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«Musik und Homosexualitäten» – Kampfansage an den Klassikbetrieb

Michael Zywietz und Kadja Grönke haben 25 Texte zur LGBTIQ-Musikwissenschaft herausgegeben

«Musik und Homosexualitäten»
Wie offen sollte die Forschung mit der Homosexualität von Künstler*innen und Musiker*innen umgehen? Und warum tut sich die deutschsprachige Musikwissenschaft mit LGBTIQ-Perspektiven so schwer? Das untersucht der neue Essayband «Musik und Homosexualitäten» (Symbolfoto: William White / Unsplash)

Deutschland und seine Akademiker*innen – über deren Elfenbeinturmmentalität haben ja schon viele geklagt. Besonders weltfern und aus der Zeit gefallen präsentieren sich dabei gern die Musikwissenschaftler*innen, wenn‘s um Fragen rund um LGBTIQ geht.

Zur Erinnerung: Es ist schon fast drei Jahrzehnten her, dass in den USA das Buch «Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology» herauskam, mit Essays zu schwul-lesbischen Perspektiven auf die Musikgeschichte. Die äusserst prominenten Autor*innen rund um Philip Brett und Elizabeth Wood waren Professor*innen an renommierten amerikanischen Universitäten. Sie stiessen mit ihrer Publikation damals in der englischsprachigen Welt eine Tür auf, die es ermöglichte, offen(er) über die Verbindung von sexueller Orientierung und Musik zu reden, offen(er) übers Privatleben von Künstler*innen zu diskutierten und offen(er) die besondere Beziehung von schwulen und lesbischen Musikfans zu bestimmten Werken zu analysieren.

Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology
Der Sammelband «Queering the Pitch» erschien bereits 1994 in den USA

In Deutschland und Österreich wurde dieser Impuls vollständig ignoriert. Mehr noch, man lehnte in hiesigen akademischen Kreisen solche Herangehensweise rundheraus ab. Einige Musikwissenschaftler*innen bemühten sich sogar im Anschluss an «Queering the Pitch» jahrelang zu widerlegen, dass es z.B. bei Franz Schubert irgendetwas Schwules in seinem Leben oder seiner Musik geben könnte. Kein Blatt blieb unumgedreht, um nicht doch eine wie auch immer geartete Beziehung zu einer Frau nachzuweisen. Aus Polen kennt man das heute bezüglich Chopin (MANNSCHAFT berichtete), und in Russland wird jeder Hinweis auf einen glücklich-schwulen Tschaikowsky weggeschlossen. Damit keine «falschen» Narrative in Umlauf kommen.

Bewerbungen und Berufungskommissionen
In Deutschland ist einer der Vorreiter bei einer LGBTIQ-Zeitenwende im Fach Musikwissenschaft Michael Zywietz. Als er 2007 ordentlicher Professor an der Hochschule der Künste in Bremen wurde, konnte er es sich endlich erlauben, Homosexualität als Thema von Lehrveranstaltungen und Konferenzen anzusetzen. Hätte er das vorher getan, als er noch in Münster oder Tübingen auf der musikwissenschaftlichen Karriereleiter nach oben klettern wollte, wäre er nie auf den Bremer Posten gekommen. Weil die entsprechenden Berufungskommissionen naserümpfend auf solche Themenschwerpunkte schauten und entsprechende Bewerbungen stillschweigend aussortierten, wie Zywietz gern erzählt.


Michael Zywietz hat in Bremen in den Jahren nach seiner Berufung mehrfach gegen derartige Zustände aufbegehrt und Fördermittel eingeworben, um Tagungen abzuhalten. Jetzt sind beim Textem Verlag Beiträge erschienen, die sich mit «Musik und Homosexualitäten» beschäftigen. Dabei geht es von Nicolas Gombert im 15. Jahrhundert («Frömmigkeit und Sodomie») über Schubert (natürlich!) bis zu Smaragda Eger-Berg, der lesbischen Schwester von Alban, ferner geht es um Ethel Smyth, Hans Werner Henze, Benjamin Britten, Peter Pears, Siegfried Wagner und seinen Lover Clement Harris, Leonard Bernstein, Tschaikowsky, Adorno sowie Maurice Ravel («Heterosexualität als comédie musicale»). (MANNSCHAFT berichtete über den Rapper Lil Nas X und die Diskriminierung, die er in der Musikbranche erlebte.)

Siegfried Wagner
Karikatur des Komponisten Siegfried Wagner, Sohn von Richard und langjähriger Leiter der Bayreuther Festspiele (Foto aus der Ausstellung «Siegfried Wagner: Bayreuths Erbe aus andersfarbiger Kiste», Schwules Museum 2017

Bemerkenswert am breiten Spektrum im neuen Band ist, wie unendliche viele Themen und Herangehensweisen es gibt. Und wie viel von Forschung und Öffentlichkeit sowie den den Mainstream-Medien bewusst ignoriert wird, obwohl die Fakten teils offensichtlich sind.

