Wir sind 100 Jahre im Verzug: Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt
Sexualpädagoge und Sozialwissenschaftler Jeff Mannes über die geschlechtliche Vielfalt in der Natur
In der Natur gebe es nur Mann und Frau – das sei wissenschaftlicher Fakt, schreibt Philosoph Norbert Campagna. Sexualpädagoge Jeff Mannes widerspricht ihm in seinem Kommentar*: Menschliche Interpretationen sind in der Wissenschaft fehl am Platz.
Im Luxemburger Wort vom 18./19. November 2023 veröffentlichte der Philosoph Norbert Campagna einen Meinungsartikel, in dem er eine Binarität der Geschlechter als wissenschaftlichen Fakt darstellt. Als sein ehemaliger Schüler und heutiger ausgebildeter Sexualpädagoge und Sozialwissenschaftler mit Fokus auf Geschlecht möchte ich dazu ein paar Fakten in seine irreführende Argumentation bringen.
In der Naturwissenschaft herrscht keine Einigkeit darüber, dass Geschlecht binär sei. Vielmehr gibt es viele Wissenschaftler*innen, die diese Binarität in Frage stellen. Das leugnet Norbert Campagna jedoch und zitiert dafür eine (einzige) wissenschaftliche Publikation.
Und darin liegt das Problem: Für die Gegenposition, dass Geschlecht nicht binär sei, kann ich ebenso wissenschaftliche Publikationen zitieren. Eine auch für Laien verständliche und im Internet öffentlich zugängliche Publikation ist beispielsweise der Artikel «Sex Redefined: The Idea of 2 Sexes Is Overly Simplistic» der Genetikerin Claire Ainsworth im Magazin Scientific American vom 22. Oktober 2018.
Was folgt daraus? Wissenschaft ist mehr als eine einzige wissenschaftliche Publikation. Und wissenschaftliche Erkenntis ist unabhängig von einzelnen Wissenschaftler*innen. Vielmehr muss man sich das gesamte Bild zur Geschlechterwissenschaft ansehen, um die Komplexität besser zu verstehen und sich der Wahrheit anzunähern. Das möchte ich hier versuchen.
Als vor etwas mehr als einhundert Jahren die moderne Sexualwissenschaft durch den jüdischen Mediziner Magnus Hirschfeld in Berlin begründet wurde, avancierte die Stadt schnell zum Magnet für Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt. Sein Institut im Berliner Tiergarten war nichts weniger als eine wissenschaftliche Revolution, wenn auch noch jung und zerbrechlich.
Schnell kam Hirschfeld durch seine Untersuchungen zur Schlussfolgerung, dass Geschlecht nicht binär sei, sondern ein Kontinuum. An einem gewissen Moment sprach er von sechzehn verschiedenen Geschlechtskategorien, die alle eine Ausprägung von männlich, weiblich, oder männlich und weiblich haben können. Theoretisch führe das zu der Möglichkeit von drei hoch sechzehn Geschlechtsausprägungen, also insgesamt 43’046’721. Praktisch jedoch sah er Geschlecht als Kontinuum. Für die Menschen, die sich grob in der Mitte dieses Kontinuums befanden, prägte er den Begriff «sexuelle Zwischenstufen».
Auch wenn wir heute durch unsere modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse einige von Hirschfelds Überlegungen widerlegt haben: Heute kommen wir immer mehr auf seine Erkenntnis zurück, dass Geschlecht keine Binarität ist. Aber warum erst heute? Was war mit den vergangenen einhundert Jahren? Was war passiert?
Die Nazis sind passiert. 1933, nach ihrer Machtübernahme, zerstörten sie das Institut und seine Bücher bei der allseits bekannten Bücherverbrennung. Die noch junge Wissenschaft zu Sexualität und Geschlecht wurde fast unwiderruflich zerstört und die wissenschaftliche Forschung um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen.
Hirschfeld starb 1935. Die wenigen Überreste, die er vor den Nazis retten konnte, wurden 1993 in Kanada in einem Müllcontainer gefunden. Wenige Tage zuvor verstarb dort sein vergessener Partner und Erbe Tao Li und seine Habseligkeiten landeten im Müll. Ich bin der festen Überzeugung, dass Norbert Campagna, dass wir alle heute ganz anders über Geschlecht nachdenken würden, wären die Nazis nie passiert.
Heute kommen wir – mit anderen Begrifflichkeiten und Erkenntnissen – langsam wieder dort an, wo wir bereits vor 100 Jahren waren, bevor die Nazis ihre epistemologische Zerstörung vollzogen. Doch warum hält sich weiter hartnäckig die falsche Überzeugung, dass sich die Wissenschaft einig sei, dass Geschlecht binär sei?
