Warum nach dem ESC-Finale keine Autos brennen

Bevor der Contest in Liverpool beginnt, singt unser Autor das Hohelied auf die friedlichen Fans

Solche Szenen wie in der Stuttgarter Mercedes-Benz-Arena sieht man beim ESC nie (Foto: Marijan Murat/dpa)
Solche Szenen wie in der Stuttgarter Mercedes-Benz-Arena sieht man beim ESC nie (Foto: Marijan Murat/dpa)

Fussball-Fans richten jedes Jahr Schäden an, deren Beseitigung zweistellige Millionensummen kosten. Randale, Prügel und Pyrotechnik sieht man beim ESC dagegen nie. Zeit, sich dafür bei den queeren Fans zu bedanken.

Ich weiss, Eigenlob riecht unangenehm. Aber wem das stinkt, der kann ja nach Lesen dieses Kommentars* kräftig durchlüften.

Spulen wir mal eine Woche vor: Das Finale des Eurovision Song Contest 2023 ist gelaufen, die Siegerin oder der Sieger wurden gekürt, sie (vermutlich Loreen aus Schweden) oder er (möglicherweise der Finne Käärijä) geben nochmal ihren Beitrag zum Besten. Danach strömen die Fans nach draussen, einige arg enttäuscht. Nehmen wir, der Einfachheit halber, den deutschen Fanblock: Dort hatte man sich endlich mal wieder einen besseren Platz erhofft als den letzten oder vorletzten und dann tröpfelten die Punkte doch wieder nur spärlich rein (Ältere Männer kennen das, wenn sie aufs Klo gehen.)

Die Luft in der lauen Liverpudlian Nacht ist nicht dazu angetan, die Gemüter zu beruhigen. Die ersten Fans von Lord of the Lost schimpfen noch in der Arena, von Schiebung ist die Rede. Das gefällt den Fans aus Skandinavien gar nicht. Das lassen sie nicht auf Loreen sitzen, auf Käärijä schon gar nicht.

Aus Wut und Enttäuschung werden Toiletten und Waschbecken in den Sanitäranlagen zerstört. Draussen kommt es zu Strassenschlachten, Autos brennen, Schaufensterscheiben gehen zu Bruch. Die Pyro-Industrie verdient sich in dieser Nacht dumm und dusselig.

Natürlich passiert all das nicht. Anders als etwa beim Champions-League-Achtelfinale-Rückspiel in Neapel vor ein paar Wochen, nach dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt. In der italienischen Stadt wurden Polizist*innen von vermummten Ultras und Hooligans mit Tischen und Stühlen beworfen, zudem wurde mindestens ein Polizeiwagen in Brand gesteckt. Als Neapel vor drei Tagen italienischer Meister wurde, verletzten sich einige Menschen durch Pyrotechnik, es wurden etliche Stichwunden verzeichnet. Ein Mann starb, der Vorfall hatte wohl aber nichts mit dem Fussballspiel zu tun.

Warum passiert das nicht beim Finale des Eurovision Song Contest? Zum einen fehlt beim ESC die patriotische oder gar nationalistische Komponente: Österreichische Fans stimmen nicht automatisch für den österreichischen Song, spanische brennen nicht zwingend für den spanischen und so fort.

Zum anderen: Weil schwule Männer, Ausnahmen mögen die Regel bestätigen, nicht dazu neigen, Toiletten und Altstädte in Schutt und Asche zu legen, weder heimische noch jene in der Fremde. Fehlt ihnen das Testosteron? Eher nicht. An der Universität Lübeck hat man beispielsweise herausgefunden, dass Frauen mit einem höheren Testosteronspiegel weniger aggressiv auf Provokationen reagieren als Männer, tatsächlich hat Testosteron bei Frauen eher einen prosozialen Effekt, löst also eher Hilfsverhalten aus.

Gewalt auszuüben kann eine Form sein, die nicht ausgelebten Gefühle zu kanalisieren.