Gerüchte als inoffizielle LGBTIQ-Geschichte
Natürlich sind Fakten nicht immer einfach zu finden. Oft ist man auf Gerüchte angewiesen, die einem den Weg weisen oder zumindest eine alternative Deutungsmöglichkeit aufzeigen, falls es gar keine Dokumente gibt. Auf die Notwendigkeit, in solchen Fällen nicht automatisch anzunehmen, dass es sich dann um Heterosexualität handeln müsste, wies R. B. Parkinson 2013 in «A Little Gay History: Desire and Diversity Across the World» hin, ein Katalog des British Museum in London. Gerade wenn wir keine definitiven Anhaltspunkte finden, sollten wir alle Optionen als Möglichkeit mitdenken, argumentiert Parkinson. Denn oft kennen wir das historische Umfeld nicht und oft wurde Material bewusst vernichtet, weil Homosexualität sozial geächtet war. Deswegen sprechen auch Kim Marra und Robert A. Schanke in ihrem Buch «Staging Desire» 2005 davon, dass Gerüchte die inoffizielle Geschichte der von der offiziellen Geschichtsschreibung übergangenen Themen seien.


Staging Desire
Das Buch «Staging Desire» von Kim Marra und Robert A. Schanke

Dem stellt sich im vorliegenden Band ausgerechnet die feministische Musikwissenschaftlerin Eva Rieger entgegen und nennt so etwas «prekär», weil es nichts als «unbelegte Mutmassungen» seien. Sie bezieht sich konkret auf die Wagner-Sängerin Frida Leider (1888-1975) von der Staatsoper Unter den Linden und auf eine Siegfried-Wagner-Ausstellung 2017 im Schwulen Museum Berlin.

Dort wurde Rieger kritisiert, weil sie sich in ihrer eigenen Leider-Biografie weigerte, die Gerüchte rund um die Sängerin anzusprechen. Mehr noch: sie verweigerte sich auch, schriftliche Statements von Leuten zur Kenntnis zu nehmen, die Leider und deren Lebenspartnerin Hilde Bahl (1908-2013) kannten. Jetzt schreibt Rieger wieder, dass es für eine lesbische Beziehung zwischen Leider und Bahl «keine Quellen» gäbe. Zumindest keine, die Rieger akzeptieren will. Warum sie sich entschiedenen hat, bestimmte Quellen zu ignorieren, erklärt sie nicht. (MANNSCHAFT berichtete über Sam Smith und seine Klage über die sexistische und homophobe Musikindustrie.)

Wagner-Diva im Dritten Reich
Darüber, welchen Grund eine Wagner-Diva im Dritten Reich und in der konservativen Adenauer-Ära gehabt haben könnte, eine Partnerschaft mit einer Frau vor der Öffentlichkeit zu verbergen, will Rieger ebenfalls nicht sprechen. Und was das oftmals ohrenbetäubende Schweigen von Familien und Betroffenen angeht, die peinlichst darauf achteten, dass es keinen «Skandal» gibt, auch das will die inzwischen 81-jährige Rieger nicht diskutieren.

Vielleicht ist es eine Generationenfrage. Denn die heute in Liechtenstein lebende Rieger musste selbst erleben, wie schwer es war, Frauenforschung in der streng patriarchalen westdeutschen Musikwissenschaft in den 1970er- und 80er-Jahren durchzusetzen, von lesbischen Blickweisen ganz zu schweigen. Deswegen gründete sie zusammen mit ihrer Lebenspartnerin, der Mäzenin Mariann Steegmann, eine Stiftung, die nun auch diesen Tagungsband finanziert hat. Der Plural im Titel deutet an, dass es mehr als eine Form von Homosexualität gibt. Zur Erinnerung: das Deutsche Historische Museum nutzte 2015 in seiner vielbeachteten Ausstellung den Titel «Homosexualität_en» mit Unterstrich.

«Musik und Homosexualitäten»
Das Cover des neuen Buchs «Musik und Homosexualitäten», herausgegeben von Michael Zywietz und Kadja Grönke (Foto: Textem Verlag)

Natürlich sind diese von Zywietz und Kadja Grönke herausgegebenen 460 Seiten nur ein Anfang. Passenderweise ist auf dem Cover eine Szene aus dem Film «Anders als die andern» von 1919 zu sehen. Das war bekanntlich der erste Film, der sich mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte (am Beispiel eines klassischen Musikers) und einen solchen Skandal auslöste, dass die kurz zuvor abgeschaffte Zensur in Deutschland wieder eingeführt wurde (MANNSCHAFT berichtete). Solchen Widerspruch wird «Musik und Homosexualitäten» vermutlich nicht auslösen. Aber die Selbstzensur, die im Bereich der klassischen Musik nach wie vor allgegenwärtig ist, sollte endlich überwunden werden. Genauso wie die sonstigen eklatanten Ausgrenzungen, die die Klassikbranche nach wie vor dominieren.

Denn wo Homosexualitäten ausgegrenzt werden, wird auch noch sehr viel mehr beiseitegeschoben!

Kadja Grönke und Michael Zywietz (Hrsg.), »Musik und Homosexualitäten«, Textem Verlag, 460 Seiten, 29 Euro


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