«Die Sinnlichkeit männlicher Körper beschränkt sich nicht auf Penisse»
Christophe Honoré über seinen neuen Film «Sorry Angel»/«Plaire, aimer et courir vite»
Christophe Honoré erzählt im neuen Film «Sorry Angel»/«Plaire, aimer et courir vite» (in der Schweiz ist er unter dem Originaltitel zu sehen) das Leben zweier völlig unterschiedlicher Menschen im Paris der Neunzigerjahre. Bei der Weltpremiere in Cannes sprachen wir mit ihm über Homophobie in Frankreich und die Bedeutung von Nacktszenen.
Monsieur Honoré, Ihr neuer Film spielt in den Neunzigerjahren, in denen nicht nur einer Ihrer beiden Protagonisten, sondern auch Sie selbst nach Paris kamen. War es Ihre Absicht, persönliche Erfahrungen zu verarbeiten? Einerseits auf jeden Fall. Ich wollte einen Film über meine Jugend drehen und über die Neunzigerjahre, in denen ich aufwuchs. Mindestens genauso wichtig als Motivation für den Film war aber andererseits noch etwas ganz anderes. Denn ich war wirklich schockiert von der Welle der Homophobie, die Frankreich in den letzten Jahren erfasst hat. Über die Tausenden wütender Menschen, die gegen die Ehe für alle auf die Strasse gingen. Daran gab ich auch mir als schwulem Künstler eine Mitschuld, schliesslich ist es doch auch meine Aufgabe und Pflicht, dagegenzuhalten und die Menschen mindestens zum Nachdenken anzuregen und ihnen neue Welten zu eröffnen.
Der jüngere Ihrer Hauptdarsteller, Vincent Lacoste, wurde überhaupt erst 1993 geboren. Wie haben Sie ihm vermittelt, was Ihnen diese Zeit bedeutet? Es ist natürlich nicht leicht, jemanden eine Ära spüren zu lassen, die er selbst nicht erlebt hat. Aber ich persönlich fand schon immer: Je mehr ich als Regisseur mit meinen Schauspielern spreche, desto weniger sage ich tatsächlich. Deswegen suche ich immer nach Wegen, nonverbal zu kommunizieren. Ich empfahl ihm zum Beispiel den Roman «Die Schönheitslinie» von Alan Hollinghurst. Er hat nur die ersten drei Kapitel gelesen, weil er – wie alle französischen Schauspieler – unglaublich faul ist. Aber immerhin bekam er einen Eindruck vermittelt. Ausserdem empfahl ich ihm zum Beispiel den Film «My Own Private Idaho» von Gus van Sant. Denn es ging mir weder darum, dass er konkrete Erfahrungen jener Zeit in Frankreich nachempfinden musste, noch um Nostalgie, sondern lediglich um ein bestimmtes Lebensgefühl.
Lacoste spielt den jungen Arthur, der also in jenen Jahren aus der Bretagne erstmals nach Paris kommt und Filmemacher werden will, genau wie Sie es damals taten. Wie autobiografisch ist denn «Sorry Angel» nun? Der Film ist sicherlich kein Biopic über mich selbst. Doch natürlich ist es kein Zufall, dass mein Protagonist zunächst in Rennes studiert, so wie ich das damals tat. Und natürlich habe ich versucht, meine Erinnerungen an diese Zeit und diese Orte so wahrhaftig wie möglich umzusetzen. In gewisser Weise habe ich diese Erinnerungen noch einmal durchlebt und gleichzeitig meine Schulden bezahlt, um das mal so auszudrücken. Ich träumte damals davon, Regisseur zu werden, ohne dass ich auch nur irgendeinen Bezug zur Filmindustrie hatte. Jede Woche verliebte ich mich in neue Künstler, Filmemacher, Fotografen, Schriftsteller. Mal war es Derek Jarman, mal Robert Mapplethorpe oder Hervé Guibert. Und immer wieder erfuhr ich wenige Monate später, dass diese Männer, deren Kunst mich so berührte und inspirierte, an Aids gestorben waren. Dabei waren sie doch die Einzigen, denen ich meine Arbeit hätte zeigen wollen, als ich schließlich tatsächlich meinen ersten Roman veröffentlichte und irgendwann meinen ersten Film inszenierte. Was hätte ich dafür gegeben, von ihnen in ihrer Mitte begrüsst zu werden.
Zu den zahlreichen grossartigen Szenen Ihres Films gehört eine, in der wir den etwas älteren Protagonisten Jaques (gespielt von Pierre Deladonchamps) zusammen mit seinem todkranken Exfreund in der Badewanne sehen. Wie haben Sie diese Intimität inszeniert? In der Tat eine verdammt schwierige Szene, zumal sie nur aus zwei Einstellungen besteht. Dass sie mir gelungen ist, habe ich nur den beiden Schauspielern zu verdanken, Pierre und Thomas Gonzalez. Die beiden lagen Ewigkeiten nackt im kalten Wasser, in einem echten, winzigen Badezimmer, in das sich eine zehnköpfige Filmcrew quetschte. Und zu all dem kam die Tatsache, dass die beiden nicht nur sehr viel, sondern vor allem einen sehr schwierigen, emotionalen Text zu sprechen hatten. Doch die beiden waren grossartig, nicht zuletzt auch, weil wir ja nicht digital, sondern auf Film drehten und ich angesichts des knappen Budgets die Szene wirklich nicht oft wiederholen konnte. Am Ende haben wir sie zweimal gedreht, aus unterschiedlichen Perspektiven, und daraus habe ich dann das montiert, was man nun auf der Leinwand sieht.
