Darum wird Russlands bekanntester schwuler Komponist gecancelt
Jetzt wird auch Pjotr Tschaikowsky wegen des Ukraine-Konflikts nicht mehr gespielt
Der Ukraine-Krieg und der Boykott Russlands durch westliche Länder wirkt sich auf viele Bereiche aus. Auch auf den Klassik-Betrieb – und nun auf den berühmtesten schwulen Komponisten des Landes: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893).
Erst wurde der Dirigent Waleri Gergijew wegen seiner Putin-Nähe aus Konzerten weltweit ausgeladen und dann von verschiedenen hochdotierten Posten gefeuert. Dann wurde die russische Starsopranistin Anna Netrebko überall ausgeladen, weil sie sich nicht ausreichend von ihrem Förderer Putin distanzierte (MANNSCHAFT berichtete über beide Fälle).
Und jetzt trifft es laut Berichten des BBC Music Magazines einen längst toten Komponisten, der mit Putins Politik ganz sicher nichts zu tun hat. Mehr noch: Wegen des Verbots von «Homopropaganda» darf seit Jahren nicht mehr darüber berichtet werden, dass Tschaikowsky einst ein durchaus glücklicher Homosexueller war, der seinem gleichfalls schwulen Bruder Modest in vielen Briefen von seinen erotischen Eskapaden quer durch Europa erzählte. In Russland darf Tschaikowsky offiziell nur «unglücklich schwul» gewesen sein – jemand, den seine sexuelle Orientierung in den Selbstmord trieb. Alle Materialien, die etwas Gegenteiliges besagen, werden seit längerem unter Verschluss gehalten, Filmteams aus dem Ausland dürfen nicht in entsprechenden Archiven drehen, wenn Gefahr besteht, sie könnten etwas anderes verbreiten.
Cardiff Philharmonic Orchestra sagt Konzerte ab Nun sagte das Cardiff Philharmonic Orchestra ein Konzert mit Musik Tschaikowskys am 18. März ab, was in sozialen Medien zu hitzigen Debatten führte. Denn was kann ausgerechnet Tschaikowsky – und was können andere russische Künstler*innen der Vergangenheit – für die Invasion der Ukraine und für einen Mann für Putin?
Allerdings sind die Hintergründe für die Absage in Wales anders, als verschiedene Medien irreführend kolportierten. Teils konnte man lesen, «sämtliche Konzerte» mit Musik von Tschaikowsky seien «in der aktuellen Saison» in Cardiff abgesagt worden. Stattdessen wurde eine Aufführung von Tschaikowskys berühmter «1812 Ouvertüre» abgesagt, die mit Kanonenschüssen und Blechfanfaren die Schlacht der Russen gegen Napoleon zelebriert. Und den Sieg der russischen Armee unter Einsatz der alten Zarenhymne musikalisch nachzeichnet.
Diese Ouvertüre sollte zusammen mit dem gleichfalls militaristisch angehauchtem «Slawischen Marsch» gespielt werden. Der Direktor des Orchesters in Cardiff, Martin May, erklärte, dass solche Musik vorm Hintergrund der aktuellen Kämpfe in der Ukraine als «nicht angemessen» angesehen werde. Die ebenfalls fürs Programm vorgesehene Zweite Symphonie Tschaikowskys in c-Moll trägt den Untertitel «Kleinrussische». Dieser Titel könne von Ukrainern als «verletzend» betrachtet werden, sagte May. Deshalb wurde das gesamte Programm ausgetauscht, es gebe aktuell keine Pläne, es zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Auf die Idee, ein wegen des Militärlärms, Marschcharakters und «(klein)russischen» Themas unpassend empfundenes Tschaikowsky-Programm einfach gegen andere berühmte Stücke des Komponisten auszutauschen – die «Romeo und Julia»-Ouvertüre, Musik aus «Schwanensee» bzw. «Nussknacker», das Violinkonzert, ganz zu schweigen von fünf weiteren Symphonien oder kurzen Konzertstücken wie dem «Capriccio Italien» Op. 45 – kam in Cardiff scheinbar niemand.
