40 Jahre AIDS und erste Therapien: «Ich war damals wie ein Impfverweigerer»
Der Umgang mit HIV hat sich im Laufe der Jahre verändert – unsere zwei Protagonisten haben es hautnah erlebt
Der 1. Dezember ist Welt-AIDS-Tag und in diesem Jahr ein besonderer Anlass: Vor 40 Jahren machte sich das HI-Virus erstmals in grossem Ausmass bemerkbar. Wir schauen zurück und sprechen mit zwei Männern, die mit dem Virus leben.
Die Stigmatisierung begann schon bei der Taufe. «Gay-Related Immune Deficiency» (GRID) nannten Ärzt*innen den mysteriösen Immundefekt, der 1981 erstmals in einem Bericht der US-amerikanischen Centers for Disease Control erwähnt wurde. Vor allem junge, bis danhin gesunde Männer litten plötzlich an schweren Krankheiten wie dem seltenen Kaposi-Sarkom. In den kommenden vier Jahrzenten würde sich das damals noch unbekannte Virus auf der ganzen Welt ausbreiten und über 35 Millionen Todesopfer fordern.
Bereits 1982 wurde der Begriff «GRID» dank dem US-Biologen Bruce Voeller in AIDS abgeändert («Acquired Immune Deficiency Syndrome»). Die Assoziation von HIV mit Homosexualität brannte sich jedoch ins kollektive Gedächtnis ein – und das hatte in vielerlei Hinsicht verheerende Folgen. So passte sie etwa haargenau ins Narrativ konservativer Christ*innen, die in der «Schwulenseuche» mit Genugtuung eine Strafe Gottes sahen. Ignoranz gegenüber dem Tabuthema HIV und in manchen Fällen ganz einfach Hass auf die Betroffenen führten dazu, dass diese wie Aussätzige behandelt wurden. Die Politik reagierte vielerorts nur sehr langsam auf die AIDS-Krise, da sie ja angeblich «nur» Schwule und andere Minderheiten wie Heroinabhängige betraf.
Die gleichgültige und zum Teil diskriminierende Haltung der Regierungen zwang die Betroffenen und ihre Verbündeten dazu, sich selbst zu helfen. Vor allem Organisationen, die den Patient*innen medizinischen und sozialen Beistand boten, nahmen zu Beginn eine äusserst wichtige Rolle ein. Dazu gehörten Gay Men’s Health Crisis (gegründet 1982 in New York), der Terrence Higgins Trust (1982 in London) und AIDES (1984 in Paris). Für mehr Aufklärung und Unterstützung der Kranken gründete sich 1983 in Berlin die Deutsche Aidshilfe, 1985 in Zürich die Aids-Hilfe Schweiz. Schnell wuchs das Bedürfnis, den Aktivismus zu politisieren und Druck auf die Regierenden aufzubauen. Besonders laut und erfolgreich war dabei der 1987 in New York gegründete Interessenverband ACT UP. Er bewirkte unter anderem eine Demokratisierung des Gesundheitssystems und beschleunigte das Erproben neuer Therapien.
Tabus brechen auf Der AIDS-Tod berühmter Persönlichkeiten wie derjenige von Rock-Ikone Freddie Mercury 1991 rüttelten die Gesellschaft auf (MANNSCHAFT berichtete). Das Virus konnte nicht länger ignoriert werden. Kino und Fernsehen tabuisierten HIV nicht mehr konsequent (MANNSCHAFT berichtete). Der Film «Philadelphia» (1993) mit Tom Hanks in der Hauptrolle thematisierte die Diskriminierung von AIDS-Kranken in den USA.
Parallel zu den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen half der medizinische Fortschritt über die Jahre, die Lage zu verbessern: 1984 isolierten französische Wissenschaftler*innen das HI-Virus, was fortan Tests ermöglichte. Als zudem klar wurde, wie das Virus übertragen wird, konnten Safer-Sex-Kampagnen durchgeführt werden (MANNSCHAFT berichtete). Antivirale Medikamente wie AZT verlängerten ab 1990 zumindest das Leben der Patient*innen – allerdings auf Kosten von extremen Nebenwirkungen. Erst 1995 sorgte ein Medikamentencocktail dafür, dass HIV für die meisten Betroffenen kein Todesurteil mehr war, sondern eine chronische Krankheit. Heute bestehen bei rechtzeitigem Behandlungsbeginn gute Chancen auf eine normale Lebenserwartung. Mit einer erfolgreichen Therapie ist HIV selbst beim Sex nicht übertragbar. Einen Weg zur Heilung gibt es jedoch weiterhin nicht.
Aktuell leben in Österreich rund 9000 Menschen mit dem HI-Virus, in der Schweiz über 16 000 Menschen und in Deutschland sind es knapp 100 000 – weltweit sind es mehr als 37 Millionen. Das «Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS» hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis 2025 95 % aller Infizierten ihren Status kennen und wiederum 95 % davon eine entsprechende medizinische Behandlung erhalten (MANNSCHAFT berichtete).
