HIV-positiv und bipolar – Wenn die Synapsen Karneval feiern
Wenig Schlaf, viel Alkohol – dann kam die Wende
Torsten Poggenpohl ist schwul, HIV-positiv und bipolar. In seiner Manie setzte er alles aufs Spiel: den Job, seine Gesundheit, Freund*innen und Familie. Um seine Diagnose zu akzeptieren, musste er sich zuerst seiner grössten Herausforderung stellen – sich selbst.
Den Gürtel von Hermès kaufte sich Torsten Poggenpohl am Flughafen auf dem Weg zum Gate. Einfach so, quasi im Vorbeigehen. Die 1’000 Euro blätterte er hin, ohne gross nachzudenken. Auf den ersten Blick war das auch nichts Aussergewöhnliches. Leisten konnte er sich’s ja. Ausserdem waren Luxus-Accessoires ein wichtiger Bestandteil seiner Garderobe. Torsten liebte es, Kleidung von H&M oder Zara mit einem edlen Eyecatcher zu akzentuieren: Loafers von Bally, ein Schal von Burberry, ein Gürtel von Gucci oder eben von Hermès. «Wie Carrie Bradshaw, die ihr Outfit im Vintage-Laden kauft und mit ein paar Manolo-Blahniks kombiniert», sagt er im Interview lachend.
Rückblickend weiss Torsten, dass dieser Spontankauf nur eines von vielen Anzeichen war, die sich in jener Zeit, 2013, häuften. Der damals 33-Jährige verlor den Realitätsbezug zum Geld, lebte in einem Dauergehetze zwischen Arbeit und Party an der Grenze zur Dekadenz. Ohne es zu wissen, fiel Torsten in eine Manie.
Der Pakt mit dem Teufel Torsten konnte nicht nur teure Güter kaufen, er besass auch ein Talent für deren Verkauf. Nach einem abgeschlossenen Jurastudium entschied er sich gegen die Anwaltskarriere und wagte den Quereinstieg in der Parfümerie eines Stuttgarter Luxuskaufhauses. Sein oberstes Gebot war es, den Kundinnen das beste Einkaufserlebnis zu bieten. In seinem Kopf rollte er ihnen den roten Teppich aus und entführte sie mit Champagner und Stretchlimo in die glamouröse Welt der Stars und Sternchen. Mit dieser Motivation arbeitete sich Torsten schnell zur Counterleitung und schliesslich zum Gebietsverkaufsleiter hoch. Im Gebiet Augsburg zwischen Schwäbisch Hall, Füssen, Garmisch-Partenkirchen, München und Ingolstadt war er für über hundert Parfümerien zuständig, in denen es darum ging, das Beste aus Personal und Verkaufszahlen zu holen. Mit einem nigelnagelneuen Audi fuhr er kreuz und quer durch Bayern, die Verkäufer*innen liebten ihn, der Umsatz schoss in die Höhe. Torsten war die Nummer eins.
Als die Geschäftsleitung ihm den Wechsel in seine Traumstadt Hamburg vorschlug, sagte er zu. Doch der Norden machte ihn nicht glücklich. Über mehrere Monate hinweg fand er keine Wohnung, auch mit dem Verkauf wollte es nicht hinhauen. Im Ranking der Gebietsverkaufsleiter*innen fiel Torsten von der Spitze auf den letzten Platz zurück. Es dauerte nicht lange und er bereute seinen Wegzug aus Bayern.
Nachdem seine Nachfolgerin im Gebiet Augsburg abgesprungen war, bat er um seine Rückversetzung. Die Geschäftsleitung willigte ein – mit einer Bedingung: Torsten müsse nebenbei die Mutterschaftsvertretung für die Kollegin aus dem angrenzenden Gebiet Nürnberg und somit die Verantwortung für ihre 45 Geschäfte übernehmen. Er nahm das Angebot sofort an. Heute bezeichnet er es als «Pakt mit dem Teufel».
Torstens Tag begann nun um 6 Uhr mit Kaffee und Zigaretten, bevor er nach mehreren hundert Autokilometern um 20 Uhr nach Hause kam, um dann E-Mails zu beantworten und Bestellungen in Auftrag zu geben. Das Wochenende schlug er sich im schwulen Nachtleben in Augsburg, Stuttgart oder München um die Ohren – mit wenig Schlaf und viel Alkohol. Er fragte sich: «Warum muss man für einen anständigen Club nach München oder Stuttgart fahren?» Torsten beschloss kurzerhand, in Augsburg einen extravaganten Nachtclub zu eröffnen und beantragte Kredite für mehrere hunderttausend Euro.
«Wenn es so weitergeht, sind Sie bald ein toter Mann.»