Stattdessen wurde Musik von John Williams («The Cowboys Overture»), Edward Elgar («Enigma Variationen») und Dvořáks Achte Symphonie als Ersatz angesetzt. The Guardian berichtet darüber, dass russische Staatsmedien diesen Schritt als eine Art «Bücherverbrennung» bezeichneten, während viele im Westen zumindest von einer «Überreaktion» sprachen. Ist Tschaikowsky nun Opfer von «Russophobia», fragt der Guardian? Die Zeitung zitiert einen britischen Klassikexperten, der sagt, das Vorgehen in Bezug auf Tschaikowsky in Cardiff habe ihn zumindest «verstört», und er finde es «bedauerlich» («disturbed and sorry»).
Schweizer Gegenakzent Einen komplett anderen Ansatz in Bezug auf Russland/Tschaikowsky verfolgt das Schweizer Fernsehen und setzt einen Gegenakzent. Es stellt bis zum 4. April den Film «Die Akte Tschaikowsky» online bereit, vom schwulen Berliner Regisseur Ralf Pleger. (Alle ausserhalb der Schweiz können den Film über Vimeo sehen.)
Diese mit einem ECHO Award ausgezeichnete Doku skizziert unter Verwendung der Briefe und Tagebücher Tschaikowskys dessen Liebesleben und zeigt, wie sich seine homosexuellen Sehnsüchte in den Stürmen seiner Musik widerspiegeln.
Dirk Johnston spielt dabei den Liebhaber des Komponisten und hat eine eindrucksvolle Szene unter der Dusche. Ausserdem singt er das wohl berühmteste Lied Tschaikowskys: «Nur wer die Sehnsucht kennt.»
Ralf Pleger sagte bei der Erstveröffentlichung des Films in einem Interview: «Es gibt eine prinzipielle Berührungsangst, nicht nur bei Russen. Auch viele im Westen wollen nicht zur Kenntnis nehmen, wie sexuell aktiv Tschaikowsky war. Das gilt genauso für Musikwissenschaftler, die fürchten, als ‹unseriös› abgestempelt zu werden, wenn sie sich aufs Sexuelle stürzen. Sie sagen: ‹Was nützt es, etwas über Tschaikowskys Sexualpraktiken zu wissen, um die 4. Symphonie zu verstehen?› Da werden viele antworten: ‹Es nützt gar nichts.› Natürlich gibt es tausend Möglichkeiten, Tschaikowskys Musik zu verstehen. Ich gehe in meiner Doku ganz anders an die Sache ran.»
Wie genau erklärt Pleger so: «Es ist kein Film über Tschaikowsky-den-Komponisten, sondern ein Film über Tschaikowsky-den-Menschen, der mit seiner Sexualität gerungen hat. Diese Geschichte zu erzählen hat absolute Berechtigung, aber sie gehört nicht unbedingt in eine musikhistorische Kategorie, sondern in eine sozialhistorische. Und da frage ich mich schon: Wieso hat nicht schon längst jemand Tschaikowskys Briefe herangezogen, um Einblick zu gewinnen in die schwule Szene in Russland im 19. Jahrhundert und in anderen europäischen Städten, die Tschaikowsky bereist hat und deren Möglichkeiten für schwulen Sex er ausgiebig geschildert hat?»
Synchronsprecher von Michael Fassbender Die Briefe zeigen ein facettenreiches LGBTIQ-Leben. Nochmals Pleger: «Man weiss, dass es in Moskau und St. Petersburg Badehäuser gab, die als Treffpunkte für Schwule bekannt waren. Man weiss, dass es über schwule Kreise möglich war, sich neue Bekanntschaften zu organisieren. Der Eindruck, den die Briefe hinterlassen, ist der, dass Tschaikowsky sich mit Fragen zu seiner Sexualität intensiv auseinandergesetzt hat und dass dieser Kampf auch in sein Schaffen fliesst.»
Gelesen werden die Brief im Film übrigens von Norman Matt. Er ist bekannt als Synchronsprecher vieler Hollywoodstars, u.a. Michael Fassbender. Was aber der entscheidende Kick sei, um die emotionale Wucht der Geschichte zu spüren, sei die Musik, so Pleger.
