Karl Heinrich Ulrichs: «Wie man bei Anfeindungen standhaft bleibt»

Ein schwuler Pionier wird 200

Karl Heinrich Ulrichs
200 Jahre Karl Heinrich Ulrichs (Bild: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1899)

Der schwule Pionier Karl Heinrich Ulrichs würde dieser Tage (am 28. August) den 200. Geburtstag feiern. Er bezahlte einst einen hohen Preis für seinen Mut – doch er liess sich nicht verbiegen.

Tumult auf dem Deutschen Juristentag 1867 in München. Zwischenrufe, Abbruch des Vortrages. Was war passiert? Karl Heinrich Ulrichs, ein Jurist aus Norddeutschland forderte die rechtliche Gleichstellung von schwulen Männern. Und er wusste, was er da persönlich riskierte: «Was mich noch im letzten Augenblick stärkte, die Rednerbühne des deutschen Juristentages wirklich zu betreten, das war das Bewusstsein, dass in diesem Augenblick aus weiten Fernen meine Naturgenossen auf mich blickten. Ihr Vertrauen auf mich – sollte ich's denn erwiedern mit Feigheit?»

Die 500 Männer – es waren natürlich nur Männer – im Zuhörerraum waren perplex. Sofort breitete sich Unruhe aus im Saal. Der Sitzungsleiter versuchte mit einem Kniff etwas Ruhe hineinzubringen. Ulrich solle seinen Vortrag auf Latein fortsetzen. Das wollte er aber nicht – obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre. Er brach den Vortrag ab und ging auf seinen Platz zurück.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der damals 42-jährige Ulrichs schon einen langen, kurvenreichen und steinigen persönlichen Weg zurückgelegt. Zunächst gelang dem talentierten jungen Mann aus Aurich alles, so schien es. Er studierte erfolgreich in Göttingen und wurde dann Gerichtsassessor in Hildesheim.

Bis er dann wegen sexueller Kontakte zu anderen Männern angezeigt wurde. Zwar waren im Königreich Hannover, zu dem Hildesheim gehörte, homosexuelle Handlungen nicht unter Strafe gestellt. Schon allerdings «öffentliche Ärgernisse», die damit in Verbindung standen – was auch immer das alles sein konnte. Als ihm dann noch ein Berufsverbot auferlegt wurde, schrieb er journalistische Texte und verdiente sein Geld als Privatlehrer.

Göttinger Gedenktafel Ulrichs
Gedenktafel in seiner Studienstadt Göttingen (Bild: Wikipedia/GeorgderReisende)

In den folgenden 10 Jahren – von 1854, als er in Hildesheim aus seiner Anstellung flog, bis 1864, als er anfing, seine heute berühmten 12 Schriften «Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe» zu veröffentlichen –, reifte er innerlich zu dem Vorkämpfer und Aktivisten, auf den spätere Generationen zurückblicken würden.

In dieser Lebensphase, in der er in einen beruflichen Strudel geriet, fiel auch sein Coming-out. Er machte es zunächst schriftlich gegenüber seiner Schwester. «Der liebe Gott hat mir die Liebe in derselben Richtung gegeben, in der er sie den Weibern giebt, d.i. auf Männer gerichtet», schrieb er klar und deutlich. Ausserdem bat er um «gefällige Zirkulation» des Briefes im Verwandtenkreis. Seiner Schwester gegenüber schildert er auch seine Gefühle. So ist in einem Brief die Rede von «zwölf jungen, schön gewachsenen und schön uniformierten Forstschülern», denen er «sofort um den Hals fallen» wollte.

Ulrichs suchte nach Erklärungen für sein Empfinden. «Die Natur ist es, die einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau weibliche Geschlechtsliebe giebt, d.i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern.» Er vermutet so etwas wie eine weibliche Seele in Männerkörpern, weshalb sich jene Männer ebenfalls zu Männern hingezogen fühlen.

