«Pride»: Neuer Roman über den Anfang einer weltweiten Bewegung
Kann man die Geschichte der Stonewall Riots jungen Leser*innen als Lovestory vermitteln?
Die erfolgreichen deutschen Nachwuchsautoren Christian Handel und Andreas Suchanek haben sich mit schwulen Fantasy-Geschichten («Rowan & Ash») bzw. Male-Male-Romance («Stolen Kisses») einen Namen gemacht. Jetzt erscheint ihr Gemeinschaftsprojekt «Pride Began on Christopher Street»: ein «historischer» Roman rund um die Ereignisse vom Sommer 1969 in New York.
Der Piper-Verlag veröffentlicht das Buch in der Reihe «Schicksalsmoment der Geschichte». Ziel ist es, Leser*innen auch ausserhalb der LGBTIQ-Bubble zu erklären, worum es beim Schlagwort «Stonewall» und «Christopher Street Day» eigentlich geht, wenn im Sommer jetzt wieder überall die CSD-Paraden durch die Strassen ziehen.
Christian Handel und Andreas Suchanek verpacken die historischen Ereignisse von damals in eine bittersüsse Liebesgeschichte zwischen dem New Yorker Polizisten Jake, der bei einer Razzia des Lokals Stonewall Inn den Aktivisten Finn trifft – und ihm ermöglicht zu flüchten. Daraus entwickelt sich schnell eine Freundschaft. Und mehr. Was beim obrigkeitshörigen und verheirateten Jake zu einem Umdenken führt in Bezug aufs Verhalten der Polizei, zu den Gesetzen gegen Homosexuelle und zu seinen eigenen Sehnsüchten.
MANNSCHAFT traf die beiden Autoren – die aktuell aus Lesetour quer durch Deutschland unterwegs sind – zum Interview.
Auf dem Cover eures Buchs steht: «Roman über den Anfang einer weltweiten Bewegung». Was ist denn diese «Bewegung» genau? Christian Handel: Es geht natürlich grundsätzlich um den Kampf für die Gleichberechtigung von queeren Menschen. Deshalb erörtern wir im Roman, dass es schon vor den Stonewall Riots 1969 wichtige Bewegungen und Aktionen gab, dass aber im Sommer 1969 das Ganze nochmal mächtig neu Fahrt aufgenommen hat und wie ein Hexenkessel explodiert ist. Wir erzählen in unserem Buch, wie die Menschen damals – im New York der späten 1960er Jahre – gelebt haben und warum der gesellschaftliche Druck in diesem Sommer so gross geworden war, dass es zum Knall kam.
Warum interessiert es auch deutschsprachige Leser*innen, was damals in den USA passierte – was ist für uns hierzulade wichtig daran? Warum erzählt ihr keine deutsche LGBTIQ-Geschichte? Andreas Suchanek: Wir alle sprechen vom Pride Month, wir alle sprechen von den Demos, die über den Sommer in ganz Deutschland stattfinden. Aber viele Ottonormalverbraucher*innen wissen gar nicht, wo diese Pride-Paraden herkommen. Dem wollten wir uns mit unserem Buch widmen und deutlich machen: Das, was wir heute sehen, geht zurück auf einen Ursprung, in einer Zeit, als das alles noch komplett anders war. Was für viele heute Feiern und Freiheit und Vielfalt bedeutet, gab es damals nicht und wurde durch die Stonewall Riots erst in Gang gesetzt.
Die sSchwul-lesbische Befreiungsbewegung wurde ja in Deutschland eher von Rosas von Praunheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt» Anfang der 1970er Jahre losgetreten, nicht durch Stonewall. Das hat zuletzt das Schwule Museum mit der Ausstellung «Love at First Fight» verdeutlicht. Warum lohnt es trotzdem, die internationale Variante zu erzählen? Handel: Weil’s international der Moment ist, den man mit dem CSD verbindet. Es sollte kein Buch über schwul-lesbische Rechte sein, sondern über den Anfang des Christopher Street Days. Und der liegt nun mal in den USA. Ich finde es auch total spannend, was in Deutschland passiert ist. Aber unser Roman soll ein sehr breites, auch heteronormatives Publikum ansprechen. Und das verbindet mit New York und dem Stonewall Inn mehr als mit Rosa von Praunheim und seinem Film von 1971. Was nicht heissen soll, dass die deutsche queere Geschichte nicht auch viele spannende Ansätze für tolle Romane bieten würde, im Gegenteil.
