Schweizer Studie: Mehr Mut zu neuer Geschlechtsidentität?
Geschlecht und Identität sind Thema der ersten repräsentativen Befragungsstudie in der Schweiz im Auftrag von #geschlechtergerechter
Männer, die Vollzeit arbeiten, fühlen sich männlicher. Wer politisch rechts steht, dem ist sein Mannsein wichtiger. Und nicht-heterosexuelle Männer teilen Vorstellungen von Attraktivität mit besonders maskulinen und heteronormativen Männern. Das sind nur einige Erkenntnisse aus einer neuen Schweizer Studie.
Im Rahmen einer Initiative für eine geschlechtergerechtere Schweiz wurden 2690 Personen vom Forschungsinstitut Sotomo in der Deutsch-, französischen und italienischen Schweiz befragt. Und zwar vom 29. September bis zum 1. November 2021. Die daraus resultierende Studie zum Spannungsfeld von Geschlecht und Identität wurde jetzt online vorgestellt.
In der Präsentation von Michael Hermann und Julie Craviolini liest man: «Der Genderstern ist zu einem Symbol für einen Kulturkampf um Sprache und Identität geworden. Geschlechterfragen sind ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt. Die Auseinandersetzungen darüber sind oftmals unerbittlich und verhärtet. Gerade weil sich dabei dennoch viel bewegt, sehen einige sich in ihrer Identität bedroht.»
99,6 Prozent der Befragten verstehen sich laut Umfrage selbst als «Frau» oder als «Mann», nur 0,4 Prozent ordnen sich nicht ins herkömmliche binäre Schema ein und bezeichnen sich explizit als nicht-binär.
«Das politisierte Mannsein» Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Umfrage zählen die Macher*innen der Studie an erster Stelle «Das politisierte Mannsein». Dazu heisst es: «Für 60 Prozent der Frauen ist das eigene Geschlecht ein wichtiger Teil ihrer Identität, jedoch nur für 49 Prozent der Männer. Insgesamt sind sich Frauen ihrer Geschlechtsidentität stärker bewusst als Männer. Die Ausnahme davon bilden Männer, die politisch rechts stehen.»
62 Prozent der politisch rechtsstehenden Männer ist ihr Mannsein wichtig, für zwei Drittel davon sogar sehr wichtig. Demgegenüber identifizieren sich nur gerade 12 Prozent der linksstehenden Männer sehr stark mit ihrem eigenen Geschlecht.
«Die anhaltende Debatte zu Geschlechterfragen hat offensichtlich zu einer Politisierung des Mannseins geführt, nicht jedoch zu einer entsprechenden Politisierung des Frauseins», heisst es bei der Präsentation der Studie. «Trotz eines oftmals links geprägten Feminismus identifizieren sich linke und rechte Frauen nämlich ähnlich stark mit ihrem Frausein.» (MANNSCHAFT berichtete über das erste Schweizer Transgender-Model bei GNTM.)
Ein Fünftel der nicht-heterosexuellen Personen in der Schweiz benachteiligt Laut Studie sieht sich ein Viertel der Schweizer Bevölkerung aufgrund des eigenen Geschlechts benachteiligt. Dazu zählt ein Drittel der Frauen, aber auch 17 Prozent der Männer. Geht es um die sexuelle Orientierung, sieht sich ein Fünftel der nicht-heterosexuellen Personen in der Schweiz benachteiligt. Aber: Benachteiligt sehen sich auch sieben Prozent der heterosexuellen Männer! (Das Naturhistorische Museum Bern zeigt aktuell die Ausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur»; MANNSCHAFT berichtete.)
Eine weitere Erkenntnis der Umfrage: Männer, die Vollzeit arbeiten, nehmen sich selbst als männlicher wahr als Männer, die Teilzeit arbeiten. «Bei Frauen gibt es keinen solchen Zusammenhang: Frauen, die zuhause bleiben, nehmen sich nicht als weiblicher wahr als solche, die Vollzeit arbeiten», erfährt man aus der Studie. «Während in der Selbstwahrnehmung der Frauen Weiblichkeit nicht vom Erwerbsgrad abhängt, ist Vollzeiterwerbstätigkeit bis heute Ausdruck subjektiver Männlichkeit.»