Und Ulrichs schaffte Namen für Menschen mit diesem Begehren, die nicht abwertend waren. Männer, die auf Männer stehen nennt er «Urninge». Männer, die auf Frauen stehen «Dioninge». Beides abgeleitet von den antiken Göttern Urania und Dione. Dass auch Frauen sich in Frauen verlieben können, diese Einsicht kam ihm erst recht spät.

Karl Heinrich Ulrichs-Platz Aurich
Ulrichs-Platz in seiner Geburtsstadt Aurich (Bild: Wikipedia/Matthias Süßen)

In seinen Schriften geht es Karl Heinrich Ulrich um das, was er von sich selber kennt, von dem aber niemand offen spricht. «Ulrichs schuf mit seinem Neologismus «Urning» einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit», sagt Albert Knoll vom Forum Queeres Archiv München gegenüber MANNSCHAFT. Ulrichs später entwickelte sexuelle Zwischenstufen seien dann ein Grundstein aller folgenden Sexualforschung geworden, so Knoll.

Ulrichs zentrale Einsicht, die bis heute überdauert, ist: Dieses Empfinden ist natürlich. Es ist keine Krankheit. Dies betont auch der Historiker Dino Heicker, der kürzlich eine «Weltgeschichte der Queerness» veröffentlicht hat. Im Gegensatz zu einer vorrübergehenden und als sündhaft verstandenen Abweichung, betone Ulrichs das «Anlagebedingte einer gleichgeschlechtlichen Veranlagung». Damit war er seiner Zeit weit voraus.

Seine Erkenntnisse will der Jurist dann auch naturwissenschaftlich begründen. Da ist er ganz Kind seiner Zeit. Denn was wissenschaftlich als natürlich gilt, kann dann nicht mehr zu Ausgrenzung führen – so zumindest die Idee. Im Ergebnis kommt Ulrichs zu einem «dritten Geschlecht». Es gäbe, so meint er, Männer, die nach aussen nur Männer spielten, aber von ihrem Wesen her eigentlich weiblich seien. Anfangs dachte er noch, dass «Urninge» nur Männer lieben könnten, die man heute als heterosexuell bezeichnen würde. Doch auch hier entwickelte er seine Theorie weiter – als er viele Zuschriften anderer Männer erhielt, die ihm bestätigten, dass auch «Urninge» sich gegenseitig lieben konnten.

Invictus-Cover
(Bild: Männerschwarm)

Während es in Ulrichs Zeit üblich war, Homosexualität rein kriminalistisch zu betrachten, habe Ulrichs etwas Neues gewagt, schreibt der Soziologe Rüdiger Lautmann in dem neuen Ulrichs-Sammelband «Invictus». So blickte der aus Aurich stammende Jurist auf die Persönlichkeit und weniger auf die sexuellen Handlungen oder medizinische Fragen. Diese Perspektive auf die Persönlichkeit eröffnete später den Weg zur Identitätspolitik, so Lautmann.

Eine ebenfalls moderne Idee Ulrichs ist der Wunsch nach einer Vereinigung aller «Urninge», also das, was dann später in der Schwulenbewegung Wirklichkeit werden sollte. Sogar eine Satzung für den «Urningsbund» hatte Ulrichs, eben ganz Jurist, schon ausgearbeitet. Doch dann wurde das Klima in Deutschland für ihn immer unerträglicher, sodass er bald nach Italien auswandern sollte. Dort lebte er als Sprachlehrer und starb 1895 im heutigen L‘Aquila.

Doch wie aktuell ist Karl Heinrich Ulrichs im Jahr seines 200. Geburtstages überhaupt noch? «Ulrichs zeigt, wie eine Person standhaft bleibt, die angefeindet wird», sagt Karl-Heinz Voß, Sexualwissenschaftler an der Uni Merseburg gegenüber MANNSCHAFT. Zwar habe Ulrichs abgrenzbare Kategorien stark gemacht, was teils konträr zu heutigen queeren Perspektiven sei, so Voß. Jedoch strahle Ulrichs etwas Empowernde über sein Handeln aus. «Er hatte keine Abziehbilder, sondern konkrete Menschen im Blick. Das ist auch beispielgebend für heutige queere Perspektiven», so Voß.

