Es gibt unendlich viele Versionen von «Ich liebe dich»
Von Hetero-Liebeskummer und der Binarität der hebräischen Sprache
Auf Hebräisch gibt es verschiedene Versionen von «Ich liebe dich». Anna Rosenwasser erinnert sich in ihrem Kommentar* an den engen Horizont ihrer Hebräischlehrerin.
Als ich meinen allerersten Liebeskummer erlitt, beschloss ich wie jede durchschnittlich vernünftige 20-Jährige, davor wegzurennen. Wegzufliegen, genau genommen. In das Land, in dem einer meiner beiden Elternteile aufgewachsen ist, nämlich Israel. Ich behauptete: Ich gehe dorthin, um Hebräisch zu lernen. (Rückblickend ging ich wohl vor allem hin, um mich durch Tel Avivs Männerwelt durchzudaten. Hilft mittelgut gegen Liebeskummer.)
Wenige Monate später sass ich in einem Ulpan, das ist ein israelischer Hebräischkurs, und lernte Hebräisch. Eines Tages lernten wir den Akkusativ bei Pronomen. (Keine Sorge, liebe Leser*innen, ihr müsst euch nicht erinnern, was das ist, um diesen Text zu verstehen. Die wichtigsten Pronomen sind sowieso die in unserer Insta-Bio.)
Unsere Ulpanlehrerin schrieb den Satz «Ich liebe dich» auf die Tafel, um uns anhand dieses Beispiels das «dich» zu zeigen. Denn: Auf Hebräisch haben zwei dieser drei Wörter ein Geschlecht. «Ich» ist immer gleich. Das Verb «liebe» hat das Geschlecht derjenigen Person, die den Satz ausspricht. Und das Pronomen «dich» hat das Geschlecht derjenigen Person, die gemeint ist. Derselbe Satz stand zweimal auf der Tafel: «Ich liebe dich» von männlich zu weiblich und «Ich liebe dich» von weiblich zu männlich.
Das war in den frühen Nullerjahren. Ich war hetero-heartbroken, weit weg von meinem inneren Coming-out und ähnlich weit weg davon, mich für queere Rechte zu interessieren. Irgendwas hat mich dann doch dazu bewegt, meine Hand hochzuhalten. Vielleicht meine innere Besserwisserin, womöglich meine innere ungeoutete Bisexuelle.
«Aber gibt es dann nicht noch zwei weitere Formen?», fragte ich, etwas nervös. «Sehr richtig», sagte meine Hebräischlehrerin langsam nickend, und während sie sich mit der Kreide zur Tafel bewegte, ergänzte sie: «Zum Beispiel, wenn es eine Mutter zu ihrer Tochter sagt oder ein Vater zu seinem Sohn.»
Dann schrieb sie die restlichen zwei Sätze an die Tafel: «Ich liebe dich» von weiblich zu weiblich. Und «Ich liebe dich» von männlich zu männlich. Zwei Sätze, die in den Augen der Lehrerin nur in Verwandtschaftsverhältnissen gebraucht werden.
Diese Erinnerung steht als Denkmal in meinem Gedächtnis. Als Sinnbild dafür, dass uns die Möglichkeit, gleichgeschlechtlich zu lieben, nicht beigebracht wird. Dass uns oft die Sprache vorenthalten wird, die uns queere Konzepte aufzeigen könnte. Wörter, die uns erlauben, uns selbst zu sein.
Zehn Jahre später sitze ich in einem Onlinekurs, um mein Hebräisch aufzufrischen. Schon in der ersten Stunde outet sich unsere Lehrperson als nicht-binär. Wir lernen, uns mit Pronomen vorzustellen, und wir sprechen darüber, wie binär die hebräische Sprache gegendert ist. Ich würde gerne eine Zeitreise unternehmen und meinem früheren Ich sagen: Es gibt mehrere «Ich liebe dich». Mehr als zwei, mehr als vier. Es gibt unendlich viele «Ich liebe dich». Und wenn du willst, wirst du sie alle lernen dürfen.
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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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