Der Fall Róisín Murphy: Bitte alle mal tief durchatmen!
Es gibt einen Unterschied zwischen ungeschickt und transfeindlich, meint unser Autor
Róisín Murphy hat ein neues Album veröffentlicht. Dass darüber nun weniger gesprochen wird als über ihre vermeintliche Transfeindlichkeit, liegt an einer Äusserung bei Facebook. Dazu der Samstagskommentar*
Die irische Sängerin Róisín Murphy hat sich zum Thema Pubertätsblocker geäussert. Unter einem Post von Graham Linehan, einem Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor, der immer wieder als transfeindlich auffällt. Danach war ein Shitstorm gegen Murphy entbrannt, sie wurde ebenfalls als transphob kritisiert (MANNSCHAFT berichtete) und sie hat sich entschuldigt – was ihr viele jedoch nicht abnehmen.
Kein neues Phänomen: In der stets empörungsbereiten Social-Media-Gemeinde, auch in dem Teil, der sich der LGBTIQ-Community zurechnet, reicht oft schon ein unüberlegter Satz, und Teile der Community sehen sich bemüssigt, mit grösstmöglichen Kanonen auf Spatzen zu feuern. Auch Bette Midler, seit jeher eine Verfechterin queerer Rechte, hat das schon erlebt.
Die US-Sängerin und Schauspielerin hatte im Juli 2022, ebenfalls als Meinungsäusserungen zu einem Artikel (hier war es die New York Times), dass Frauen sich «nicht auslöschen» lassen sollten, und kritisierte Begriffe wie «Gebärende», «Menstruierende» und «Menschen mit Vaginas». Viele Fans fühlten sich dadurch angegriffen und nannten den Tweet «transphob». Dass sich cis Frauen nicht unter dem grausigen Begriff «Mensch mit Vagina» – entstanden im Bestreben, stets hyperinklusiv zu formulieren – subsummieren lassen wollen, verstehe ich wahnsinnig gut. Das macht weder Bette Midler noch mich transphob. Auch dann nicht, wenn Vertreter*innen der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich oder der SVP in der Schweiz gegen diese Begrifflichkeit ätzen. Denn sie nutzen diese sprachliche Kritik, um ihre grundsätzliche Ablehnung von trans Menschen zu ummänteln. Wollen wir Letzteres auch Bette Midler unterstellen?
Die reagierte damals mit den Worten: «Im Ernst, Leute, wenn irgendjemand, der diesen Tweet gelesen hat, denkt, dass ich irgendetwas anderes als Liebe für marginalisierte Menschen empfinde, dann geht zu Wikipedia und gebt meinen Namen ein.» Sie habe für Randgruppen gekämpft, solange sie denken könne.
Zum Fall Róisín Murphy: Sie hat nicht gesagt – ich fantasiere jetzt mal – , dass etwa alle Mitglieder der trans Community doof seinen und sie mit ihren Problemen bloss in Ruhe lassen mögen, weil sie Wichtigeres zu tun habe. Oder dass sie es gar nicht einsehe, dass sie die Pubertätsblocker mit ihren Steuergeldern finanzieren müsse (falls das überhaupt realistisch ist). Oder etwas vergleichbar gegen das Wohlergehen von trans Personen Gerichtetes.
Sie hat ihren Unmut oder ihren Ärger geäussert darüber, dass «Big Pharma» richtig gut verdiene an den Pubertätsblockern. Dass sich mit deren Einnahme für trans Jugendliche eine grosse Hoffnung und Linderung verbindet, hat Murphy ganz offenbar nicht zu Ende gedacht. Muss man deswegen das ganz grosse Transphobie-Fass aufmachen?
Zumal sie bei Facebook einen Kommentar verfasst hat; sie ist nicht hingegangen und hat proaktiv ein Pamphlet verfasst, mit der Ankündigung, nun mal allen die einzige wahre Wahrheit über die bösen Pubertätsblocker zu erzählen.