Wissenschaft ist ein breites Feld. Je nachdem, welche wissenschaftliche Disziplin man betrachtet – z. B. Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Psychologie – erhält man eine ganz andere Definition dessen, was Geschlecht ist. Das bedeutet nicht, dass eine richtig und alle anderen Definitionen falsch sind. Es zeigt jedoch, dass man je nach Blickwinkel und den zugrunde liegenden Annahmen zu Geschlecht zu unterschiedlichen Erkenntnissen gelangt.
Ein Psychologe, der Geschlecht im Rahmen seiner Forschung betrachtet, kommt zu einer völlig anderen Antwort auf die Frage, was Geschlecht ist, als eine Biologin, die Geschlecht abhängig von Chromosomen betrachtet. Keine Antwort ist per se falsch, sondern möglicherweise nur ein Teil der Wahrheit. Auch sind die englischen Begriffe «sex» (biologisches Geschlecht) und «gender» (soziales Geschlecht) nicht so leicht voneinander zu trennen, weil das Biologische mit dem Sozialen verwoben ist. Das berücksichtigen zum Beispiel biopsychosoziale Modelle, die Norbert Campagna aber in seinem Artikel verschweigt, wenn er schreibt: «Le sexe est biologique et le genre est social.» (Auf Deutsch etwa: «Sex beschreibt das biologische und Gender das soziale Geschlecht.»)
Doch konzentrieren wir uns mal rein auf die Naturwissenschaft. Auch hier ist die Sache bei Weitem nicht so einfach, wie es oft (leider auch in Norbert Campagnas Artikel) behauptet wird. Denn selbst innerhalb der Naturwissenschaften gibt es eine grosse Bandbreite von verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Theorien und Definitionen zum Thema Geschlecht. Ein*e Genetiker*in hat eine andere Definition als ein Hormonbiologe oder eine Entwicklungsbiologin. Und in vielen Fällen sind diese Definitionen nicht oder nicht streng binär.
Bei den Chromosomen haben die meisten Menschen entweder XX- oder XY-Chromosomen. Aber es gibt auch viele Menschen mit anderen Karyotypen – wie zum Beispiel Seamus. Ja, das wird oft als «seltene Abweichung von der Norm», oder «Krankheit» oder «Syndrom» beschrieben, als etwas, das also «nicht normal» und daher «falsch» sei. Obwohl bei vielen dieser Menschen keine gesundheitlichen Probleme auftreten (ja, viele wissen nicht einmal über ihre chromosomale Intergeschlechtlichkeit Bescheid) oder noch nicht abschliessend geklärt ist, wie viele ihrer möglicherweise entstehenden Probleme tatsächlich kausal durch ihre Chromosomen entstehen und wie viele durch gesellschaftliche Normen oder Diskriminierung.
Ein anderer Karyotyp als XX oder XY ist ein wissenschaftlicher Fakt. Die Bezeichnung eines solchen Karyotyps als «Syndrom»,«Abweichung» oder «Krankheit» ist jedoch kein wissenschaftlicher Fakt, sondern eine menschliche Interpretation dieses Fakts. Ähnlich war es zum Beispiel auch bei Homosexualität. Dass Menschen sich zu unterschiedlichen Körpern und Geschlechtern sexuell hingezogen fühlen können, ist ein wissenschaftlicher Fakt. Die Bezeichnung von Homosexualität als «Krankheit» ist jedoch kein Fakt, sondern eine menschliche Interpretation dieses Fakts, die auch lange in der Wissenschaft vorherrschte.
Was ich damit sagen möchte: Das Stempeln von allem, was nicht in die Binärität passt, als Syndrom oder Anomalie, ist kein wissenschaftlicher Fakt. Und deshalb gibt es immer mehr Naturwissenschaftler*innen, die nicht mehr von einer Geschlechterbinarität sprechen – wenn sie es überhaupt jemals in ihrer Disziplin getan haben. Denn in vielen naturwissenschaftlichen Disziplinen wird das schon lange nicht mehr getan.
So wie ich das sehe, gibt es nur eine naturwissenschaftliche Disziplin, die noch verstärkt von einer Binärstruktur ausgeht (und wo es vielleicht auch Sinn macht). Und das ist nicht bei den Chromosomen, nicht bei den Hormonen, nicht bei den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, sondern bei der menschlichen Fortpflanzungsbiologie auf Basis der Keimzellen. Hier, und wirklich nur hier, macht es eventuell Sinn, von Binarität zu sprechen, weil man tatsächlich genau zwei unterschiedlich geschlechtliche Zellen braucht: ein Spermium und eine Eizelle.