Die als Sicherheit benötigte Lebensversicherung setzte einen HIV-Test voraus, der zu seiner grossen Überraschung positiv ausfiel. Torstens Blutwerte waren katastrophal: 16 Helferzellen blieben übrig bei einer Virenlast von rund 5 Millionen. Er hatte Glück, dass sein Immunsystem nicht noch von anderen Krankheiten geschwächt wurde. Doch seine Ärztin warnte ihn: «Wenn es so weitergeht, sind Sie bald ein toter Mann.»
Das Kartenhaus stürzt ein Zu diesem Zeitpunkt hatte Torstens finanzieller Realitätsverlust bereits begonnen. Für die Promotion seiner anstehenden Nachtcluberöffnung scheute er keine Auslagen, von teuren Plakatkampagnen bis hin zum grosszügigen Sponsoring anderer Events. Er bestellte stets teuren Champagner, kaufte Outfit um Outfit – wenn nicht für sich, dann für seine guten Freundinnen – und nahm auch mal das Taxi in einen Münchner Club, nachdem er in Augsburg von einer Kneipe rausgeworfen worden war.
Die HIV-Diagnose war der Tropfen, der das Fass langsam zum Überlaufen brachte. Wenn Dinge nicht so liefen, wie Torsten es wollte, und auch seine Redegewandtheit nichts mehr nützte, konnte er ruppig werden. Egal, ob Fremde, geschäftliche Kontakte, Freund*innen oder Familie: Er scherte sich nicht mehr darum, was andere von ihm hielten oder ob er verbrannte Erde hinterliess. «Ich war mitten in meiner Manie», erinnert sich Torsten heute. Als ihn die Verkäufer des Nachtclubs schliesslich zur Rede stellten, weil er den vereinbarten Kaufpreis noch nicht überwiesen hatte, flüchtete er im Taxi. Er war am Rande des Zusammenbruchs.
Alle sahen es, nur Torsten selbst nicht. Nachdem seine Eltern und Geschwister ihn in die Psychiatrie überwiesen hatten, stufte ihn der Arzt als keine Gefahr für sich oder für seine Mitmenschen ein. Torsten hatte sich wieder herausreden können.
Wenige Wochen später konnte er niemanden mehr täuschen – auch sich selbst nicht. Ein richterlicher Beschluss, den seine HIV-Ärztin beantragt hatte, verdonnerte ihn schliesslich zu vier Wochen geschlossener Anstalt. Doch zur Einsicht kam er deswegen nicht. Medikamente, die nicht zu seiner HIV-Therapie gehörten, lehnte er ab. Nachdem seine Freund*innen im Stau steckten und die Besuchszeiten verpassten, schickte er ihnen ausfällige Textnachrichten. Daran, dass die Freund*innen sich untereinander abgesprochen und ihn bis dahin jeden Tag besucht hatten, dachte er nicht mehr.
Die Wende brachte schliesslich das Buch «Lieber Matz, Dein Papa hat ’ne Meise» von Sebastian Schlösser, das Torsten zu seinem 34. Geburtstag von einer guten Freundin in die Psychiatrie geschickt bekam. Der Autor beschreibt darin offen seinen Umgang mit der bipolaren Störung. «Schon nach den ersten Seiten war mir klar: Egal, was er hat, ich habe es definitiv auch», sagt er. Er las Wort für Wort, Zeile für Zeile, manchmal auch mehrmals. Das Buch wurde zu seinem ständigen Begleiter. «Das war mein Game-changer.»
Zur Einsicht kommen: gar nicht so einfach! Zur grossen Erleichterung des Psychiatriepersonals wurde Torsten zunehmend kooperativer. Er nahm seine Medikamente ein, beteiligte sich aktiv an der Therapie und akzeptierte die Diagnose bipolare Störung. «Mein Arzt sagte mir später mal, dass ich von einem seiner schwierigsten manischen Patienten seiner Laufbahn zum Vorzeigepatienten der Klinik geworden sei.»
Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung, die die neurochemische Signalübertragung im Gehirn betrifft. Der Dopamin- und Serotoninhaushalt – Hormone, die für unsere Gefühlslage verantwortlich sind – fällt aus dem Gleichgewicht. Die Folge sind entgegengesetzte, extreme Stimmungsschwankungen, die die betroffene Person nicht kontrollieren kann: Manie und Depression. Diversen Studien zufolge dürfte die bipolare Störung erblich veranlagt sein, muss jedoch nicht ausbrechen. Auslöser können einschneidende Lebensereignisse, Traumata oder – wie im Falle von Torsten – erhöhter und andauernder Stress sein. «Jeder Mensch hat seine persönliche Stresskante», sagt er. «Mit der Belastung in meinem Job, den Vorbereitungen für den Club und der HIV-Diagnose hatte ich diese Stresskante eindeutig überschritten und glitt ab in die Manie.»
