«Westpfahl-Bericht»: Missbrauchsgutachten 12 Jahre unter Verschluss

Das Gutachten zum Umgang des Erzbistums München mit sexuellem Missbrauch soll endlich vorgestellt werden

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (Foto: Sven Hoppe/dpa-Pool/dpa)
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (Foto: Sven Hoppe/dpa-Pool/dpa)

Es wird ernst im Erzbistum München: Am Donnerstag soll ein lange unter Verschluss gehaltenes Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch vorgestellt werden. Im Mittelpunkt der Debatte: ein Papst. Darüber berichtet Britta Schultejans.

Was steht drin im berüchtigten Westpfahl-Bericht? Diese Frage stellen sich Betroffene und Kirchenkritiker*innen nun seit zwölf Jahren. So lange schon lag der Bericht über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising gut verschlossen bei der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW).

2010 hatte München als erste deutsche Diözese diesen externen Bericht zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt erstellt – der aber nie veröffentlicht wurde. Warum nicht? Darüber wurde nun jahrelang spekuliert.

An diesem Donnerstag soll es Klarheit geben. Denn dann stellt die Kanzlei WSW ein neues Gutachten vor, das auf den Ergebnissen des ersten fussen und dessen Prüfung bis in die Kirchenspitze reichen soll. (MANNSCHAFT über Forderungen an die deutsche Politik, sich bis 2032 stärker zu säkularisieren und von der Kirche zu trennen.)

Kardinal Ratzinger betroffen Das ist im Münchner Bistum vor allem deshalb brisant, weil einer der Vorgänger des heutigen Erzbischofs, Kardinal Reinhard Marx, von 1977 bis 1982 niemand geringerer war als Kardinal Joseph Ratzinger, der heute emeritierte Papst Benedikt.

Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, beim Weihnachtsgottesdienstes 2021 im Münchner Dom zu Unserer Lieben Frau (Foto: Lennart Preiss/dpa)
Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, beim Weihnachtsgottesdienstes 2021 im Münchner Dom zu Unserer Lieben Frau (Foto: Lennart Preiss/dpa)

Kritiker*innen werfen ihm schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten vor – konkret beim Umgang mit dem Priester H. aus Nordrhein-Westfalen. Der Mann soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers aus NRW nach Bayern versetzt, wo er rückfällig wurde.

Der Fall dieses Priesters H., so wird es erwartet, wird einen wichtigen Teil in dem Gutachten einnehmen. Das Amtsgericht Ebersberg verurteilte den in Grafing bei München tätigen damaligen Kaplan H. im Juni 1986 wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 4000 Mark. Die Bewährungszeit wurde auf fünf Jahre festgesetzt.

H. wurde angewiesen, sich in eine Psychotherapie zu begeben – und die Kirche machte ihn nur knapp 60 Kilometer entfernt in Garching an der Alz zu Pfarrer. Bislang haben sich vier mutmassliche Betroffene gemeldet, die angeben, in Garching von Priester H. missbraucht worden zu sein. (MANNSCHAFT über einen schlagzeilenmachenden Missbrauchsfall in Polen, wie das Bistum dem damals 12-Jährigen eine Mitverantwortung zuweisen will.)

Schwierigkeiten einer therapeutischen Behandlung von Pädophilen unterschätzt Als der Fall 2010 bekannt wurde, formulierte Marx‘ Vorgänger im Amt des Münchner Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter, eine Entschuldigung: «Ich habe die Fähigkeit eines Menschen zu persönlicher Umkehr überschätzt, und ich habe die Schwierigkeiten einer therapeutischen Behandlung von pädophil Veranlagten unterschätzt. Mir ist jetzt schmerzlich bewusst, dass ich damals eine andere Entscheidung hätte treffen müssen.»

Bekannt ist, dass es ein kircheninternes Dekret zum Fall H. aus dem Jahr 2016 gibt, aus dem in den vergangenen Jahren mehrere Medien zitierten. Zuletzt berichtete die Zeit, dass darin auch Ratzinger explizit genannt werde: Obwohl er von der Vorgeschichte des mutmasslichen Missbrauchspriesters Kenntnis gehabt habe, habe er ihn in seinem Bistum aufgenommen und eingesetzt. (MANNSCHAFT berichtete über ein Enthüllungsbuch, in dem behauptet wird, 80 Prozent aller Priester im Vatikan seien schwul.)

«Statt kirchenrechtlich widersprüchlicher und damit wenig glaubwürdiger Dementi sollte Joseph Ratzinger beziehungsweise sein Sekretär Erzbischof Georg Gänswein sich nicht vor der damaligen Verantwortung drücken», fordert Christian Weisner, Sprecher der Reformbewegung «Wir sind Kirche». Er sieht «katastrophale Langzeitfolgen für das Ansehen der Kirche» und «ein trauriges Muster der üblichen Vertuschungen».

Georg Gänswein (Foto: Patrick Seeger/dpa)
Georg Gänswein (Foto: Patrick Seeger/dpa)

Passend dazu sagt am Dienstag, zwei Tage vor der Vorstellung des Gutachtens, der Hamburger Erzbischof Stefan Hesse als Zeuge in einem Missbrauchsprozess am Landgericht Köln aus.

Hätte die Kirchenführung weitere Missbrauchstaten verhindern können? Hesse war 2010 als Personalchef des Erzbistums Köln mit dem Fall eines Priesters befasst, der jetzt wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht steht. Bei der Befragung Hesses könnte es auch darum gehen, ob die Kirchenführung weitere Missbrauchstaten des Mannes hätte verhindern können.

Ratzingers Privatsekretär Georg Gänswein hatte die Vorwürfe gegen seinen Chef jüngst der Zeit gegenüber entschieden zurückgewiesen: «Die Behauptung, er (Benedikt) hätte Kenntnis von der Vorgeschichte zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme des Priesters H. gehabt, ist falsch», sagte er.

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. «begrüsst die Aufarbeitung in München sowie die Veröffentlichung des Gutachtens», sagte Gänswein der Bild-Zeitung. Der frühere Erzbischof des Bistums München und Freising habe mit einer umfangreichen Stellungnahme zur Aufarbeitung beigetragen.

Kirchenkritiker Weisner hofft, «dass das zweite Münchner Missbrauchsgutachten auch ethische Kriterien miteinbezieht und konkrete Vorschläge macht, um weitere Missbräuche und Vertuschungen bestmöglich auszuschliessen». Er betonte: «Verantwortung kann nicht verjähren.»

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