«Pride Began on Christopher Street» ist kein Sachbuch, sondern ein Roman … Suchanek: Es gibt wechselnde Perspektiven. Wir haben zwei Hauptfiguren im Buch, wir erzählen einmal die Geschichte von jemandem aus der Community, und einmal die eines Polizisten aus dieser Zeit, der selbst schwul ist und aus einem konservativen Elternhaus kommt. Durch die Razzien, an denen er teilnehmen muss, wird er mit den Folgen seines Tuns konfrontiert. Und beginnt Dinge zu hinterfragen.
Handel: Das ganze Wissen, das wir vermitteln wollen, die historischen Momente, die haben wir eingebettet in eine Liebesgeschichte zwischen Finn und Jake, die Liebesgeschichte von zwei Männern um die 30. Es ist also kein Young-Adult-Roman. (Auch wenn ich mich total freuen würde, wenn auch junge Leser*innen zugreifen würden.)
Ihr sagtet, viele heteronormative Menschen wüssten nicht, was die Hintergründe des CSD seien. Wie ist das mit jungen queeren Menschen, wissen die das? Handel: Ich find das schwer zu beurteilen, weil die Bubble, in der ich mich bewege, stark aktivistisch geprägt ist. Und diese Leute wissen das natürlich. Ich glaube aber schon, dass viele jüngere Queers es eben nicht wissen. Woher sollten sie auch? Entweder sie recherchieren es bewusst oder haben einen Film gesehen – aber davon kommt dann meist nur ein eher oberflächliches Wissen.
Ich glaube, dass viele jüngere Queers es eben nicht wissen. Woher sollten sie auch?
Suchanek: Wir haben bei unserer Recherche gemerkt, wie wenig Material es dazu auf Deutsch gibt. Auf dem amerikanischen Markt existieren unendlich viele Publikationen (MANNSCHAFT berichtete), aber überraschenderweise hierzulade sehr wenig. Wir versuchen da eine Lücke zu füllen.
Du sagtest, Leute in deiner queeren Bubble wüssten schon, was Stonewall ist. In dieser Bubble haben heute auch viele eine stark ideologisch geprägte Vorstellung, so dass es bei jungen Aktivist*innen Mythen gibt, wer den «ersten Steinwurf» für sich beanspruchen darf. Diese Mythen clashen oft mit den Erfahrungen und Narrativen älterer Personen. Dazu sind inzwischen fast Glaubenskriege ausgebrochen. Wir geht ihr damit um? Handel: Es ist super, dass du das ansprichst, denn das hat uns echt lange beschäftigt. Ich hatte mich zwar schon länger mit Stonewall auseinandergesetzt, aber ich war überrascht bei der Recherche zum Buch, wie viel ich noch dazu gelernt habe beim Einlesen. In unserem Nachwort gehen wir darauf ein, dass es sehr unterschiedliche Erzählungen zu Stonewall gibt, die teils total widersprüchlich sind. Wer hat den ersten Stein geworfen? Oder das erste Glas? Oder ist überhaupt etwas geworfen worden? War es eine weisse Person, eine Person of Color, war es ein schwuler Mann, eine trans Person, eine Lesbe … ? Das Schöne ist, dass wir aus der Sicht von zwei fiktiven Charakteren sprechen, Finn und Jake, die in dieser Nacht einfach mittendrin stehen. Wir lassen sie Dinge sehen und Vermutungen anstellen. Wir lassen gleichzeitig Unsicherheiten zu, wenn unsere Figuren im Nachgang zu dieser Nacht darüber diskutieren. Wir erzählen eine Version der Geschichte, weil es unmöglich ist bei so vielen Widersprüchen, «die» alleingültige Wahrheit darzustellen. Schliesslich waren wir selbst nicht dabei. Wir haben viele Sachbücher gelesen, Youtube-Videos geguckt, Podcasts gehört, wo Zeitzeug*innen zu Wort kommen – und selbst die widersprechen sich. Wir haben diese Widersprüche mit in die Kapitel des Romans aufgenommen.
Suchanek: Dass es diese unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen gibt, darauf weisen wir wie gesagt explizit im Nachwort hin. Natürlich ist es in einem solchen Chaos wie den Stonewall Riots nachvollziehbar, dass viele Menschen etwas anderes gesehen und erlebt haben. Der Verlag hat uns da grosse Freiheiten gelassen.