Wenn Torsten von seiner Manie spricht, dann beschreibt er sie oft mit «Karneval der Synapsen». «Die totale Reizüberflutung. Als würden dir 1’000 Eindrücke gleichzeitig durch deinen Kopf jagen. Bevor du den einen Gedanken verarbeitet hast, springst du schon zum nächsten. Du kannst gar nicht auf deinen Kopf zugreifen», sagt er. Dann war da der schwindende Bezug zum Geld, den Respekt vor anderen Menschen, den er zunehmend verlor.
Ist die bipolare Störung einmal ausgebrochen, kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Mit Medikamenten, die die Stimmung stabilisieren, lässt sich die Erkrankung jedoch gut therapieren. Doch so einfach ist es nicht. Das Heimtückische bei der bipolaren Störung ist die mangelnde Einsicht der Betroffenen, die Diagnose überhaupt zu akzeptieren. Das kann Torsten aus eigener Erfahrung nur bekräftigen. «In meiner Manie war ich komplett von mir selbst überzeugt. Ich hatte immer recht und alle anderen kapierten es einfach nicht», sagt er. «Der schwierigste Schritt ist, sich die Erkrankung einzugestehen und die Therapie anzunehmen.»
«Wer ist der blasse Typ auf dem Foto?» Seit bald zehn Jahren lebt Torsten nun mit den Diagnosen bipolare Störung und HIV. Sein Körper und seine Psyche sprechen gut auf beide Behandlungen an: Die Medikamente sind aufeinander abgestimmt, seine Stimmungslage seit Jahren stabil. Der Erfolg setzt aber auch viel Selbstdisziplin voraus. So achtet er zum Beispiel auf eine pünktliche Einnahme seiner Tabletten und verzichtet auf Alkohol, der die Wirksamkeit seiner Therapie beeinträchtigen kann. «Ich kenne Betroffene, die das eine oder andere Glas Alkohol trinken oder eine Pille auslassen, weil es ihnen ja gut geht», erzählt er. Das könne bereits ausreichen, um eine manische oder depressive Phase auszulösen.
Dem behandelnden Arzt ist Torsten sehr dankbar, denn der Erfolg der medikamentösen Behandlung ist nicht selbstverständlich. «Ich bin so froh, dass ich in der Lage bin, Gefühle der Freude und der Trauer zu empfinden und mit anderen zu teilen», sagt er. Viele seiner Freund*innen hätten sich sehr darüber gefreut, dass er wieder ganz der Alte sei. «Die Tabletten machen keinen emotionslosen Zombie aus mir.»
Aktionstag 30. März
Der Geburtstag des Malers Vincent Van Gogh, der posthum als bipolar diagnostiziert wurde, wird heute als Internationaler Tag der bipolaren Störung begangen. Besonders im anglo-amerikanischen Raum sollen diverse Aktionen an diesem Tag zur Aufklärung der Erkrankung und somit zur Entstigmatisierung beitragen.
Van Goghs Schaffen stand in direktem Zusammenhang mit seinen Krankheitsschüben, die sich unter anderem durch Wahnvorstellungen und Angstzustände ausdrückten. Einige seiner bedeutendsten Werke entstanden in Zeiten, in denen er mit seinen persönlichen Dämonen kämpfte. Van Gogh starb 37-jährig durch eine selbst zugefügte Schussverletzung. Ob es ein Unfall oder Suizid war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.
Mit dem medizinischen Personal musste Torsten jedoch auch enttäuschende Erfahrungen machen, gerade in Verbindung mit seinem HIV-Status. So kam einmal eine Stationsärztin in sein Zimmer und sagte zu ihm: «Hier haben wir also den jungen Mann, der nichts von Safer Sex versteht.» Ein weiterer Vorfall ereignete sich Jahre später bei einer Darmspiegelung. Zu diesem Zeitpunkt lag seine Virenlast bereits unter der Nachweisgrenze. Die Assistentin hatte von Kopf bis Fuss die Schutzbekleidung angelegt, inklusive Schutzbrille. «Als ob sie jetzt zum Mars fliegt», sagt Torsten. Nachdem er sie darauf angesprochen hatte, gab sie zu Angst zu haben, sich mit HIV anzustecken.
Eine Enttäuschung musste er auch in der Community erleben. «2018, fünf Jahre nach meiner HIV-Diagnose, wagte ich mich wieder in die Dating-Welt und lernte einen Mann kennen», erzählt er. Die beiden Männer seien wie verliebte Teenager gewesen, machten Fotos. «Mit Knutschen auf der Parkbank und so.» Torsten offenbarte seinen Status und die beiden Männer führten ein langes Gespräch – nicht nur über HIV, sondern über Gott und die Welt. Beim nächsten Treffen sagte ihm der Mann, dass sein Bruder ihn gefragt habe, wer denn der blasse Typ neben ihm auf dem Foto sei, er sehe so krank aus. Torsten brach den Kontakt ab: «Ich musste gleich 20 Freund*innen anrufen und fragen, ob ich denn wirklich so krank aussehe.»
