Leben in Empörungswellen: «Irrwege» der queeren Szene
Ein Interview mit Till Randolf Amelung über sein neues Buch «Irrwege: Analysen aktueller queerer Politik» und Aktivismus in der Ära von Algorithmen
Eigentlich sollte das Buch «Irrwege: Analysen aktueller queerer Politik» auf der Leipziger Buchmesse offiziell präsentiert werden. Daraus wurde wegen Corona nichts. Dennoch ist dieser neueste Band aus der sogenannten «Kreischreihe» des Querverlags jetzt mit elf provokanten Essays auf den Markt gekommen. Am Samstag stellt Deutschlands bekannteste Politittunte Patsy l’Amour laLove den Sammelband in ihrem Salon in Berlin vor. MANNSCHAFT sprach mit dem Geschichtswissenschafter und Geschlechterforscher Amelung im Vorfeld.
Till, offensichtlich herrscht in der LGBTIQ-Community gerade extremer Diskussionsbedarf. In der «Kreischreihe» des kleinen Berliner Querverlags kommt jetzt schon wieder ein Essayband heraus, der die grossen Themen aufgreift, um die aktuell bis aufs Blut gestritten wird. Die Reihe hat sich als Verkaufsschlager erwiesen, obwohl es um eher «akademische» Themen geht. Wieso interessieren sich so viele Menschen dafür? Nun, der Erfolg der «Kreischreihe» liegt eben darin, dass es mitnichten um rein akademische Themen geht. Die dort aufgegriffenen Sachverhalte liegen eher auf der Schnittstelle zwischen Akademie und Aktivismus. Oder auch anders formuliert: bestimmte akademische Ideen beeinflussen sehr stark aktivistische Praxis. Ideen und Praxis sind allerdings eben Quelle für viele heftige Konflikte. Um besser nachvollziehen zu können, was quer liegt, ist die «Kreischreihe» goldrichtig!
In seinem Buch «Weiss» schreibt der schwule Kult-Autor Bret Easton Ellis («American Psycho»), dass man in Zeiten von Social-Media-Aktivist_innen aufpassen müsse, was man öffentlich sagt, postet und «liked». Auch und besonders im LGBTIQ-Bereich. Weil einem schnell «Empörungswellen» entgegenschwappen, die teils Beruf und Karriere sowie soziale Position vernichten können. Das ist einer der «Irrwege», den du in deinem Buch behandelst … Ja, das ist in der Tat ein grosses Problem und – wie Du es so schön sagst – ein Irrweg, und das aus mehreren Gründen. Zum einen verhindert diese Art von permanenter Öffentlichkeit, dass man sich konstruktiv auch über schwierige Themen austauschen kann. Zum anderen setzen Plattformen wie Facebook und Twitter selbst falsche Anreize, indem sie User_innen durch Funktionen wie «Likes» Belohnungsanreize verschaffen, von denen diese dann immer mehr haben wollen. Ebenso fördern die Algorithmen vor allem Beiträge, die besonders starke Emotionen wecken. Aus allem folgt kaum etwas Nachhaltiges. Wir hangeln uns stattdessen von Empörungswelle zu Empörungswelle.
Eine notwendige Alternative aus meiner Sicht ist, dass wir uns wieder um einen Austausch bemühen, bei dem es auch um Auseinandersetzung mit Positionen geht, die man selbst nicht teilen muss. Jedoch sollte man sich darum bemühen, die Perspektive des Gegenübers nachvollziehen zu können. Debatten- statt Shitstorm-Kultur sozusagen!
Ist es angesichts der verhärteten Fronten und Wucht, mit der Debatten geführt werden, überhaupt noch möglich, sich innerhalb der LGBTIQ-Community auszutauschen? Geht es überhaupt noch um «Austausch» oder nur um eine Neuregelung der Machtverhältnisse, unter dem Deckmantel von mehr «Gerechtigkeit»? Ich würde sagen, Austausch ist prinzipiell noch möglich, allerdings eher innerhalb der betreffenden Kreise, die sich jeweils unversöhnlich gegenüber stehen. Dies wiederum finde ich sehr bedauerlich. «Neuregelung von Machtverhältnissen» klingt irgendwie so monströs. Dennoch geht es natürlich schon darum, sich mit einer bestimmten Perspektive dort etablieren zu können, wo man starken Einfluss nehmen kann, welche Inhalte vertreten und wo Fördermittel vergeben werden.