Die Szene ist ein Beispiel dafür, wie Sie Authentizität mit einem gewissen theatralen Flair kombinieren … Das stimmt, die Szene hat etwas Theatrales. Am wichtigsten war mir allerdings, einen Eindruck von Dringlichkeit zu vermitteln. Deswegen spielen so viele Szenen wie möglich in Echtzeit. Ich habe schon ein paar Mal gehört, dass «Sorry Angel» ein bisschen lang sei. Aber das muss für mich so sein. Ich wollte, dass diese Geschichte sich quasi die Zeit nimmt, die sie braucht. Die tiefen Gefühle, um die es hier geht, mussten den Raum haben, sich zu entfalten und sowohl die Schauspieler als auch das Publikum wirklich zu ergreifen.
Sie strengen sich sehr an, bloss keinen Penis zu zeigen. In einer Geschichte, in der es so dezidiert auch um schwulen Sex geht, erscheint das ungewöhnlich. Warum schrecken Sie davor zurück? Zunächst einmal habe ich vor allem die Schauspieler gefragt: Wozu seid ihr bereit, was darf ich zeigen? Und daran habe ich mich dann auch gehalten. Allerdings bin ich bei Sex- und Nacktszenen auch bewusst vorsichtig. Viel zu häufig sehe ich im Kino solche Szenen, in denen die Macht des Regisseurs sich mir aufdrängt. Da merkt man dann oft, dass die Schauspieler*innen einen Widerwillen haben und nicht mit der Kamera interagieren mögen. Das widerstrebt mir wirklich sehr, denn mir ist es unangenehm, wenn sich der Mensch hinter der Kamera in den Vordergrund drängt. Wenn jemand etwas nur macht, weil er es kann, hat das für mich in einem Film nichts zu suchen.
Es ist unangenehm, wenn sich der Mensch hinter der Kamera in den Vordergrund drängt.
Haben Sie ein Beispiel dafür, was Sie meinen? Klar, denken Sie an «Blau ist eine warme Farbe». Ich mochte den Film. Aber schon als ich ihn das erste Mal sah, lange bevor die Schauspielerinnen sich öffentlich über die schwierigen Dreharbeiten beschwerten, war für mich offensichtlich, dass diese langen Sexszenen vor allem dem Vergnügen des Regisseurs dienten. Das störte mich ungemein, denn was Abdellatif Kechiche da tat, war für mich eindeutig ein Missbrauch seiner Autorität als Filmemacher gegenüber zwei jungen Darstellerinnen.
Wie sahen denn die Gespräche mit Ihren Schauspielern bezüglich der Nacktheit aus? Ich bin wirklich mit den Schauspielern die einzelnen Körperpartien durchgegangen, die ich zeigen wollte. Für Pierre war klar, dass er nicht seinen Schwanz im Bild haben will. Vincent war vollkommen überrascht von meinen ganzen Fragen. Warum willst du meinen nackten Rücken filmen, daran ist doch nichts erotisch, fragte er zum Beispiel. Wo ich natürlich heftig widersprach. Denis Podalydès wollte gar nichts zeigen, also trägt er im Bett eine Unterhose. All diese Absprachen waren mir wichtig, und ich habe mich immer daran gehalten. Denn was hätte ich davon, wenn sich meine Schauspieler unwohl fühlen?
Gleichzeitig gehört Nacktheit aber doch auch dazu, wenn man vom Begehren erzählt? Sicherlich, deswegen ist sie ja auch in «Sorry Angel» präsent. Die Sinnlichkeit männlicher Körper, die ich unbedingt zeigen wollte, beschränkt sich ja nicht auf Penisse. Aber ich stimme Ihnen zu: Gerade in schwulen Geschichten finde ich den Umgang mit Sex und Nacktheit oft scheinheilig. Wenn man zwei Kerle sieht, die zusammen ins Bett steigen, und dann filmt die Kamera verschämt das Schlafzimmerfenster – das ist doch ätzend! Denn das ist bloss ein Zeichen der moralischen Verlogenheit des Regisseurs.
Christophe Honoré
Seit über 15 Jahren gehört der 48-jährige Christophe Honoré, der seine Karriere als Journalist und Schriftsteller begann, zu den spannendsten und vielseitigsten Regisseuren des französischen Kinos. Nicht immer, aber immer wieder widmet sich der schwule Filmemacher dabei LBGTIQ-Themen und -Protagonisten, etwa in der Inzest-Geschichte «Meine Mutter» mit Isabelle Huppert und Louis Garrel, im Musical «Chanson der Liebe» oder «Mann im Bad – Tagebuch einer schwulen Liebe» mit Pornoikone François Sagat. Nun kommt sein neuer Film «Sorry Angel» in die Kinos, die 1993 angesiedelte, komplizierte Liebesgeschichte zwischen einem HIV-positiven Schriftsteller und einem Studenten.
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