Das Virus im Schatten
Max lebt seit über 25 Jahren mit HIV. Aus Angst erzählte er lange niemandem davon und verzichtete auf eine Therapie – mit schlimmen Folgen.
«Bist wirklich ein Idiot!» Dieser an sich selbst gerichtete Tadel ging Max Krieg Ende des Jahres 1999 durch den Kopf. Ein positiver HIV-Test. Er musste sich vier oder fünf Jahre zuvor bei einer von zwei ungeschützten aktiven Analpenetrationen angesteckt haben. Ausgerechnet Max, ein AIDS-Aktivist der ersten Stunde.
Wir reisen noch weiter zurück in die Vergangenheit: 1981 erfährt die europäische LGBTIQ-Community von den ersten AIDS-Fällen in den USA. Die Nachrichten verängstigen und alarmieren vor allem schwule Männer. Doch die meisten hätten den Ernst der Lage damals noch nicht erkannt, erinnert sich der heute 75-jährige Max. «Viele dachten, es wären bloss die betroffen, die für promiskuitive Aktivitäten nach Los Angeles oder New York reisten.» Es dauerte eine Weile, bis klar war, dass AIDS alle betrifft.
Als Kondomschmuggler im Einsatz Max, der in der Nähe von Olten aufwuchs, lebte damals aus beruflichen Gründen in Lugano. Dort half er ab 1985 mit, die Aids-Hilfe Tessin aufzubauen. Er betätigte sich gar als internationaler Kondomschmuggler: In Italien waren die Präservative schwieriger zu bekommen, die Hemmschwelle, danach zu fragen, gross. Mit dem «Hot Rubber» produzierte die Aids-Hilfe Schweiz ausserdem ein speziell für den Analverkehr designtes Kondom. «Regelmässig schmuggelte ich einige Kartons davon in eine Mailänder Buchhandlung.» Auch organisierte Max anonyme HIV-Tests in Tessiner Spitälern. Ein Angebot, das vom Bundesamt für Gesundheit unterstützt wurde. Er selbst liess sich im Zuge von verdeckten Kontrollen dort mehrfach testen – immer mit negativem Resultat. «Das gab mir für die nächsten Jahre eine trügerische Sicherheit», sagt Max. Seinen nächsten Test würde er erst 1999 aufgrund von wiederkehrenden Zuckungen der Gesichtsmuskulatur machen.
Regelmässig schmuggelte ich einige Kartons mit Kondomen in eine Mailänder Buchhandlung
Das positive Testresultat hielt er geheim – aus Angst vor Stigmatisierung und weil es ihm peinlich war, dass ausgerechnet ihm das passiert ist (MANNSCHAFT berichtete). Max fasste ausserdem einen verheerenden Entschluss: Er verzichtete auf die damalige Standardtherapie mit drei Medikamenten, obwohl sein CD4-Wert bereits auf 200 abgesunken war. CD4-Lymphozyten sind für den Informationsaustausch zwischen den Abwehrzellen verantwortlich; gesunde Menschen haben davon 500 bis 1400 pro Mikroliter Blut. Ab 200 besteht ein hohes Risiko für schwere aidsdefinierende Krankheiten. Doch der Erfolg versprechende Medikamentencocktail passte seiner Ansicht nach nicht zu seinem Lebensstil. Max wollte seinem Körper, in dem er sich ja eigentlich gesund fühlte, keine «Chemie» zumuten. Stattdessen experimentierte er mit alternativen Heilmethoden, was er rückblickend sehr bereut. «Ich war damals wie ein Impfverweigerer von heute: Es gab ein Mittel, aber ich wollte es einfach nicht nehmen.»
«Es hätte viel schlimmer kommen können» Im Jahr 2002 erlitt er dann einen Zusammenbruch. Sein CD4-Wert lag zeitweise bei 20. Danach startete er die Dreiertherapie und sie war erfolgreich. Zwei Jahre später kam es jedoch zu vorübergehenden Verlusten der Sehkraft und schliesslich zu einem erneuten Zusammenbruch mit Einweisung ins Krankenhaus. Sein Chef wollte damals wissen, ob das etwas mit HIV zu tun habe – und Max gab ihm die ehrliche Antwort. Daraufhin versuchte man, ihn in die Invalidenrente auszulagern. Dank neuen Therapieerfolgen mit angepasster Medikation schaffte er es zurück in die Berufstätigkeit und konnte die Auslagerung verweigern. Heute lebt er so gut wie beschwerdefrei mit einem CD4-Wert von über 400.
Max, der seit 1989 in Bern wohnt, engagierte sich über die Jahre unter anderem bei den Homosexuellen Arbeitsgruppen Bern und bei Pink Cross. Ausserdem geht er nun offener mit seinem HIV-Status um. «Alles auch aus Dankbarkeit für mein zweites Leben, denn es hätte noch viel schlimmer kommen können.»
Das Virus im Rampenlicht
Mit Offenheit und Fitnessvideos gegen Vorurteile: Michael ist trotz HIV gesund, und das sollen alle erfahren.
