Coming-out in Irland: Graham Nortons biografischer Roman
In «Home Stretch» schildert der BBC-Moderator die LGBTIQ-Entwicklungen auf der Grünen Insel
Die meisten kennen Graham Norton natürlich als Moderator von «The Graham Norton Show» bei der BBC, weil dort so ziemlich jeder Promi vorbeigeschaut und witzige Sachen gesagt hat, die man dann auf YouTube anschauen kann.
Dass der 1963 in Südirland geborene Norton schwul ist, ist auch bekannt. Er kommentiert den Eurovision Song Contest fürs britische Fernsehen und sitzt in der Jury zu «RuPaul’s Drag Race UK». Zwischendurch spielte eine kleine Rolle in «Another Gay Movie» und debütierte sogar im Musical «La Cage aux Folles» im Londoner West End.
Er ist ausserdem an einem Weingut beteiligt, das mit seinen Namen auf Flaschen im Supermarkt wirbt, und es gibt einen Gin mit seinem Namen auf dem Etikett. Zudem existieren zwei mit Kritikerpreisen überhäufte Autobiografien: 2004 kam unter dem Titel «So Me» Teil 1 seiner Memoiren raus, 2014 folgte «The Life and Loves of a He-Devil».
Weniger bekannt ist, dass Norton seit 2016 auch Romane veröffentlicht, um mal etwas Zeit für sich zu haben, wie er in einem Interview sagte, «und ohne ständig alles in Meetings mit anderen besprechen zu müssen». Zuerst erschien «Holding» über einen Mordfall im ländlichen Irland, 2018 folgte «Keeper». Beide waren lange in den Bestseller-Listen (auch in Deutschland) und gewannen viele Preise. Im Corona-Jahr 2020 kam dann als dritter Roman «Home Stretch» heraus, der im Herbst 2021 auf Deutsch unter dem Titel «Heimweh» erscheinen wird beim Kindler Verlag, übersetzt von Silke Jellinghaus, parallel wird’s ein Audiobuch mit Charly Hübner als Sprecher geben.
Nach Nervenzusammenbruch aus Irland geflüchtet Wirklich bemerkenswert an «Home Stretch» ist, dass Norton hier erstmals eine schwule und stark autobiografisch gefärbte Geschichte ausbreitet, die mehr oder weniger die Gay-Liberation-Entwicklungen im erzkatholischen Irland seit den 1980er-Jahren spiegelt und mit vielen überraschenden Wendungen Einblick in die zutiefst homophobe Gesellschaft von damals liefert, die Menschen kaputt machen konnte. Menschen wie Norton, der in Clondalkin (County Dublin) geboren wurde und in den 1980er-Jahren in Cork zur Universität ging, bevor er einen Nervenzusammenbruch hatte und ohne Abschluss von der Insel flüchtete.
Er ging in die USA nach Kalifornien und lebte mit 20 in einer Hippie-Kommune bei San Francisco, wo er nach eigener Auskunft den «wichtigsten Impuls» bekam, jenen «irischen Kleingeist» zu überwinden, vor dem er geflohen war, und etwas Grosses aus sich zu machen. Er ging nach London und machte eine Schauspielausbildung. Daraus ergab sich dann seine erfolgreiche Karriere als Comedian und Moderator.
Was es bedeutete, in den späten 1980er-Jahren in Irland zu leben, schildert er in «Home Stretch». Der Roman beginnt mit einem Autounfall in der Nähe der Küstenstadt Cork, wobei drei von sechs jungen Mitfahrenden nach einem Strandausflug sterben und eine weitere Person im Rollstuhl landet. Das Ganze passiert am Tag vor einer grossen Hochzeit; das Brautpaar gehört zu den Toten. Die Schuld an diesem Unfall wird dem jungen Connor zugeschoben – der so etwas ist wie Nortons «alter ego».
Connor bricht unter der Schuld zusammen und geht nach Liverpool zum Bau, wo er von Mitbewohnern in einer WG schwulenfeindlich angemacht wird. Daraufhin haut Connor komplett ab – nach London. Das bedeutet, dass er jeden Kontakt zu seinen alten Freunden und zu seiner Familie in Irland abbricht. Aus Scham über sein Schwulsein, von dem er glaubt, seine Eltern und Schwester würden das nicht akzeptieren können, schon gar nicht die anderen Dorfbewohner, deren Kinder am Unfall beteiligt waren.
Beziehungsende nach zwei Jahrzehnten Wir erleben im Roman, wie Connor langsam seinen Weg als schwuler Mann findet und eine lange Beziehung mit einem erfolgreichen Theatermann eingeht, mit dem er in teuren Wohnungen leben kann und durch die Welt reist. Er scheint endlich Frieden und Glück gefunden zu haben.