Ähnlich könnte man auch kritisieren, dass die Rüstungsindustrie sich am Ukraine-Krieg dumm und dusselig verdient (bereitet mir auch grösstes Unbehagen!). Aber damit ist man noch lange kein Putin-Versteher oder ein Feind der Ukraine oder lehnt deren territoriale Unversehrtheit ab.
Murphy bezeichnete die betroffenen trans Personen in ihrem Kommentar nicht besonders sachkundig als «mixed up kids», die man schützen müsse. Ja, sie hätte sich hier informieren können und sollen, dann hätte sie gewusst, dass Pubertätsblocker nicht automatisch böse sind. Dass sie sehr wohl positive Effekte haben, weil sie etwas das Selbtmordrisiko mindern. Das zeigt die bisher grösste US-Studie, die im Fachblatt New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde: Demnach würde sich durch geschlechtsangleichende Hormonbehandlungen die mentale Gesundheit von Jugendlichen, die sich als trans oder nicht-binär identifizieren, signifikant verbessern.
Wenn man nun aber die – zugegeben unglückliche oder nicht zu Ende gedachte – Äusserungen von Frau Murphy oder jene von Frau Midler, partout als transfeindlich verstehen will und als ebendies brandmarkt, stellt sich die Frage: Wie nennen wir dann Äusserungen, die wirklich transfeindlich sind?
Murphy hat nicht wie etwa Joanne K. Rowling Angst vor trans Personen geschürt und gesagt: «Wenn man einem Mann, der glaubt oder fühlt, eine Frau zu sein, die Türen von Badezimmern und Umkleidekabinen öffnet, dann öffnet man die Tür für alle Männer, die eintreten möchten.» Sie hat nicht, wie AfD-Frau Beatrix von Storch vor eineinhalb Jahren im Bundestag der trans Abgeordneten Tessa Ganserer das Frausein abgesprochen mit dem Worten: Sie bleibe «biologisch und juristisch ein Mann». Das ist tatsächlich und sogar vorsätzlich transfeindlich.
Ich bin auch sehr dafür, Transfeindlichkeit nicht nur beim Namen zu nennen, sondern zu ahnden und zu ächten, keine Frage. Aber müssen wir immer gleich an die Decke gehen und andere niederbrüllen, die nicht bis ins Detail unserer Meinung sind?
Wer nimmt Menschen, die bei der kleinsten Äusserung «Transphobie!» schreien, noch ernst, wenn sie mal einen echten Missstand anprangern wollen? Wer nimmt die Kritik noch für voll, wenn es wirklich brennt?
Und wer will sich eigentlich noch, ähnlich wie es die Damen Midler und Murphy über Jahrzehnte getan haben, für LGBTIQ stark machen, wenn man bei einer unüberlegten Äusserung bei X oder Facebook gleich so dermassen auf die Fresse kriegt?
Kurz: Ich wäre sehr dafür, dass wir alle mal tief durchatmen.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Das könnte dich auch interessieren
Post würdigt Keith Haring und «Golden Girls»-Star
Dies wurde jetzt in den USA für 2025 angekündigt
Von Newsdesk Staff
Österreich
Nach Eurogames: Wien fördert auch 2025 verstärkt LGBTIQ-Projekte
Die Eurogames in Wien hatten eine internationale Ausstrahlung. Vizebürgermeister Wiederkehr will auch deshalb künftig LGBTIQ-Projekte weiter fördern.
Von Newsdesk Staff
Kultur
Coming-out
«Schäme micht nicht»: Sänger Khalid outet sich
Der Grammy-Gewinner war zuvor von einem Kollegen als schwul beschimpft worden
Von Newsdesk Staff
Musik
News
Community
Wieder Trump: Was queeren Menschen in den USA jetzt Hoffnung macht
Es war alles andere als knapp: Mit klarem Abstand setzte sich der Republikaner Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen in den USA gegen die Demokratin Kamala Harris durch.
Von Newsdesk Staff
Drag
LGBTIQ-Rechte