«Inventing Anna» bei Netflix: PR für eine Verbrecherin?
Neue Serie von Shonda Rhimes – ihre erste seit «Scandal»
Eine junge Hochstaplerin, die für ein paar Jahre die New Yorker High Society narrt und Geschäftsleute, Privatpersonen und Hotels um ein paar Hunderttausend Dollar prellt. Ist ein solcher Fall eine grosse Story?
In «Inventing Anna» muss die Journalistin Vivian (Anna Chlumsky aus «Veep») hart darum kämpfen, ihren Vorgesetzten dazu zu bringen, im Magazin ordentlich Platz dafür freizumachen. Shonda Rhimes dagegen brauchte vermutlich weniger Überzeugungsarbeit. Die nämlich verwandelte die reale Geschichte der Anna Sorokin, die 2017 verhaftet und zwei Jahre später zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, nun in die erste Serie seit «Scandal», bei der sie nicht nur als Produzentin, sondern auch als Schöpferin und kreative Hauptverantwortliche fungiert.
Grundlage der neun Episoden ist ein Artikel des New York Magazine aus dem Sommer 2018. Dessen Autorin Jessica Pressler schrieb schon die Vorlage des Kinofilms «Hustlers» und ist nun, fiktionalisiert als eben jene Vivian, die eigentliche Protagonistin. Hochschwanger beisst sie sich an der Geschichte fest und entwickelt dabei enormen Ehrgeiz. (MANNSCHAFT berichtete über die düsteren Geschäftsprognosen bei Netflix fürs Jahr 2022.)
Ungemein facettenreiche und spannende Figur Was einerseits daran liegt, dass sie sich nach einer unzureichend recherchierten Geschichte beruflich rehabilitieren muss. Und andererseits daran, dass Anna (Julia Garner, Emmy-Gewinnerin für «Ozark»), die sich unter dem neuen Nachnamen Delvey als reiche, kunstinteressierte Erbin aus Deutschland ausgab, in Wirklichkeit aber aus Moskau und einfachem Hause, sich als ungemein facettenreiche und spannende Figur entpuppt, für die Gier nicht die Hauptmotivation gewesen zu sein scheint.
«Inventing Anna» folgt erzählerisch im Grossen und Ganzen Vivians journalistischer Recherche-Arbeit. Je mehr Vivian sich mit Menschen unterhält, die mit Anna zu tun hatten, desto mehr neue Seiten an ihr tun sich auf.
Ihr Anwalt (Arian Moayed), der bald auf kistenweise Beweismaterial sitzt; die gönnerhafte Society-Lady (Kate Burton), die leichtfertig ihre Kreditkarten-Infos aus der Hand gibt; der versierte Banker (Anthony Edwards), der überzeugt davon ist, dass Anna eines sechsstelligen Kredits würdig ist; die Hotelangestellte (Alexis Floyd, bekannt aus «The Bold Type»), die dankbar üppiges Trinkgeld entgegen nimmt, dann zur Vertrauten wird und zu spät realisiert, wie hoch die offenen Rechnungen sind – sie alle zeichnen ganz unterschiedliche Bilder der Frau, die sie um Geld, Vertrauen und mehr gebracht hat. (Mehr LGBTIQ-Sichtbarkeit in Serie von Netflix & Co.)
Luxusgeiles Party-Girl? Ambitionierte Aufsteigerin mit Geschäftssinn und dem Traum einer Mischung aus Künstlerstiftung und Private Member-Club? Oder übervorteiltes Opfer eines sexistisch-patriarchalen Systems, im dem jungen Ausländerinnen die meisten Türen verschlossen bleiben? Nicht einmal Besuche bei Anna in der Untersuchungshaft sorgen für echte Klarheit.
Komplexe Frauenfiguren und Diversität im Ensemble Kein Zweifel besteht derweil daran, dass es sich bei «Inventing Anna» um eine Shondaland-Serie handelt. Die Geschichte bietet Raum für viele von Rhimes’ Markenzeichen, von komplexen Frauenfiguren und der Möglichkeit für Diversität im Ensemble bis hin zu glamourösen Kostümen und Kulissen, knalligen Bildern, schnellen Schnitten und viel Popmusik. Und natürlich genug Rollen für jede Menge Schauspieler*innen, die man schon in anderen ihrer Serien gesehen.
Darunter ist neben Jeff Perry, der in «Scandal» den skrupellosen schwulen Stabschef Cyrus Beene spielte, auch Laverne Cox als Kacy Duke, Annas Fitnesstrainerin und Quasi-Freundin. Keine riesige, aber eine schöne Rolle für Cox, zumal ihr reales Vorbild nicht trans ist – und cis-Rollen für trans Schauspieler*innen ja immer noch eher die Ausnahme sind.
Ansonsten hält sich aber leider die Queerness in «Inventing Anna» für Rhimes-Verhältnisse sehr in Grenzen. Ein (mutmasslich schwuler) Freund der Protagonistin, der in der Modebranche arbeitet, wird vom schwulen Schauspieler James Cusati Moyer gespielt, als Staatsanwältin ist die lesbische Schauspielerin Rebecca Henderson («Russian Doll») zu sehen – viel mehr ist da leider nicht.
Auch sonst ist die hübsch anzusehende Serie nicht in jeder Hinsicht befriedigend. Vivian bleibt dafür, dass sie in der Erzählung arg viel Raum einnimmt, als Figur etwas zu uninteressant (was Chlumsky mit ordentlich Over-Acting zu kompensieren versucht), und selbst bei der Cindy Sherman verehrenden Titelfigur schürfen die Drehbuchautor*innen nicht allzu tief unter der Oberfläche.
Ganz zu schweigen von einem reichlich peinlichen Abstecher in Annas Heimat in NRW, wo jemand offenkundig nichts über deutschen Schulalltag recherchiert hat und Peter Kurth sowie Aglaia Szyszkowitz mit schrägem russischen Akzent sprechen müssen.
Nach neun manchmal kurzweiligen, manchmal arg zähen Folgen kommt man deswegen dann doch zu dem Schluss, dass weniger vielleicht ein wenig mehr gewesen wäre. Denn nicht jede spannende Magazinreportage verdient in der Verfilmung eine Laufzeit von zehn Stunden. (Weitere queere Seriengeheimtipps von Patrick Heidmann.)
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