Dann macht der Roman einen Sprung und zeigt, wie Connor um die 50 Jahre alt in New York damit klarkommen muss, verlassen worden zu sein nach fast zwei Jahrzehnten Beziehung, für einen Jüngeren. Wie soll der damit umgehen, wie verhält er sich gegenüber dem Ex, dem er sich immer noch freundschaftlich verbunden fühlt (und umgekehrt)? Und dann trifft Connor in einer New Yorker Bar eines nachts auch noch einen attraktiven jungen Mann, der sich als sein irischer Neffe herausstellt, der die Semesterferien in New York verbringt. Er hat einen Umgang mit Homosexualität, befreit und selbstverständlich, der das absolute Gegenteil von Connor ist. Die beiden Männer stehen sich verständnislos – aber neugierig – gegenüber.
Es ist nicht möglich, den weiteren Inhalt des Buchs hier zu erzählen, ohne zu spoilern. Was schade wäre, weil die Überraschungen im Roman wirklich überraschend sind. Und so verblüffend, dass sie allemal dafür kompensieren, dass die Sprache durchweg konventionell bleibt; kein Vergleich zur Brillanz von Jamie O’Neills «At Swim, Two Boys», dem herzzerreissenden irischen Historienroman von 2001, der auch zeigt, wie schwule Männer an der katholischen Gesellschaft scheitern (allerdings in der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts).
Nur so viel sei verraten: Der Neffe bringt mit seinen Erzählungen übers LGBTIQ-Leben in Irland Onkel Connor dazu, seine Meinung zur verlassenen Heimat – wie er sie aus den 80er-Jahren kannte – zu überdenken. Und dem modernen Irland eine Chance zu geben.
Versöhnung mit dem Heimkehrer Für mich, dessen Familie ebenfalls aus dem ultrakatholischen (Nord)Irland kommt und der in den 80ern dort aufgewachsen ist, mit Erlebnissen, die 1:1 dem entsprechen, was Norton schildert, war es teils ergreifend, diesen Roman zu lesen. Und die Versöhnung mit dem Heimkehrer so detailliert mitzuverfolgen, weil auch diese dem entspricht, was ich mit meiner eigenen Familie erlebt habe, seit die irische Gesellschaft das Joch der katholischen Kirche abgeschüttelt hat. (Nur im Norden irrlichtern noch einige unbelehrbare Protestanten umher, die fast noch schlimmer sind, wenn es um LGBTIQ-Rechte geht, MANNSCHAFT berichtete.)
Besonders eindringlich ist am Ende der Moment, wo Graham Norton in der Danksagung seine Bewunderung für all jene Leute ausdrückt, die nicht wie er dem Land den Rücken gekehrt haben, sondern für Wandel vor Ort gekämpft haben, als es nötig war – und als wirklich schwer war. Norton erkennt sie als die wahren Helden an, die für eine junge Generation (zu der Connors Neffe gehört) all die Freiheiten möglich gemacht haben, die wir heute mit Irland assoziieren. Wo es sogar einen schwulen Premierminister gab, wegen dessen sexueller Orientierung niemand mehr mit der Wimper zuckte.
Schwingt das liberale LGBTIQ-Pendel gerade zurück? Kürzlich gab Norton zu «Home Stretch» einen Google-Talk, in dem er verriet, dass er schon mit 20 davon geträumt habe, einen Roman zu schreiben. Er habe das damals jedoch nicht umgesetzt, weil er die meiste Zeit besoffen gewesen sei. Erst mit über 50 wurde sein Leben «ruhiger», so dass er sich hinzusetzen konnte, um Literatur zu kreieren. Seine Bücher seien heute «wärmen» und «einfühlsamer», als sie es gewesen wären, hätte er sie damals verfasst, denn da wäre sein Stil zwar «lustiger» gewesen, aber auch «bitterer» und «böser».
Er gesteht auch, dass er es heute als «alter Mann» liebe, nach Irland «nach Hause» zurückzukehren. Zu der verblüffenden Liberalität, die er dort heute vorfindet, sagt er, dass man diese nie als selbstverständlich ansehen sollte. Im Gegenteil, er merke, wie das Pendel bereits seinen höchsten Ausschlagpunkt erreicht und eine Gegenbewegung eingesetzt habe. Über solche Pendelbewegungen habe er mit RuPaul gesprochen. Dieser frage sich angesichts der aktuellen LGBTIQ-Nachrichten immer wieder: «Haben wir das nicht schon alles vor 20 Jahren erledigt?» (MANNSCHAFT berichtete darüber, wie viele LGBTIQ die eigene queere Geschichte nicht kennen.)
Im Google-Talk verrät Norton, dass sein Debütroman derzeit in Irland als vierteilige Serie verfilmt werde. Ob eine Verfilmung von «Home Strech» folgen wird, lässt er offen. Nur so viel sagt er: Wenn jemand «ihn» spielen müsste, dann sollte das bitteschön Zac Efron sein. Eine reizvolle Vorstellung.
Da die Sprache im Roman konventionell gehalten ist, muss man nicht unbedingt warten, bis die 400-seitige deutsche Übersetzung da ist. Man kann auch gleich das Original lesen. Eine von Norton selbst gelesene Hörbuchfassung gibt es übrigens auch, sie dauert acht Stunden und 45 Minuten.
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