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Gotteskrieger mit Lidschatten: Wieso schminken sich die Taliban?

In Afghanistan herrschen wieder strikte Kleiderregelungen, die auch das Verbot von Make-up beinhalten. Nur die Taliban selbst halten sich nicht daran

Taliban Afghanistan
Taliban-Kämpfer im August 2021 in Kabul (Foto: Wiki Commons)

Seit die Taliban Mitte August in Afghanistan die Macht neuerlich übernommen haben, sieht man sie überall im Land und in den Nachrichten: meist mit schweren Waffen als Erkennungszeichen sowie mit «traditionellen» Outfits und Vollbärten. Und mit dunkel geschminkten Augen.

Die Islamisten dürfen laut ihrer Auslegung der Scharia nur den Körper nicht betonende «weite» Kleidung tragen und ihre Bärte nicht rasieren. Frauen sollen sich derweil verhüllen. Make-up ist verboten. Doch wenn man sich die Fotos der Taliban-Kämpfer genauer anschaut, erkennt man, dass die Männer fast alle um die Augen herum einen Lidstrich tragen. (MANNSCHAFT berichtete über das Phänomen Männer und Make-up.)

Dadurch entstehe der «durchdringende», «gefährlich wirkende» und «entschlossene» Blick. Auf Onlineplattformen werde viel darüber spekuliert, schreibt Der Bund, welche Bedeutung diese schwarze Umrandung der Augen habe. Eine Umrandung, die man schon 2001 auf den Bildern sah, die der Fotograf Thomas Dworzak nach der US-Invasion von Afghanistan in zurückgelassenen Fotogeschäften fand. In Kandahar entdeckte Dworzak – trotz des grundsätzlichen Fotografieverbots der Taliban – hunderte von Porträts, auf denen man die selbsternannten «Gotteskrieger» nicht nur mit schwarz umrandeten Augen sieht, sondern überhaupt stark geschminkt und in innigsten Posen beieinanderstehen.

Masculinities
Thomas Dworzak, Taliban portrait. Kandahar, Afghanistan, 2002 (Foto: Collection T. Dworzak/Magnum Photos, aus der Ausstellung und dem Katalog «Masculinities: Liberation Through Photography»)

«Diese stilisierten Fotografien widersprachen direkt dem öffentlichen Bild des Soldaten in einer überwältigend männerdominierten patriarchalen Gesellschaft», heisst es im Katalog zur Ausstellung «Masculinities». Mit Verweis darauf, dass die Porträts – «mit den stark geschminkten Augen voller schwarzem Kohl» – das konventionelle Image des hypermaskulinen Mannes «verkomplizieren».


«Queerer Traum von Männlichkeit»
Jonathan B. Katz erwähnt diese Taliban-Bilder auch in seinem Katalogbeitrag «Queering Masculinity» und fragt, ob sie nicht den «queeren Traum von Männlichkeit» bebildern, der die Geschlechter-Binarität durchbreche. Über mögliche Homosexualität bei den Taliban wurde damals, nach Auftauchen der Bilder, diskutiert. Auch über die Frage, ob die Männer miteinander Sex hätten, ohne sich als homosexuell zu identifizieren.

Nun widmet sich Der Bund dem Thema «Wieso schminken sich die Taliban?» und gibt eine deutlich weniger queere Erklärung für den Einsatz einer Schminke, die aus Antimonpulver besteht, einem Mineral, das wie Kajal auf die Augenlider aufgetragen wird.

Demnach lasse sich die Benutzung des Pulvers zurückverfolgen bis ins alte Ägypten und sei bei vielen Völkern und Kulturen beliebt, weil ihm eine heilende Wirkung nachgesagt werde. Besonders in Wüstenregionen soll es die Augen vorm Eindringen von Sand schützen.


Gemäss der Überlieferung soll der Prophet das Pulver auch selber verwendet haben

Von einer vermeintlich wohltuenden Wirkung des Antimonpulvers berichtete scheinbar auch der Prophet Mohammed. Der Bund sieht diesen Mohammed-Bezug als Hauptgrund für die Lidstriche der Taliban: «Gemäss der Überlieferung soll er das Pulver auch selber verwendet haben. Er soll das Mineral dreimal auf sein rechtes und zweimal auf sein linkes Auge aufgetragen und gesagt haben, es schärfe die Sehkraft und lasse das Haar wachsen», heisst es im Artikel.

Im Islam sei die Verwendung des Pulvers vor allem im Fastenmonat Ramadan weit verbreitet.

Aussenminister Amir Khan Muttaqi
Laut Bund variiere die Verwendung der Schinke bei den islamistischen Kämpfern je nachdem, ob sie aus ländlichen oder städtischen Regionen kommen. Taliban vom Lande würden das Pulver besonders intensiv einsetzen, während in urbanen Gegenden der Glaube an den heilenden Effekt des Antimonpulvers weniger verbreitet sei.

Auch in Deutschland widmete der Spiegel sich dem Thema (hinter einer Bezahlschranke), während die neuen Machthaber in Afghanistan verlangen, dass ihr Aussenminister Amir Khan Muttaqi bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen darf.

Man darf bezweifeln, dass Amir Khan Muttaqi dem Verdikt von Jonathan Katz zustimmen würde, wonach die innig-intimen Taliban-Porträts, die Thomas Dworzak fand, «trans-maskulin» seien: «Sie hinterfragen Männlichkeit kritisch, betonen die Unnatürlichkeit und Konstruiertheit dieses Konzepts über sozialen Kontext», meint Katz. (MANNSCHAFT berichtete über die Ausstellung.)

