Stolpern wider das Vergessen
Manchmal recherchiert Jürgen Wenke über Jahre an einem Schicksal, bevor ein weiterer Stolperstein verlegt wird
Seit 25 Jahren erinnern in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas Stolpersteine an Opfer der Nazis. Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Behinderte und auch Homosexuelle. Ein Mann aus Bochum setzt sich dafür massgeblich ein.
Manchmal recherchiert Jürgen Wenke über mehrere Jahre an einem Schicksal und liest hunderte Seiten Akten, bevor ein weiterer Stolperstein verlegt werden kann, der an die Verfolgung oder Vernichtung eines homosexuellen Mannes durch die Nazis erinnert. Ernst Papies etwa, mehrfach verurteilt und eingesperrt, überlebte die Konzentrationslager Buchenwald, Mauthausen und Auschwitz und brachte danach noch die Kraft auf, in der jungen Bundesrepublik Anträge auf Wiedergutmachung und Entschädigung zu stellen. Er schrieb an Bundeskanzler und Bundespräsident, nichts half: keine Protestschreiben, kein Gerichtsverfahren. Die Streichung des Paragraphen 175 im Jahr 1994 hat er noch erlebt, er starb 1997 in Konstanz; von einem Gesetz zur Rehabilitierung, wie es im Sommer 2017 verabschiedet wurde, konnte er nur träumen.
In Auschwitz wird die Verfolgung Homosexueller immer noch verschwiegen
Der Stolperstein, der an Papies erinnert, wurde in der Cranger Strasse 398 in Buer verlegt, in Gelsenkirchen. Dort hat Papies gelebt, es war sein «letzter freiwilliger Wohnort» vor der Verhaftung und Deportation – entscheidend für die Stelle, an der ein Stolperstein schliesslich liegt. Das herauszufinden, ist oft nicht leicht, weil Wenke die Schicksale der Männer von ihrem Ende her aufarbeitet, von ihrem Eintrag in einer der akribisch geführten KZ-Listen. Dort steht aber oft nur der Geburtsort. Den Grossteil seiner Recherchearbeit führt der Diplompsychologe in den Archiven der deutschen KZs, in Landesarchiven der 16 Bundesländer und den Stadtarchiven durch, persönlich oder über den Austausch von E-Mails. In Ausschwitz dagegen kann man nicht gut forschen, sagt Wenke. «Die Polen haben bis heute ein Problem mit Homosexualität. In Auschwitz wird die Verfolgung Homosexueller immer noch weitgehend verschwiegen.»
§175: Verfolgt, angeklagt, verurteilt Hat Wenke den letzten regulären Wohnort recherchiert, kann es passieren, dass das Haus gar nicht mehr steht. Vielleicht wurde es im Zweiten Weltkrieg weggebombt und die Strassenführung hat sich verändert. Wie bei Alfred Eduard Schneider: In Bochum erinnert darum ein Stein an einer Bushaltestelle an den Mann, der als «175er» ins KZ Sachsenhausen und dort am 25. Juni 1941 zu Tode kam. In der Haltestelle findet sich zusätzlich ein Hinweisschild, das den Hintergrund für diesen Stolpersteine erklärt. So viel Sichtbarkeit ist selten. Auf Schneiders Gedenkstein, 2013 in Bochum verlegt, ist schlicht Sachsenhausen vermerkt. Dass ein Mann als Homosexueller verfolgt wurde, wird erst seit wenigen Jahren vom Künstler Demnig auf den neueren Steinen vermerkt. «Verfolgt §175» steht dann dort, «angeklagt §175» oder «verurteilt §175».
Der Familientherapeut Wenke hat jahrelang die Beratungsstelle des Vereins Rosa Strippe geführt, der 1980 als Selbsthilfeinitiative von schwulen Männern für schwule Männer gegründet worden war. Längst hat sich der Verein zum zweitgrössten Spezialberatungsangebot zum Thema sexuelle und geschlechtliche Identitäten in Nordrhein-Westfalen entwickelt.
150 Steine erinnerten an jüdische Opfer des Nationalsozialismus, aber keiner an Homosexuelle Vor zehn Jahren begann Wenke damit, sich in seiner Heimatstadt Bochum dem Projekt Stolpersteine zu widmen. 150 Steine erinnerten an jüdische Opfer des Nationalsozialismus, aber keiner an Homosexuelle. Mittlerweile listet sein Verein auf seiner Homepage über 25 Namen von Männern vor allem aus NRW auf, an deren Schicksal erinnert wird. Engagierte schwule Männer sind heute in zahlreichen grossen Städten an der Erinnerungskultur mittels Stolpersteinen beteiligt. Allen voran in Hamburg, wo bereits mehrere hundert Stolpersteine für verfolgte Homosexuelle verlegt wurden.
Wenke berichtet, dass er auch nicht immer mit offenen Armen empfangen wird: Manchmal wollen Nachfahren partout keinen Blick in die dunkle Vergangenheit wagen; in ländlichen Gegenden schämt man sich oft noch für schwule Angehörige.