Ein Plädoyer für die Offenheit Seine Redegewandtheit stellt Torsten auch im Videocall unter Beweis. Auf die Frage, ob in der schwulen Community Nachholbedarf bezüglich HIV besteht, zeigt er sich jedoch erstmals unschlüssig. «Die PrEP* hat viele Berührungsängste mit HIV abgebaut – das finde ich grossartig», sagt er. Die Angst vor Stigmatisierung bleibe aber trotzdem. «Viele Männer, die ich von der HIV-Praxis kenne, geben bei Planet Romeo oder Grindr an, dass sie auf PrEP sind. Das zeigt mir, dass die Leute nicht mutig genug sind, ihren wahren Status offenzulegen. Sie verstecken sich lieber hinter der PrEP statt zu sagen: Eine wirksame HIV-Therapie schützt vor HIV-Übertragungen.»
Auch wenn die Stigmatisierung der Gesellschaft der Auslöser für diese Mutlosigkeit sei: Solche Notlügen seien insofern problematisch, als dass sie für die Betroffenen zur Belastung würden. «Wenn du etwas vor der Welt versteckst, – wenn du nicht sein darfst, wer du bist – dann kann dich das krank machen», sagt er.
Mit «einfach!ch» schrieb Torsten ein Buch über seine Diagnosen, das er 2022 im Eigenverlag veröffentlichte. Lesungen, Vorträge und Gesprächsrunden führen ihn durch ganz Deutschland und in die Schweiz, wo er für einen offeneren Umgang mit HIV und mit psychischen Erkrankungen plädiert. Für Betroffene der bipolaren Störung gründete er einen Stammtisch.
«Ich war ein Mensch, der immer Angst hatte, etwas zu verpassen»
Torsten Poggenpohl
Jagt Torsten immer noch von Termin zu Termin, von Projekt zu Projekt? Er winkt lachend ab. «Ich war ein Mensch, der immer Angst hatte, etwas zu verpassen. War kein optisch passender Mann in der Bar, zog ich in die nächste und so weiter», sagt er. «Heute kann ich am Freitag- und Samstagabend zuhause sitzen und habe kein Problem damit.» Überhaupt spiele die Achtsamkeit heute eine bedeutende Rolle in seinem Alltag. Mit positiven Aktivitäten will er negativen Gedanken entgegenwirken, bevor diese überhaupt entstehen können. «Bei mir ist das zum Beispiel Spazieren», sagt er. «Oder Frühstücken! Daher achte ich darauf, jeden Tag mit einem schönen Frühstücksmoment zu beginnen. Du musst es dir wert sein, dir etwas zu bescheren, das deiner Seele guttut.»
einfach!ch
In seinem Buch «einfach!ch» schildert Torsten Poggenpohl seine Reise durch seine manischen Gedanken. Ob tiefste Depression, oder die panische Angst vor dem Verlust seines Genies, alles breitet er schonungslos offen und ehrlich aus, bevor er die Leser*innen mit in die Welt seiner Therapien nimmt. ISBN: 978-3-7557-2349-3
Gibt es einen Indikator dafür, dass der persönliche Stresslevel gefährliche Höhen erreicht? «Die wohl beste Achtsamkeitsübung ist der Rückzug in den bequemen Sessel mit einem guten Buch», sagt er. «Wenn man das nicht mehr hinkriegt, wird es Zeit Hilfe zu holen.»
«Ich muss nicht immer die Nummer 1 sein»
Torsten Poggenpohl
Heute ist Torsten im Reinen mit sich selbst. Die Verantwortung über ein weiteres Verkaufsgebiet, der Plan der grossen Cluberöffnung – er bereut nichts. Im Gegenteil, er habe viel über sich selbst gelernt. «Wer einmal Schiffbruch erlitten hat, setzt alles daran, dass es nicht nochmal geschieht», sagt er. «Ich war damals nicht klug genug zu verstehen, dass ich nicht immer auf Platz 1 von 16 Verkaufsleiter*innen stehen muss. Man kann auch auf Platz 7 ein erfülltes Leben haben. Ich muss nicht immer die Nummer 1 sein.»
«Ich war damals wie ein Impfverweigerer»: Vor 40 Jahren machte sich das HI-Virus erstmals in grossem Ausmass bemerkbar. Wir sprechen mit zwei Männern, die mit dem Virus leben (MANNSCHAFT+).
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