Was ich besonders bedenklich finde ist, wie schnell man mit Vorwürfen beschmiert wird und handfeste Beweise dafür nie vorgelegt werden
Was ich allerdings besonders bedenklich finde ist, wie schnell man mit Vorwürfen beschmiert wird, man sei «rechts» oder «rechtspopulistisch» und handfeste, plausible Beweise werden dafür aber nie vorgelegt. Das kann man exemplarisch übrigens hervorragend in Sabri Deniz Martins Aufsatz zur »Beissreflexe»-Debatte nachvollziehen, er trägt den Titel «Diffamierung als Selbstentblößung». Solche Aspekte verschärfen sicherlich den Eindruck, man könne sich nicht mehr austauschen.
Jüngst verabschiedete sich Schwules-Museum-Gründer Wolfgang Theis aus dem aktiven Arbeitsleben als Ausstellungskurator. Er wünschte den jungen und selbstgerechten Queers, dass ihnen einmal das gleiche Schicksal widerfahren möge, das ihm inzwischen widerfahren ist: dass er zum «alten weissen schwulen Sack» wurde. Wahrscheinlich wird so gut wie jeder Mal zum «alten weissen Sack» bei dem alle gierig darauf warten, dass er endlich seinen Platz räumt.
Ein Dauerbrenner ist aktuell das Thema «Rassismus». Ein Essay in deinem Buch befasst sich mit der Frage, ob sexuelles Begehren auch «rassistisch» sei. Wie sieht denn in der schönen neuen queeren Welt ein ideales «anti-rassistisches» sexuelles Miteinander aus? Soll jede_r auf jede_n stehen und mit allen ins Bett gehen? Waren Attraktivität und sexuelle Ausstrahlung nicht immer schon, in allen Kulturen und zu allen Zeiten, «ungerecht» verteilt und etwas, womit jede_r sich arrangieren musste? Patsy l’Amour laLove arbeitet in «Kann Begehren diskriminierend sein?» gut heraus, wie die Debatte zwei Themen miteinander vermischt: das eine ist ein entsprechender Umgang z.B. in Datingportalen, wo von einigen abwertende Begriffe benutzt werden, um die eigenen Präferenzen abzugrenzen. Diesen Umgang kann man durchaus kritisieren, wie eben auch Patsy klarstellt. Dabei ist die Debatte jedoch nicht geblieben. Stattdessen erklären es einige bereits zur Diskriminierung, wenn man bestimmte Personengruppen sexuell nicht begehrt. Dem liegt zumeist ein seltsames Verständnis von Sexualität zugrunde, womit sich Aaron Lahl in seinem Essay über Antke Engels Versuch, Psychoanalyse und Queer Theory zusammenzubringen, befasst. Lahl zeigt, wie das Überstülpen queerer Theory eher für einen moralisierenden, anstatt für einen realistischen Zugang zu Sexualität sorgt. Der Satz von ihm «Ein fluider Mensch ohne Identität, der unnennbar mannigfaltig begehrt und identifiziert wäre, wäre vielleicht queer, aber auch ein leibloser Mensch ohne Lebensweg», fasst das Problem sehr gut zusammen.
Dating-App Scruff erhöht Datenschutz und geht gegen Rassismus vor
Du gehst auch auf einige neue Trends ein, z.B. Fat Studies. Was ist das und was bedeutet das im Kontext von LGBTIQ? Fat Studies ist eine akademisch-aktivistische Spielart, die sich der Aufwertung von Dicksein verschrieben hat. Dabei geht man sogar so weit und leugnet medizinische Fakten, dass Übergewicht ab einem bestimmten Ausmass gesundheitsschädlich ist. Dass übergewichtige Menschen, insbesondere Frauen, in dieser Gesellschaft zumeist schlecht behandelt werden, muss kritisiert und geändert werden. Deswegen können wir aber trotzdem Fakten zu negativen Folgen für die Gesundheit nicht ignorieren. Im Grunde genommen wird wie zuvor hinsichtlich des Begehrens auch beim Thema Körpergewicht ein völlig falscher Ansatz gefahren, wenn man sich weigert, prägende Bestandteile anzuerkennen.