Das Schweizer Radio hat sich derweil auch der Frage gewidmet, wieso im Klassikbetrieb so viele sich verweigern, über LGBTIQ-Aspekte in den Biografien von Komponist*innen und anderen Künstler*innen zu sprechen. Moritz Weber hat dazu einen ganzen Podcast gemacht mit dem Titel «Straightwashing von Künstlern» und bespricht auch das Beispiel Tschaikowsky mit der Tschaikowsky-Expertin Kadja Grönke, Herausgeberin des neuen Buchs «Musik und Homosexualitäten» (MANNSCHAFT berichtete).
Grönke berichtet, dass es erst vor kurzer Zeit einen Eklat bei einer Tschaikowsky-Tagung gab, als der Kölner Musikwissenschaftler Ulrich Linke in einer Analyse der Lieder auf die homosexuellen Bezüge einging. Ein russischer Forscher verliess daraufhin laut protestierend den Saal.
Und nun fegt der Ukraine-Konflikt Tschaikowsky von den Konzertpodien? Zumindest in Cardiff sei dies eine «one-off decision», sagt Martin May. Im Sommer und Herbst 2022 plane man durchaus Konzerte mit russischer Musik von Rimski-Korsakow, Prokofjew und Rachmaninow, wird May im Magazin Classical Music zitiert.Tschaikwosky fehlt in der Auflistung allerdings weiterhin, obwohl er einer von Mays «Lieblingskomponisten» sei.
Im Gegensatz zu Gergijew und Netrebko hat Tschaikowsky keine Chance, sich öffentlich von den aktuellen Vorgängen zu distanzieren, wie das viele lebende russische Künstler*innen durchaus getan haben, etwa die Dirigenten Wassili Petrenko und Thomas Sanderling, aber auch der Pianist Alexander Malofejew, um nur einige zu nennen.
Kein Einzelfall Handelt es sich in Cardiff um einen «one-off»-Vorfall, der sich nur auf dieses konkrete Programm bezieht? In einem Kommentar für den Bayerischen Rundfunk schreibt Klassikexperte Peter Jungblut: «Im polnischen Stettin war Tschaikowsky bei einem Konzert ebenfalls durch Antonín Dvořák und Beethoven ersetzt worden, in Bydgoszcz wurde Tschaikowskys Oper ‹Eugen Onegin› zum Auftakt der Herbstsaison abgesagt. (…) In Berlin hatte das Rundfunk-Sinfonieorchester bei einem Konzert den ‹Slawischen Marsch› gegen eine Hymne des ukrainischen Komponisten Mychajlo Werbyzkyjs ausgetauscht.»
Wie geht’s jetzt also weiter? Darüber tobt im Netz eine heftige Diskussion, und diese wird wohl so schnell nicht verstummen. Fachleute verweisen laut Bayerischem Rundfunk darauf, dass die Entscheidung, Tschaikowsky wegen des Ukraine-Konflikts von Programmen zu streichen, «doppelt absurd» sei, weil der Komponist viel Zeit in der Ukraine verbracht habe und gern ukrainische Volksweisen in seine Werke integrierte. Peter Jungblut schreibt sogar, Tschaikowsky «liebte die Ukraine». Und doch meinen viele Menschen derzeit, Tschaikowsky «geht gar nicht» (so die Überschrift des BR-Beitrags).
Und so ist Tschaikowsky wieder einmal ein Komponist, der zwischen die Fronten gerät. Allerdings konnte nicht einmal Putins «Homopropaganda»-Verbot die Popularität der Sechsten Symphonie in Russland brechen, einem Stück, dessen homoerotischen Aspekten Klaus Mann einst einen ganzen Roman widmete («Symphonie Pathétique»).
Wie es im Westen weitergeht, muss man abwarten.
Dass sein Blockbuster, das Klavierkonzert Nr. 1, dauerhaft zum Verstummen gebracht werden könnte, darf jedenfalls bezweifelt werden. Damit hat Tschaikowsky einen der grössten Hits der Klassikwelt geschaffen, mit einer Melodie gleich zu Beginn, die er seinen vielen Kritiker*innen um die Ohren haut, die immer wieder meinten, seine Musik sei zu «sentimental», «kitschig» und «verweichlicht». Diese Melodie ist ein Selbstbehauptungsmoment, dessen Kraft die Genialität Tschaikowskys spiegelt.
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