite 250 von 500), an dem es wirklich spannend wird. Da es einen dritten Band geben wird mit dem Titel «Du und ich und für immer» (der im November auf Deutsch erscheint), ist es kein Spoiler zu vermuten, dass sie als Liebende zusammenfinden werden. Aber in «Du und ich und die Schwalben» geht es erst einmal darum, dass Jura versteht, was da mit Wolodja passiert ist. Und dass Wolodja einen zaghaften Versuch unternimmt, aus der Betonhülle auszubrechen, die er um sich gelegt hat zum Selbstschutz.
Besuch in Oranienburg und der Motzstrasse Dabei ist ein zentraler Aspekt, dass Wolodja Jura in Deutschland besucht – in Oranienburg, nördlich von Berlin. Er wird dabei bei einem Ausflug nach Berlin zum Nollendorfplatzkiez mit einem schwulen Leben voller Bars, Sexshops, händchenhalternden Männerpaaren auf der Motzstrasse konfrontiert, auch mit Juras Ex Jonas, mit Dragqueens, mit allem, was er sich bis dahin derart sichtbar und unverkrampft nicht vorstellen konnte. Und wollte. Weil ihm immer gesagt wurde, das sei «pervers». Aber es löst eine Wende bei Wolodja aus. Ein Prozess der Selbstakzeptanz wird eingeleitet. Der zu einem bemerkenswerten Finale führt.
Das ist vielleicht nicht vom Herzstillstandkaliber wie in Band 1. (Was auch fast unmöglich zu toppen wäre.) Aber die gesellschaftspolitische Wucht diesen zweiten Finales ist grösser. Gerade weil sich Silwanowa und Malisowa so viel Zeit nehmen, den Horror eines schwulen Lebens in Russland und der Ukraine zu schildern, wo in Post-Sowjetzeiten keine «Befreiung» von alten menschenverachtenden Mustern eintrat, fragt man sich immer wieder, wie es wohl heute in der Ukraine ist. In einem Land, das der EU beitreten möchte und das von Deutschland in seinem Kampf gegen Russland unterstützt wird. Ein Land, aus dem so viele Menschen nach Deutschland geflüchtet sind (MANNSCHAFT berichtete).
«Reaktionen von Menschen aus der Generation unserer Eltern» Im Interview mit Fluter sagte Elena Malisowa: «Das Schönste waren für uns die Reaktionen von Menschen aus der Generation unserer Eltern. Manche erzählten, dass sie, nachdem sie unseren Text gelesen hatten, ihre Einstellung gegenüber LGBTIQ-Themen geändert haben und sie jetzt besser verstehen.» Gerade solche Reaktionen stören allerdings das Feindbild, das Putins Regime aufrechterhalten will. Nochmal Malisowa: «Russland ist eine Diktatur. Und jede Diktatur braucht Feinde. Der äussere Feind sind die Ukraine und die Länder, die die Ukraine unterstützen. Zum inneren Feind ist die LGBTIQ-Community geworden. Der Erfolg unseres Buches wurde als Anlass genutzt, um sie als Feindbild zu propagieren. Wir hätten nicht gedacht, dass unser Buch in der Art ausgenutzt wird.»
Zensur ist in Russland weiterhin offiziell verboten
Malisowa und Silwanowa wurden zu «ausländischen Agentinnen» erklärt, sie mussten aus Russland vor massiven Anfeindungen fliehen. «Zensur ist in Russland weiterhin offiziell verboten», sagt Malisowa. «Aber die Regierung verabschiedet Gesetze, die ihrem Wesen nach Zensurgesetze sind. Unser Verlag stellte den Verkauf unseres Buches Ende 2022 ein, weil er sonst eine hohe Geldstrafe bekommen hätte. Wir sind nun auf einer Art schwarzen Liste. Es kursieren in Russland Listen von Büchern, die aus Buchhandlungen verbannt werden sollen. Ein bekannter Journalist, Alexander Pljuschtschew, hat zum Beispiel solche Listen veröffentlicht, er hat sie von einem grossen Online-Buchhändler. Ich selbst habe keine Beweise dafür, dass solche Listen von der Regierung kommen. Aber es gibt einen Konsens in der russischen Gesellschaft, dass sie letzten Endes auf die russische Regierung zurückzuführen sind.»
Silwanowa fügt hinzu: «Wir wünschen uns weiterhin, dass auch russischsprachige Menschen unsere Bücher lesen können. Vielleicht gibt es ja irgendwann die Möglichkeit, unsere Bücher auf Russisch als E-Books zu vertreiben.»