Was ihr beschreibt, ist sehr ähnlich wie das, was Roland Emmerich 2015 mit seinem «Stonewall»-Film versucht hat. Dafür ist er von amerikanischen LGBTIQ-Aktivist*innen zerrissen worden (MANNSCHAFT berichtete). Der Film ist gefloppt. Der Vorwurf an Emmerich lautete, er habe die Geschichte aus Sicht eines weissen jungen cis Mannes erzählt. Und obwohl Emmerich alles andere drumherum durchaus korrekt darstellt, wurde es nicht akzeptiert, dass er nicht Marsha P. Johnson in den Mittelpunkt gestellt hat. Dass er nicht die trans Community als die eigentlichen Initiatoren der Riots gezeigt hat. Habt ihr Angst, dass euch euer Buch genauso um die Ohren geknallt wird, wie das Emmerich mit seinem Film passiert ist? Handel: Ich bin schon gespannt, wie unsere queeren Leser*innen auf unser Buch reagieren. Wir haben uns sehr bewusst dafür entschieden, unsere Geschichte aus der Sicht von zwei weissen schwulen cis Männern zu erzählen, weil wir das selbst sind und das Gefühl hatten, bei einem auch für uns so emotionalen Thema den Protagonisten am gerechtesten zu werden. Wir haben im Figurencast aber auch genderfluide Charaktere, Latinas und Latinos usw. Was wir aus dem Roland-Emmerich-Debakel gelernt haben ist: dass wir es nicht so darstellen, als würden Finn und Jake ganz vorn in dieser Bewegung stehen und praktisch die Stonewall Riots initiieren. Vielmehr beobachten sie aus der Masse heraus und nehmen hoffentlich die Lesenden mit.
Wer wirft denn bei euch den ersten Stein? Handel: (lacht) Dazu musst du das Buch lesen!
Suchanek: Das Buch erscheint in der Reihe «Schicksalsmomente der Geschichte». Da hoffe ich, dass auch viele Heteros nach dem Buch greifen. Ich habe in meinem eigenen sehr grossen Heterofreundeskreis gemerkt, dass jedes Mal, wenn ich vom CSD spreche, keinerlei Hintergrundwissen vorhanden ist. Die wissen, dass es da jedes Jahr eine Parade gibt. Aber das war’s. Ich hoffe, dass unser Buch ihnen klar macht, wie hart diese Rechte, die wir heute haben, erkämpft wurden. Und dass davor viel Ausgrenzung und echt üble Sachen passiert sind. Klar kann es sein, dass unser Buch vom ein oder anderen in der Community nicht so gut aufgenommen wird, wegen bestimmter Sichtweisen. Aber wir haben gemacht, was wir konnten.
Handel: Und wir müssen damit leben, dass das halt unsere Variante der Geschichte ist, die wir nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben haben. Ich sage nicht, dass unser Buch perfekt sei. Es ist so perfekt, wie wir es zu diesem Zeitpunkt machen konnten. Und wir lernen immer gern dazu. Soll heissen: Wenn es zu einer Diskussion kommt, hoffe ich, dass diese nicht unter der Gürtellinie abläuft. Das wäre schön.
Es gibt einen grossen Male-Male-Romance-Markt, der besonders bei (heterosexuellen) Frauen als Leser*innen beliebt ist. Würdet ihr eure Geschichte von Finn und Jake als MM Romance bezeichnen? Suchanek: Im Fokus steht für mich die Gesellschaft damals und die gesellschaftliche Entwicklung sowie die Einbettung der beiden Hauptfiguren in ihr jeweiliges Umfeld, das sie prägt. Die Romance läuft dabei mit und gibt der Geschichte eine starke Schattierung. Schliesslich ist die Lovestory das, was die beiden zueinander zieht. Und das ist auch explizit …
Sie haben Sex …? Suchanek: (lacht) Genau. Ich hatte das zuerst sehr vorsichtig beschrieben, und dann kam die Lektorin und sagte: «Du musst nicht so drumherum lavieren, du kannst auch gern richtig beschreiben, was sie tun.» Da wurden die Szenen nochmal anders. (lacht) Mir wurde bei meinem früheren Roman «Stolen Kisses» geraten, nicht zu explizit zu sein, weil es Leser*innen «verschrecken» könnte. Hier war das anders.
Handel: Wir sprechen aber nicht den typischen MM-Romance-Markt an. Im Buchladen liegen wir eher irgendwo zwischen Unterhaltungsroman und Sachbuch. Wo Leute zugreifen, die’s nicht gewohnt sind, dass links und rechts das Sperma spritzt.
