«Was würde sich für dich nach Drag anfühlen?»
Anna Rosenwasser zwischen High Heels und Fliege
Eines Tages hat sich unsere Autorin von Schuhen verabschiedet, die sie nicht schmerzfrei einen Tag lang tragen kann. Seither sind High Heels kein Thema mehr für sie, die sich als Femme bezeichnet. Das wäre Drag, schreibt sie in ihrer Kolumne*.
Kürzlich habe ich eine Konferenz moderiert, bei der es um Gleichstellung zwischen den Geschlechtern ging. Die Teilnehmenden kamen aus allen möglichen Bereichen: Verwaltung, Sport, Akademie. Es waren Beamte da, die sich bisher nur marginal mit Gender auseinandergesetzt hatten, und Berufsqueers, die dazu forschen. Interessante Mischung. (Es blieb sehr friedlich.)
Nach dem Abendessen war ein Programm geplant: Drag. Und zwar nicht ein Auftritt, wo man einfach konsumierend dasteht und sich fragt «Wie hat er das hingekriegt?», sondern die Aufforderung, sich selbst auszuprobieren. Vielleicht einen Fingernagel lackieren lassen oder grosse Herrenschuhe tragen. Womöglich ein Paillettenkleid anziehen oder sich Barthaare ankleben.
Die Konferenz-Teilnehmenden tasteten sich langsam heran, mit sichtbarer Freude oder spürbarer Überwindung. Dafür liebe ich Drag, für genau beides, den Spass, den es macht, und den Mut, den es kostet. Den Schalk, hinter dem man sich dabei verstecken kann, und die Erkenntnisse, die einen dann eben doch einholen. Wie rappte Sookee so schön? «Wir sind nackt geboren, der Rest ist Drag.»
Ich stand da also, etwas abseits. Quasi aus Gruppendruck nahm ich mir ein Hemd und eine Fliege, schlüpfte rein, liess mir einen Schnauz aufkleben. Ich habe schon längst einen Dragking-Namen: Ich heisse Jonathan Einhorn. Aber: Ich bin erstaunlich ungern Jonathan Einhorn. Ich weiss nicht, warum; ich verwandle mein Äusseres gern, ich kokettiere auch im Alltag mit dem männlichen Habitus, und Dragkings feiere ich. Aber selbst zu einem King werden, beklemmt mich immer wieder.
Nach wenigen Minuten nahm ich den Schnauz wieder weg, zog mir das Hemd wieder aus. Dann stand ich etwas bedröppelt da, out of drag, während die anderen sich immer mehr aufdraggen. Eine Teilnehmerin, an deren Tisch ich beim Abendessen sitzen durfte – ü40-Lesbentisch, bester Tisch! –, stellte sich zu mir. Auch sie war nicht verkleidet. «Wir haben das quasi hinter uns», sagte sie lächelnd zu mir. «Wir haben genug zu tun, wr selbst zu sein», entgegnete ich. Wir sahen in die draggende Menge, dann wandte sie sich an mich: «Was würde sich für dich nach Drag anfühlen?» Ich glaube, das hat mich noch nie wer gefragt.
Bi the way
«Bisexuell, Berufsaktivistin und Büsi*-Fanatikerin. Anna Rosenwasser ist Polit-Influencerin und lebt in Zürich.»
[email protected] *Büsi ist Schweizerdeutsch für Katze Illustration: Sascha Düvel
Nach binären Konventionen wäre mein Drag Jonathan Einhorn. In dem Moment aber, zwischen ganz vielen Leuten, die gerade mit Gender spielen, und einer coolen Lesbe, die die Spielregeln längst gesprengt hat, wurde mir klar, was Drag für mich wäre. «Hohe Schuhe», antwortete ich. Ich bin eine Femme, also eine queere Frau, die sich gern feminin gibt – aber in High Heels habe ich mich seit jeher immer verkleidet gefühlt. Als wäre Frausein ein Theaterstück anstatt ich selbst. Eines Tages habe ich beschlossen, keine Schuhe mehr zu tragen, die ich nicht schmerzfrei einen Tag lang anhaben kann, und seither sind hohe Schuhe kein Thema mehr.
Nur: Zu hohen Schuhen bringt mich kein Drag-Abend dieser Welt. Als ich mich Stunden später ins Hotelbett fallen liess, merkte ich, dass ich die Fliege noch um den Hals trug. So schnell werde ich Drag doch nicht los.
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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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