Aggressives Verhalten, das sagt Josef Aldenhoff, Psychotherapeut und Buchautor («Mensch Mann! Was ist los in Männerseelen?») ist vielmehr auf bestimmte Werte zurückzuführen, die man Männern schon in der Kindheit aufdrückt — auch wenn die nicht zwingend etwas mit Gewalt zu tun haben. Blödsinnige Floskeln wie «Ein Indianer kennt keinen Schmerz» oder «Jungs weinen nicht» können sich demnach ernsthaft auf die Fähigkeit auswirken, gut mit eigenen Empfindungen umzugehen. «Der Zusammenhang zwischen dem Unterdrücken von Gefühlen und der Entwicklung einer Depression ist ziemlich eindeutig. Gewalt auszuüben kann eine Form sein, die nicht ausgelebten Gefühle zu kanalisieren», erklärt Aldenhoff dem Business Insider.

Über die Ursachen mag man streiten, aber fest steht: Schwule Männer, Queers insgesamt prügeln sich nicht darum, ob das richtige Team gewonnen hat oder ob die Kandidatin aus Malta alle Töne getroffen hat. Sie blockieren nach Abschluss der jährlichen ESC-Feierlichkeiten nicht mal die Hauptverkehrsstrassen in Wien, Stockholm oder London, um ihre übersprudelnde Freude dem Rest der Bevölkerung aufs Auge und vor allem: aufs Ohr zu drücken. Und es liegt sicher nicht an mangelnder Leidenschaft, die sie für diesen Wettbewerb, den ESC, empfinden.

Ich möchte den Fans des europäischen Profifussballs wiederum nicht unterstellen, besonders leidenschaftlich unterwegs zu sein (das Attribut, das ich im Kopf habe, lautet: primitiv). Dennoch hat man herausgefunden: Wo Männer profimässig kicken, steigt die Zahl der Gewaltdelikte um ein Fünftel. Zu diesem Ergebnis kam das deutsche Ifo-Institut letztes Jahr nach Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik. «Fussballspiele der ersten bis dritten Liga führen dort zu 21,5 Prozent mehr Gewalttaten, als an den jeweiligen Wochentagen sonst zu erwarten sind», erklärte Helmut Rainer, Leiter des ifo Zentrums für Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsökonomik.

38’268 einfache Körperverletzungen im Zusammenhang mit Fussball  Für den betrachteten Zeitraum von viereinhalb Jahren schätzt das Ifo-Institut die Zahl auf 38’268 einfache Körperverletzungen im Zusammenhang mit Fussballspielen. Das verursacht Kosten von rund 194 Millionen Euro bei der Polizei, den Staatsanwaltschaften und Gerichten, durch Verdienstausfall und durch Krankenbehandlungen. Das entspricht im Jahr rund 44 Millionen Euro. Auch die Deutsche Bahn muss im Umfeld von Risikospielen Sachbeschädigungen durch Fans beseitigen, das kostet nochmal jährlich einen einstelligen Millionenbetrag.

Diesen Ärger machen queere ESC-Fans einfach nicht. Und um fair zu bleiben: Auch die grosse Mehrheit der (mehrheitlich mutmasslich heterosexuellen) männlichen Fussball-Fans und auch der weiblichen Fans haben sich im Griff. Aber 44 Millionen sind ein ordentliches Sümmchen.

Mit dem Geld könnte man doch ein bisschen den friedlichen ESC subventionieren (2021 zahlte Deutschland laut eurovision.de lediglich eine Teilnahmegebühr von 396’452 Euro) und so die unverschämt teuren Tickets wieder erschwinglich machen. Oder, noch besser, man investiert es in Projekte, die sich mit Opferhilfearbeit, Gewaltprävention und Demokratiebildung befassen, um beispielsweise queerfeindliche Hassgewalt zu bekämpfen. Als kleines Dankeschön zwischendurch. Denn: Erweisen sich queere ESC-Fans nicht jedes Jahr aufs Neue als richtig dufte Staatsbürger?

Schwule Expertise für Liverpool: Graham Norton führt durch das ESC-Finale. Der gebürtige Ire ist einer von vier Moderator*innen (MANNSCHAFT berichtete).

* Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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