Es sollen auch Leute zugreifen, die’s nicht gewohnt sind, dass links und rechts das Sperma spritzt
Was sind denn die anderen Schicksalsmomente in dieser Sachbuchreihe des Piper Verlags? Handel: Es gibt was zur Sturmflut in Hamburg, zum Stauffenberg-Attentat, zum Bau der Berliner Mauer und zum Thema Flucht aus der DDR. Wir haben die bisher internationalste Geschichte.
Was war für euch die grösste Herausforderung, die Welt von 1969 in New York einzufangen – das Lebensgefühl von damals? Handel: Gerade durch die unterschiedlichen Perspektiven können wir den Leser*innen schon nahebringen, wie die Menschen damals gelebt haben. Klar haben wir uns gefragt: Wo fängt man da an? Die Black-Panther-Bewegung war wichtig, die Frauenrechtsbewegung … Das konnten wir gar nicht alles einfangen, weil wir letztlich doch sehr nahe an unseren Figuren bleiben. Was ich schwierig fand, waren absurde Kleinigkeiten, z.B. ob’s 1969 schon elektrisch Kaffeemaschinen gab oder nicht. (lacht) Zu den grossen historischen Sachveralten findet man viele englischsprachige Bücher. Aber zu solchen Alltagsfragen nicht. Andi hat noch entdeckt, dass der Walkman in jenem Jahr erfunden wurde und hat das noch einbauen können.
Suchanek: Auch die Frage, welche Musik in jenem Sommer in der Jukebox des Stonewall Inn lief, hat uns beschäftigt. Wir haben Quellen gefunden, wo das geklärt wird. Aber es sind Internetquellen. Da weiss man nie, wie verlässlich die sind. Ich war 1969 nicht vor Ort und habe die Jukebox nicht fotografieren können. – Unser Buch ist natürlich für ein Publikum in Deutschland, d.h. wie bringt man in einem freien und demokratischen Deutschland jemand die Beklemmungen von damals näher? Die Enge jener Zeit? Das ist an der heutigen Lebenswirklichkeit nicht so nah dran, andererseits muss man immer dran erinnern, dass auch bei uns heute Menschen in extrem konservativen Verhältnissen aufwachsen. Fussballer outen sich immer noch nicht, weil sie Angst haben, ihren Vertrag zu verlieren (MANNSCHAFT berichtete). Nicht weit weg in Russland und Ungarn passieren schreckliche Dinge in Bezug auf LGBTIQ. Es gibt also genug Anknüpfungspunkte.
Handel: Auch wenn ich’s toll finde, dass wir jetzt mit unserem Roman nach Stonewall gereist sind, finde ich queere deutsche Themen genauso spannend und würde dazu gern noch mehr schreiben in der Zukunft.
Gibt’s in eurem Buch eine deutsche Perspektive oder deutsche Figur? Handel: Wir wollten das erst machen. Haben uns dann aber dagegen entschieden.
Suchanek: Wir wollten nicht, dass sich das dann erzwungen anfühlt. So als würden wir eine Checkliste abarbeiten.
Bis wann geht eure Stonewall-Geschichte? Handel: Wir enden mit der ersten Pride-Parade in New York 1970.
Gibt’s ein Happy End? Handel: Unsere Lektorin hat zu uns gesagt, angesichts der Tatsache, wie viel Schlimmes im Buch passiert, würden verdammt viele Leute ein Happyend kriegen. Ob das denn realistisch sei? Wir haben geantwortet: Es ist vielleicht nicht hundertprozentig realistisch, aber in Anbetracht der Erzähltradition, die wir bei queeren Geschichten in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, wo vieles so tragisch ausgeht, haben wir versucht, unsere Figuren an einen schönen Punkt in ihrer Geschichte zu verlassen.
Es soll mit einem Gefühl von Hoffnung weitergehen, dem Gefühl einer besseren Zukunft
Ihr wollt Hoffnung vermitteln? Suchanek: Ja, wir wollten, dass unser historischer Roman positiv endet und wir die Leser*innen mit einem Lächeln entlassen. Damit man mit einem Gefühl von Hoffnung weitergeht, dem Gefühl einer besseren Zukunft. Denn gerade Stonewall stellt in der Hinsicht einen Wendepunkt dar.
Während des Pride-Monats ist die Regenbogenflagge überall zu sehen. Der Designer Gilbert Baker hat sie geschaffen (MANNSCHAFT berichtete).
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