Die von Ulrichs praktizierte «Innerlichkeit» sei beispielgebend für nachfolgende Generationen, sagt der Schriftsteller Kevin Junk gegenüber MANNSCHFT. So könnten heutige queere Menschen, wie Ulrich es auch tat, aus sich selbst heraus «die Welt erleben» und «erfühlen, was und wie wir unsere Sexualität, unser Geschlecht, unsere romantischen Beziehungen erleben.» Dabei müssen man anderen nicht vorschreiben, wer sie sind oder was sie seien. «Dieses Mitfühlende – denn wir leiden unter den gleichen Machtstrukturen – und Solidarische wünsche ich mir für uns und für die Bewegung», sagt Junk.

Grab Ulrichs
Platz in L'Aqulia, der nach Ulrichs benannt ist (Bild: Wikipedia/Hermi200)

Dennoch hat Ulrichs es bisher nicht zu breiter Bekanntheit geschafft. Zwar gibt es in seiner Studienstadt Göttingen eine Gedenktafel an dem Haus, in dem er gelebt hat. Bremen und München haben jeweils einen Ulrichs-Platz, Berlin eine Ulrichs-Strasse, in der sich auch ein Café befindet, das seinen Namen trägt. (Von Lagerlöf bis Lagerfeld: So queer sind unsere Strassen – unser Überblick!).

In Hildesheim gibt es an einem ehemaligen Arbeitsplatz sowie auch in seiner Geburtsstadt Aurich eine kleine Plakette, die an ihn erinnert. Doch die zu runden Geburtstagen stattfindenden Erinnerungen an ihn sind, so scheint es, auch jedes Mal wieder dringend nötig.

Das liege daran, so Karl-Heinz Voß, dass solch offene Vorstellungen mit der Nazi-Zeit komplett ausgelöscht worden seien. Und auch nach 1945 sei darauf nirgends Bezug genommen worden. Zu sehr seien die damals die Forschung prägenden Personen noch zu nahe am NS-Regime dran gewesen. «Es fand ein direktes Herausschreiben aus der Geschichte statt, ein kontinuierliches Auslöschen von Perspektiven in Richtung Vielfalt, und davon ist Ulrichs auch mit betroffen», resümiert Voß. Das habe sich erst Ende der 80er Jahre durch Aktivist*innen oder infolge der Gründung schwuler Buchläden geändert.

Und auch die heutige deutschsprachige Sexualwissenschaft entdecke zwar diese Lücke, dennoch gäbe es dort noch immer mehr medizinische, aber kaum geistes- und sozialwissenschaftliche Schwerpunkte, mahnt der Sexualwissenschaftler.

Grab Ulrichs
Grab von Ulrichs in L'Aquila (Bild: Wikipedia/Violi Parolo)

Ulrichs selbst jedenfalls war sich bewusst, dass manchmal ein einzelner Auftritt ein Leben bestimmen und Impulse für die Nachwelt geben kann. «Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme an rechnen, daß ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug’ in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon, mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete.»

Und er gebrauchte auch den Begriff «Pride», der in der queeren Emanzipationsbewegung später zentral werden würde, als er schrieb: «Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen.»

Zum Weiterlesen: Invictus – Unbesiegt. Karl Heinrich Ulrichs zum 200. Geburtstag; mit Beiträgen von: Jens Dobler, Kevin Junk, Rüdiger Lautmann, Douglas Pretsell, Axel Schock und Karl-Heinz Voß, Männerschwarm Verlag, 190 Seiten, Berlin 2025, Fr. 14 / 20 €.

Frisch erschienen ist auch eine kurze Geschichte der queeren Kunst: «Umarme die Unschärfe!» (MANNSCHAFT berichtete).

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