«The Dancing Boys of Afghanistan»
Der soziale Kontext für die LGBTIQ-Community in Afghanistan ist derzeit bekanntlich katastrophal (MANNSCHAFT berichtete über die Lage). Worüber jedoch noch gar nicht berichtet wurde, ist das Schicksal der sogenannten «Dancing Boys», die sich einige Warlords als minderjährige männliche Sexsklaven hielten.

Darüber hatte der afghanische Journalist Najibullah Quraishi 2010 eine Doku gedreht (die man auf YouTube vollständig sehen kann). Sie heisst «The Dancing Boys of Afghanistan» und beschreibt die Tradition des «bacha bazi», wörtlich aus dem Persischen übersetzt «Knabenspiel» oder «[Erwachsener,] der mit Knaben spielt». Diese Knaben – als tanzende Jungs in Frauenkleidern – werden nicht nur sexuell gefügig gemacht, sondern auch wie Wahre zwischen den Warlords getauscht. Da es dabei teils zu heftigen Eifersuchtsszenen kommt, werden die «Dancing Boys» vielfach tot aufgefunden. Die Umstände blieben ungeklärt und würden von der Polizei nicht untersucht, heisst es in der Doku.

Quraishi zeigte sein Material der UN-Mitarbeiterin Radhika Coomaraswamy, die bis 2012 zuständig fürs Schicksal von Kindern in Kriegsgebieten war. Sie erklärt vor laufender Kamera, dass jedes Mal, wenn sie das Thema bei den Vereinten Nationen anspreche, die Antwort laute, man müsse zuerst den Krieg in Afghanistan beenden und könne sich dann erst anderen Themen zuwenden. Was im Klartext bedeutet: es wurde nichts unternommen. Und nun ist der Krieg beendet, zumindest offiziell.

Kurz nach der Doku, die vom Sender PBS ausgestrahlt wurde, schuf das US-Autorenteam Tim Rosser und Charlie Sohne basierend auf den von Quraishi vorgestellten Geschichten das Musical «The Boy Who Danced On Air» mit einer zentralen schwulen Lovestory zwischen zwei der tanzenden Knaben, die sich über diese Liebe von der Unterdrückung und von der durch ihre «Besitzer» aufgezwungenden Sexualität befreien und selbstermächtigen. Das heisst, sie entscheiden schlussendlich selbst, mit wem sie ihre Gefühle und ihren Körper teilen wollen. Und senden damit ein Zeichen an andere LGBTIQ in Afghanistan, dass queeres Leben jenseits von Traditionen wie «bacha bazi» möglich sein könnte. Irgendwann einmal.

Das Stück kam 2017 an den Off-Broadway (mit Troy Iwata als Hauptdarsteller, inzwischen als schwuler Bruder aus der Netflix-Serie «Lily und Dash» bekannt). 2020 wurde während des ersten weltweiten Corona-Lockdowns eine gefilmte Fassung dieser Off-Broadway-Produktion gestreamt und erregte massiven Widerstand von Seiten vieler Afghanen im Ausland, die es widerwärtig fanden, dass die Tradition des «bacha bazi» (von der bereits in Texten aus dem 19. Jahrhundert die Rede ist) mit ihrer Heimat in Verbindung gebracht wurde.

«The Boy Who Danced On Air»
Das Cast Album des Musicals «The Boy Who Danced On Air» (Foto: Broadway Records)

«Kein Recht, diese Geschichte zu erzählen»
Auch von Seiten der afghanischen LGBTIQ-Community hagelte es Kritik. Die BBC zitierte in einem Beitrag den queeren afghanischen Wissenschaftler Dr. Qais Munhazim, der in den USA lebt und unterrichtet. Er befand, dass das Musical «schmerzhaft verletzend» sei für queere und trans Afghanen. Denn: Das Stück setze «fälschlicherweise» Pädophilie mit Queerness gleich. Und weil dabei angeblich eine Geschichte «aus weisser Perspektive» erzählt werde, eine Geschichte, die Rosser/Sohne «nicht gehöre» und die zu erwählen sie «kein Recht» hätten, dürfe das Stück nicht mehr gezeigt werden. Es gab sogar eine Online-Petition, die verlangte, dass die Autoren ihren Gewinn als Schadensersatz an die Opfer von «bacha bazi» zahlten sollten. (Dafür kam jedoch nur eine vergleichsweise bescheidene Anzahl an Unterschriften zusammen.)

Dass die Liebesgeschichte zwischen zwei «Dancing Boys» bei Rosser & Sohne fast eins-zu-eins auf dem Material der Doku eines afghanischen Journalisten basiert, blieb in der Debatte gänzlich unerwähnt. Genau wie bis heute nicht erwähnt wird, wie die Taliban seit ihrer Rückeroberung des Landes mit den «Dancing Boys» dieser Warlords umgegangen sind.

Zur Erinnerung: Während ihrer letzten Gewaltherrschaft vor 2001 hatten die Taliban «bacha bazi» verboten, als nicht der Scharia entsprechend. Man kann sich also ausmalen, was das jetzt für die Betroffenen bedeutet, über die sogar LGBTIQ-Afghanen im Ausland lieber den Mantel des Schweigens legen.


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