Cosplay und Gedichte Durch das Internet und TikTok ist der Bekanntheitsgrad der Bücher sehr gross geworden, an allen staatlichen Restriktionen vorbei. «Die Leute haben sehr viele Videos zum Buch gemacht, Cosplay-Geschichten kreiert, Musik geschrieben oder Gedichte», so Silwanowa. «Das zeigt, dass dieses Buch bei den Menschen immer noch sehr beliebt ist und somit auch einen Einfluss hat.» Malisowa fügt hinzu: «Es geht in diesem Buch um Liebe, Freundschaft und Standhaftigkeit. Das ist genau das, was wir in diesen dunklen Zeiten brauchen.»
Anlässlich des CSD kam die Exilautorin Malisowa von Rostock, wo sie heute mit ihrem Mann lebt, nach Berlin und gab dem RBB in der Reihe «Queer-Format» ein Interview. Darin betont sie, dass die Gefühle und die Liebe zwischen schwulen Männern «gleich» seien wie die von Heterosexuellen. Dass diese Liebe jedoch gesellschaftlich geächtet wird, sei der Grund, wieso sie mit Silwanowa das Buch geschrieben habe. Denn sie wollte zeigen, was das mit allen Konsequenzen bedeutet. Es sei auch der Grund, warum das Buch in Russland verboten worden sei, so Malisowa. Denn ihr Buch habe für Heterosexuelle begreifbarer gemacht, wie falsch diese negativen Gefühle gegen Homosexuelle sind bzw. dass diese Gefühle absolut gleichberechtigt sind.
Ob sie die drei Bücher geschrieben hätten, wissend, was für einer Hetze sie deswegen in Russland ausgesetzt wurden, werden sie im RBB gefragt. Malisowa sagt: «Keine Frage.» Und weiter: «Wenn man in einem Land lebt, in dem die Rechte queerer Menschen derart unterdrückt werden, ist es unerträglich. Wir wollten zumindest ein bisschen die Situation verbessern, indem wir öffentlich bekannt machen, wie das so ist.»
Derzeit als schwuler Mann in Russland zu leben ist lebensgefährlich
Malisowa hat viele Kontakte zur queeren Community in Russland, allerdings zu einzelnen Freunden. «Das ist nicht die gesamte LGBTIQ-Community. Aber ich weiss, wie es meinen Freunden geht. Es sind Menschen, die ihr ganzes Leben unter sehr grossem Druck verbracht haben. Es sind sehr starke Menschen. Derzeit als (…) schwuler Mann in Russland zu leben ist lebensgefährlich. Von meinen Freunden kommen aber keine Beschwerden. Ich weiss, dass es nicht leicht für sie ist. Aber ich glaube, dass sie und viel andere aus der queeren Community in diesem Land überleben werden, weil sie die Stärke haben, alle Hindernisse zu überwinden. Ich versuche weiter, über sie und ihre Lage zu sprechen. Es gibt in Russland keine Demonstrationen oder Möglichkeiten, öffentlich auf die Lage queerer Menschen hinzuweisen, deshalb schreibe ich darüber, damit allen klar wird, wie es ist.»
Die starke Empathie, mit der Malisowa und Silwanowa über diese Lage schreiben, ist die Stärke von Band 1 und noch mehr von Band 2 der Jura-und-Wolodja.Trilogie. Es ist auch dieser gesellschaftliche Horror, den sie schildern, der ihre Bücher auf dem internationalen Male-Male-Romance-Markt singulär dastehen lässt.
Ob das absehbare Happy End in Band 3 dann in der Ukraine stattfinden kann – wofür die Autor*innen in «Du und ich und die Schwalben» mögliche Grundsteine legen – oder ob solch ein Happy End «für immer» nur im Ausland, in diesem Fall Deutschland, möglich sein wird, darf man gespannt abwarten.
Am Ende von «Du und ich und die Schwalben» hat Wolodja jedenfalls eine unverhoffte Verbündete in seinem unmittelbaren Umfeld, von der er Unterstützung nicht erwartet hatte. Die aber zeigt: Es geht, wenn man ehrlich zueinander ist und die Betonmauern einreisst, die die post-sowjetische Gesellschaft um queere Menschen gegossen hat. Und das ist eine gute Nachricht.
Die katholische Kirche hat die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele kritisiert. Diese habe Szenen enthalten, in denen das Christentum verspottet und verhöhnt wurde. Ein queerer Akt irritierte besonders (MANNSCHAFT berichtete).
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