Seit zwei Jahren wartet Wenke darauf, in Jena den ersten Stolperstein zu verlegen, der an einen schwulen Mann erinnern soll, der im Hotel «Weimarischer Hof» gewohnt (und gearbeitet) hat. Doch vom lokalen Stolperstein-Verein bekam er zu hören: Das Projekt sei dort zu Ende. «Das sind zwar engagierte Bürger», erklärt Wenke, «aber sie glauben, es reicht, wenn man sich bei der Aufarbeitung der Naziherrschaft mit den jüdischen Opfern befasst.»
Dafür ist es Wenkes Initiative und seinen Recherchen zu verdanken, dass im KZ Buchenwald im Vorraum des Krematoriums neben den etwa 50 zum Teil jahrzehntealten Namenstafeln seit Sommer 2012 auch eine erste Tafel an homosexuelle Opfer erinnert. Friedrich Wessel und Julius Schmidt sind auf der 30 mal 40 Zentimeter grossen schwarzen Metalltafel mit weisser Schrift verewigt.
Diebstahl und Vandalismus Wo Steine in der Öffentlichkeit verlegt wurden, dort kommt es leider immer wieder vor, dass sie entfernt oder geschändet werden. Erst Anfang November wurden in Berlin-Neukölln über Nacht mindestens zwölf Gedenksteine gestohlen, die an Naziopfer erinnerten.
Meist aber erlebt Wenke sein Anliegen als Türöffner, das Projekt habe längst ein grosses Renommé. Und doch gibt es immer noch Premieren: In Trier wurden am 6. November erstmals zwei Stolpersteine für ein homosexuelles Zwillingspaar verlegt, die eineiigen Salomon-Zwillinge Ernst und Leo, deren Schicksal Jürgen Wenke recherchiert hat. Für die Steine der Zwillinge, die deportiert und ermordet wurden, hat die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) die Patenschaft übernommen. Überraschend unkompliziert habe sie Wenkes Anfrage beantwortet, sagt er. Zwei Briefe hat er geschrieben, dann war die Sache klar. «Es hat mir fast den Atem verschlagen, weil ihre Antwort so positiv war.»
Und wenn im kommenden Jahr in Bochum der Stolperstein für Gerhard Krebs verlegt wird, so wird zum ersten Mal ein Männerpaar auf diese Weise geehrt: Dessen Partner Heinz Barenberg hat bereits am 22. Oktober seinen Stein erhalten, ebenfalls in Bochum. Weil sie sich zur Nazizeit verliebten und miteinander eine Beziehung führten, wurden sie verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Gerhard erhängte sich dort, sein Partner Heinrich hat die NS-Zeit überlebt. Die Patenschaft für den Stolperstein für Barenberg haben die Bochumer Grünen übernommen.
Eine Patenschaft beinhaltet die Übernahme der Kosten des Steins, den der Künstler Gunter Demnig «soziale Skultpur» nennt. 120 Euro werden dafür veranschlagt, darin enthalten sind Honorar, das Material und die Verlegung vor Ort – eine Messingplatte auf einem Betonwürfel. Denmnig begann das Projekt im Jahr 1992. Über 60 000 Steine haben er und sein Team seither in Europa in Gehwege eingelassen, darunter in Belgien, Ungarn, Russland – das grösste dezentrale Mahnmal der Welt, hat die FAZ mal geschrieben.
Ein Stolperstein im Siegerland Wer Pate ist, dem sollte daran gelegen sein, dass der Stein gut erhalten bleibt und regelmässig geputzt wird. Das Messing der Stolpersteine läuft ohne regelmässige Reinigung dunkel an und die Inschrift wird dann schwer leserlich. Für die Reinigung reichten eine einfache Haushaltsbürste, Haushaltsessig, Wasser, etwas Kochsalz.
Einmal hat Wenke eine Lebensgeschichte als Auftragsarbeit aufgearbeitet: Die Patenschaft des Stolpersteins war ein Geschenk, das ein Mann seinem Mann zur Verpartnerung machte. Wenn sich Bochumer der Recherche einer Lebensgeschichte widmet, kommen schon mal mehrere hundert Euro zusammen, für Kopien von Akten, Fahrten in Archive, Fotos. Manchmal übernimmt die Rosa Strippe die Kosten, aber auch der Verein ist auf Spendengelder angewiesen (Infos dazu auf rosastrippe.net).
Der nächste Stein, dessen Lebensweg Wenke recherchiert hat, wird Mitte Dezember in Kreuztal verlegt, eine Premiere im nordrhein-westfälischen Siegerland. Auch hier haben die lokalen Grünen die Patenschaft übernommen. Geehrt wird das Andenken von Alfred Freudenberg, vor seinem alten Wohnhaus, in dem heute sein Enkel lebt. Die Familie hat das Schicksal über Jahrzehnte verschwiegen, lediglich vom Tod in Dachau wusste der Enkel. Nun kennt er die ganze Geschichte, von der Verhaftung wegen homosexueller Kontakte im September 1940 über die Verurteilung zu drei Jahren Zuchthaus, bis zur anschliessenden Deportation in die berüchtigte Steinwache nach Dortmund, von dort ins KZ Natzweiler (Struthof) im Elsass und schliesslich ins KZ Dachau bei München. Dort wurde er am 23. Februar 1945 ermordet.
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