Da ist die Bereitschaft gering, sich mit der Gesamtgesellschaft noch weiter auseinanderzusetzen. Das wiederum halte ich für einen grossen Fehler
Im Rahmen von «Identitätspolitik» geht es viel um Ausgrenzung und Unterdrückung. Alles negativ besetzte Begriffe, die wie «Auszeichnungen» getragen werden. Während viele ältere Schwule vor allem Gleichberechtigung und Normalität wollten. Und eine vorurteilsfreie Darstellung ihres Lebens bzw. ihrer Sexualität. Wieso fällt diese «positive» Sicht vielen Jungen heute so schwer? Wieso ist der Wunsch nach «Normalität» für sie geradezu eine Kampfansage? Man muss sich vergegenwärtigen, dass die bisher erreichten Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung und Anerkennung für LGBTIQ eben nicht dazu geführt haben, dass wir kulturelle Abwertungen vollständig überwinden konnten. Da ist die Bereitschaft gering, sich mit der Gesamtgesellschaft noch weiter auseinanderzusetzen, es wird auch nicht als Erfolg versprechend gesehen. Das wiederum halte ich für einen grossen Fehler.
Im Gegensatz zu «Beissreflexe» haben deine Autoren ihre Thesen weniger polemisch zugespitzt und argumentieren «sachlicher». Sind wir aus den Zeiten eines ironischen Schlagabtauschs raus und haben eine neue «ernstere» Phase eingeläutet? «Beissreflexe» hat durch den Stil vieler Texte sicher einiges durchbrochen, die Polemik hat dazu angeregt, sich zu beteiligen. Die Probleme sind jedoch so umfassend, dass sie eine tiefergehende, sachlicher aufbereitete Analyse verdienen. Deshalb sollte man nicht bei einer rein polemisch zugespitzten stilistischen Auseinandersetzung verharren. Ich wollte mit meinem Sammelband einen Weg eröffnen, tiefergehende Analysen zu ermöglichen.
Zum Schluss: Du schreibst, die LGBTIQ-Community sollte sich nicht andauernd von «Banalitäten» erregen lassen und ihre ganze Energie darauf verwenden. Worauf sollte sie sich deiner Meinung nach stattdessen fokussieren? Wir sollten die wirklich wichtigen Fragen identifizieren und wie schon erwähnt zu einem Diskursklima finden, was einen Austausch auch gegensätzlicher Positionen ermöglicht und damit auch eine Annäherung an zu bearbeitende Probleme und Differenzen.
«Cancel Culture»: Ein «Fehltritt» und du bist raus
Was für Reaktionen erwartest – oder fürchtest – du nach der Veröffentlichung deines Buchs? Ich glaube ehrlich gesagt, dass es nicht schlimmer als nach «Beissreflexe» kommen kann. Meine Autor_innen wissen, dass eine Publikation in der «Kreischreihe» einige eben zum Kreischen bringen wird. Eine Autorin hat sich deshalb entschieden, unter Pseudonym zu veröffentlichen. Davon abgesehen gab es über die auf «Beissreflexe» folgenden Bände zwar noch Verärgerung, aber die grosse Schlammschlacht blieb aus. Sicherlich haben sie mitbekommen, dass die harsche öffentlich bekundete Aufregung «Beissreflexe» eher genützt, als geschadet hat.
Und eine allerletzte Frage sei erlaubt: Wo siehst du die LGBTIQ-Bewegung in zehn Jahren? Werden «wir» uns von diesem «Stress» und «Generationenkonflikt» wieder erholen können? Ich denke, in zehn Jahren wird es neue Fragen geben, die wir jetzt vielleicht noch nicht kennen. Streit und Generationenkonflikte wird es wohl grundsätzlich immer geben. Die Frage ist jedoch, wie produktiv Auseinandersetzungen gestaltet werden.
Die Buchpräsentation findet am 7. März um 20 Uhr in der Kulturkneipe «Wildenbruch» (Wildenbruchstr. 68, 12045 Berlin) statt. Details finden sich auf der Facebook-Seite zur Veranstaltung.
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