Warum sich schwule Männer mit «All of Us Strangers» identifizieren

Andrew Scott in «All of us Strangers».
Andrew Scott in «All of Us Strangers». (Bild: Searchlight Pictures)

Es wird kaum darüber gesprochen und doch ist das Nachholen für viele schwule Männer ein Bedürfnis. Der Kommentar* von Peter Fässlacher.

Es gibt kaum ein Thema im Leben schwuler Männer, über das so wenig gesprochen wird, wie über das Motiv des Nachholens. Gemeint ist damit so gut wie jede Erfahrung, die man in jungen Jahren verpasst hat, weil existentielle Fragen der Identität alles überlagert haben. Mit dem Nachholen aufzuhören, ist deshalb eine entscheidende Entwicklungsaufgabe, um als Erwachsener innerlich zur Ruhe zu kommen.

Eine Geschichte über das Nachholen ist zum Beispiel der Kinofilm «All of Us Strangers». Der schwule Adam besucht darin seine bereits toten Eltern im Haus seiner Kindheit, um mit ihnen regelmässig Zeit zu verbringen. Er selbst ist mittlerweile Mitte 40, seine Eltern sind aber die Eltern seiner Kindheit geblieben und nicht mitgealtert, weil sie gestorben sind, als Adam zwölf Jahre alt war. Diese surreale und originelle Idee erlaubt es Adam, ganz wesentliche Erfahrungen des Nachholens zu machen:

#1 Identität

Adam holt das Sprechen über sein Schwulsein nach. Er erzählt seinen Eltern von sich selbst – aber als erwachsener Mann, in einem Alter, in dem das Thema für ihn bereits integriert ist und kein Problem mehr darstellt. Er erzählt es ohne die Angst des Kindes, zurückgewiesen zu werden, sondern mit dem Selbstbewusstsein eines erwachsenen Mannes, der einfach möchte, dass seine Eltern wissen, wer er ist.

#2 verpasste Erfahrungen

Adam holt das Aufwachsen als offen schwules Kind nach. Das gemeinsame Christbaumschmücken bekommt so eine völlig andere Dimension, wenn seine Mutter bereits weiss, wer er ist. Es ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber diese Erfahrung ist vielen schwulen Männern fremd: Als Kind Alltägliches zu tun, ohne Wesentliches der eigenen Identität zu verstecken.

#3 Trauern zulassen

Adam lernt, dass das Nachholen ein Ende haben muss. Als ihm seine Mutter sagt, dass er sie nicht mehr besuchen kommen solle, gibt sie Adam die Möglichkeit, um diese verpasste Zeit zu trauern. Erst wenn man mit dem Nachholen aufhört, ist echte Entwicklung möglich.

«All of Us Strangers» begleitet Adam durch wichtige Phasen des unbewussten Nachholens und endet mit der Trennung von den Eltern und der Trauer über die Unmöglichkeit des Nachholens von nie Gelebtem. Seine Eltern verhindern, dass aus seinem unbewussten Nachholen ein lebenslanges Nachholen wird, das kein Ende finden würde. Damit ermöglichen sie ihm, dass er nicht im Nachholen gefangen bleibt und als Erwachsener weiterleben kann.

Aber auch seine Eltern können etwas Nachholen: Beide entschuldigen sich auf ihre Weise bei Adam. Der Vater mit einer Umarmung, die Mutter, als sie beim Christbaumschmücken die Liedzeile von «Alyways on my mind» leise mitsingt: «Maybe I didn't treat you, quite as good as I should have. Maybe I didn't love you, quite as often as I could have. Little things I should have said and done, I just never took the time. You were always on my mind. You were always on my mind.» Und so, wie sich die beiden bei Adam entschuldigen, tun sie es auch bei allen, die im Kino sitzen und eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, stellvertretend für die eigenen Eltern.

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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

Peter Fässlacher

Peter Fässlacher

Er ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. Er lebt in Wien.

[email protected] Illustration: Sascha Düvel

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