Aber das dann auf alle anderen Aspekte des Geschlechts zu übertragen bzw. Geschlecht auf Keimzellen zu reduzieren, wird nicht nur der höheren Komplexität des Geschlechts nicht gerecht, sondern ist auch gefährlich. Zwar macht das für die Disziplin der Fortpflanzungsbiologie (wenn sie sich auf Keimzellen reduziert) absolut Sinn.
Aber daraus dann sozialpolitische Schlussfolgerungen zu ziehen (und das macht der Artikel von Norbert Campagna), kann sehr schnell zu ernsthaften Gefahren führen. Denn es reduziert die Funktion der Sexualität rein und allein auf die Fortpflanzung und negiert alle anderen Funktionen der Sexualität für den Menschen und andere Primaten: Intimität, Stressabbau, Konfliktregelung, Zusammenhalt, usw. Und dann neigt man dazu, alle Formen der Sexualität, die nicht auf Fortpflanzung abzielen, als «anormal» oder «unnatürlich» zu brandmarken. Und das kann wiederum zu Homo-, Sexual-, oder Hurenfeindlichkeit, usw. führen. Ich weiss, dass das nicht die Absicht von Norbert Campagna ist und er sich davon distanziert. Aber seine Ausführungen können dennoch diese Konsequenzen haben.
Norbert Campagna betont, dass er jede Petition gegen die Kriminalisierung von Homosexualität uneingeschränkt unterstützen würde, sie sogar «mit beiden Händen unterzeichnen» würde. Man kann sich jedoch nicht von Homosexuellenfeindlichkeit freisprechen, nur weil man so etwas tut. Ein Beispiel: Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing hat um 1900 in Berlin an einer Stadtführung über schwule Bars und Clubs teilgenommen, die vom Polizeidirektor Leopold von Meerscheidt-Hüllessem geleitet wurde, der damals Chef des Homosexuellendezernats der Berliner Polizei war. Dieses Dezernat kümmerte sich darum, den §175 durchzusetzen, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Krafft-Ebing liess seine Erkenntnisse von der Tour in sein Buch «Psychopathia Sexualis» einfliessen und dankte in seinem Vorwort auch Meerscheidt-Hüllessem für die Führung. Und er unterzeichnete eine Petition von Magnus Hirschfeld, um den §175 abzuschaffen. Aber Krafft-Ebing argumentierte, dass Homosexualität eine Krankheit sei. Und es ist auf ihn zurückzuführen, dass Homosexualität so lange als Krankheit eingestuft wurde.
Was ich damit sagen will: Es reicht nicht aus, sich für die Entkriminalisierung von LGBTIQ-Personen einzusetzen. Wenn man gleichzeitig aber ein wissenschaftlich falsches System von Heteronormativität oder Geschlechter-Binarität unterstützt, das alles, was nicht in diese Norm oder Binarität passt, als «falsch», «abnormal» oder «krank» stigmatisiert, dann hilft man unserer Community nicht wirklich.
Wir leben in Zeiten, in denen die Gewalt gegen queere Menschen, insbesondere gegen trans, nicht-binäre und gender-nonkonforme Personen sowie Drag-Künstler*innen immer mehr zunimmt. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht von einem Angriff auf unsere Community höre. Ein langjähriger Freund von mir wurde in Paris brutal zusammengeschlagen.
In Münster wurde 2022 der trans Mann Malte C. totgeschlagen (MANNSCHAFT berichtete). Und in Berlin wird regelmässig das Grab der trans Frau Ella N. geschändet, die sich öffentlich auf dem Alexanderplatz, nicht weit von meinem Zuhause entfernt, das Leben genommen hat.
Übrigens: Auch der Suizid ist aufgrund der Stigmatisierung in unserer Community überdurchschnittlich hoch. Mehr als eine Person in meinem Umfeld hat sich bereits das Leben genommen. Jeden Tag wartet man darauf, dass ein Anruf kommt, dass nun eine Person im engsten Freundschaftskreis betroffen ist. All das ist das Ergebnis von Hass gegen uns. Und dieser Hass wird auch von Menschen genährt, die vielleicht gegen diese Gewalt sind, aber falsche wissenschaftliche Informationen über Geschlecht und Sexualität verbreiten.
Wenn man behauptet, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, dann hat man eine Verantwortung, wenn es um die Realität des Lebens echter Menschen geht. Diese Verantwortung habe ich im Artikel von Norbert Campagna leider vermisst.
* Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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