Das Licht geht an und der Protagonist des Videos kommt gleich auf den Punkt: «Hi, ich heisse Michael, bin 20 Jahre alt und genau heute vor einem Jahr bekam ich die Diagnose HIV-positiv.» Der Clip, den der Linzer im vergangenen Jahr auf Facebook und Youtube gepostet hat, ist Aufklärung und Aufruf zum Handeln in einem.
«Mir geht es gut», sagt Michael Hofbauer, der als Programmierer von Industrierobotern arbeitet und sich selbst als «Fitnessfreak» und «Partyanimal» bezeichnet. Er postet auf Instagram Reisebilder und Workoutvideos, in denen er sich gerne auch mal oben ohne zeigt. Es scheint, als wolle Michael dem Virus demonstrativ klarmachen, dass er sich von ihm nicht einschränken lässt. Damit erklärt er zugleich der Öffentlichkeit, dass HIV-Betroffene heute ein glückliches, erfülltes und gesundes Leben führen können. Eine Tablette täglich müsse er noch einnehmen – ansonsten habe das Virus keinerlei Einfluss auf seinen Alltag.
Ein Gesprächspartner zu haben ist Balsam für die Seele
Die Diagnose bekam der heute 22-Jährige am 18. Februar 2019. Sein damaliger Freund erhielt ein positives Testergebnis, woraufhin sich auch Michael testen liess. Da seine Infizierung nur kurz davor passiert war, stellte sich sein erster Test noch als negativ heraus. «Erst nach einigen Tagen, als sich das Virus genug vermehrt hatte, konnte man es nachweisen», erklärt Michael. «Dann starteten wir sofort mit der Therapie.» Dass er so früh handeln konnte, sei «Glück im Unglück» gewesen. «Aber zuvor hatte ich zwei Wochen lang bangen müssen, ob ich mich nun infiziert hatte oder nicht.» Diese Ungewissheit sei eine Qual gewesen. Während dieser Zeit habe er viel über sich und seine Situation nachgedacht, sich mit dem Thema HIV auseinandergesetzt – niemals aber mit seinem Schicksal gehadert. «Solche Dinge können nun mal passieren. Man sollte, egal wie schlecht oder frustrierend es ist, das Beste daraus machen und sein Leben mit Freude weiterleben!»
«Ich wusste zu wenig über HIV» Als nach dieser Zeit der Ungewissheit der Bescheid kam, dass Michael HIV-positiv ist, war sein erstes Gefühl tatsächlich Erleichterung. Denn jetzt wusste er, woran er war, und konnte sich damit arrangieren. «Ich wusste davor definitiv zu wenig über HIV», sagt er heute rückblickend. Das treffe auch auf unsere Gesellschaft zu. Deshalb habe er es sich zur Aufgabe gemacht, über das Thema zu reden. Er will sich als Ansprechperson und Repräsentant für Betroffene einsetzen und alle anderen über HIV aufklären. Wie konsequent und direkt Michael diese Aufgabe in Angriff nimmt, konnte man etwa an der diesjährigen Vienna Pride sehen. Dort hatte sich der Linzer folgenden Schriftzug auf seinen Oberkörper geschrieben: «Fragen zu HIV? Frag doch einen Betroffenen.»
Dank dieser Offenheit, mit der er letztlich auch Diskriminierung bekämpfen möchte, komme es immer wieder zu spannenden Gesprächen. «Viele wollen wissen, wie denn heute der Verlauf dieser Infektion ausschaut und ob ich vielleicht daran sterben werde», erzählt Michael. Er hat festgestellt, dass junge Menschen vorurteilsfreier mit dem Thema umgehen als ältere. Das liege wohl daran, dass diese Generation die schlimmsten Jahre der AIDS-Krise miterlebt habe und davon geprägt wurde, vermutet er.
Einsatz gegen Ausgrenzung Diese Tendenz zeigt sich auch in den Reaktionen aus seinem Umfeld: Während seine Freund*innen nach dem ersten Schrecken schnell verstanden haben, dass es Michael nicht schlecht gehen wird, brauchten seine Eltern länger, um den Schock zu verdauen. Sie mussten erst lernen, dass die Medizin Fortschritte gemacht hat und ihr Sohn weiterhin ein normales Leben führen wird.
Diese Art von Aufklärung wünscht sich Michael. Und er findet, die Politik müsse dabei mithelfen – etwa mit dem Finanzieren von Workshops an Schulen und in Firmen. Der Umgang mit HIV und chronischen Krankheiten sei zwar besser geworden, aber es sei noch nicht alles so, wie es sein sollte. Er selber biete durch den offenen Umgang mit seiner Infektion zwar weniger Angriffsfläche, doch immer wieder vernehme er, wie HIV-positive Menschen von Ärzt*innen oder Berufskolleg*innen diskriminiert würden. Selbst in der LGBTIQ-Community komme es zu Ausgrenzung. Das dürfe man nicht akzeptieren.
Michael will sich deshalb weiterhin engagieren – aufgeschlossen und unverkrampft. Bereits kleine Gesten können dabei grosse Wirkung zeigen. «Nur schon einen Gesprächspartner zu haben, der zuhört und sie nicht verurteilt, ist Balsam für die Seele der Betroffenen.»
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