64 Prozent der Frauen finden Männer attraktiv, die auch «weibliche» Seiten haben. Dagegen erachten nur 32 Prozent der Männer Frauen als attraktiv, die auch «männliche» Seiten haben. Fast ebenso wenig halten laut Studie die Männer von femininen Männern. Männer hätten insgesamt binärere und damit auch stereotypere Vorstellungen von männlicher und von weiblicher Attraktivität als Frauen, heisst es. (MANNSCHAFT berichtete über trans Oberstleutnant Christine Hug in der Schweizer Armee.)
«Besonders weit von binären Stereotypen entfernt positionieren sich nicht-heterosexuelle Frauen», erfährt man. «Das betrifft ihre Selbstpositionierung im Weiblichkeits-Männlichkeits-Spektrum und ihre Vorstellung von Attraktivität. Sie bewerten nämlich feminine Männer ebenso positiv wie maskuline Frauen.» (Der Schweizer Film «Beyto» behandelte u. a. überkommene Männlichkeitsbilder; MANNSCHAFT berichtete.)
Fluide Vorstellungen von Geschlechtlichkeit Nicht-heterosexuelle Männer seien dagegen in ihren Einschätzungen weniger fluid: Sie beurteilen Frauen mit männlichen Seiten noch kritischer, als heterosexuelle Männer es tun. Zudem nennen sie besonders oft körperliche Merkmale, wenn es um die Beschreibung attraktiver Menschen geht. Auch wenn sie sich selbst als femininer einschätzen als viele Heteros, teilen nicht-heterosexuelle Männer Vorstellungen von Attraktivität tendenziell mit besonders maskulinen und heteronormativen Männern.
Fluide bzw. nicht-binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit seien unter jungen Erwachsenen besonders verbreitet. Besonders häufig sei bei den jüngeren Altersgruppen aber auch die Vorstellung, dass es nur Frau und Mann und keine Ausnahmen gibt. Die erste Ansicht sei unter jungen Frauen besonders verbreitet, letztere unter jungen Männern.
«Viele junge Frauen stellen die binäre Geschlechterordnung grundsätzlich in Frage», heisst es in der Auswertung der Umfrage. «Zumindest ein Teil der jungen Männer fühlt sich dadurch offenbar in der eigenen geschlechtlichen Identität bedroht und setzt auf klare Abgrenzung.» (MANNSCHAFT berichtete über das Bedürfnis junger Queers in der Schweiz nach Community.)
Debatte um Genderstern Da die Debatte um den Genderstern und das Gendern in der Sprache so hitzig ist, hier auch die Ergebnisse dazu: Nur sieben Prozent der Befragten verwenden in formellen Texten für die Bezeichnung von Berufen oder Funktionen den Genderstern oder eine ähnliche nicht-binäre Schreibweise.
Aber: «Nicht mehr mehrheitsfähig ist das generische Maskulinum – die männliche Schreibweise, bei der die Frauen bloss mitgemeint sind», heisst es in der Studie. «Für 27 Prozent – darunter vor allem Männer – bleibt die rein männliche Form die erste Wahl. Am beliebtesten ist das Ausschreiben sowohl der weiblichen wie männlichen Form.»
Als Fazit meinen die Präsentator*innen der Studie: «Geht es um Weichenstellungen im Leben braucht es gelegentlich Mut. Nichts wird dabei von den Befragten stärker mit Mut in Verbindung gebracht als eine neue Geschlechtsidentität anzunehmen.» Bemerkenswert sei, dass das Coming-out als homo- oder bisexuell fast ebenso häufig genannt wird als Lebensentscheid, der besonderen Mut verlangt. «Nicht nur die Geschlechtsidentität, sondern auch die sexuelle Orientierung bleiben Themen von grosser Sensibilität.» (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass zehn Prozent der Schweizer Homosexualität für unmoralisch halten.)
Interessanterweise verbinden beide Schritte vor allem junge Erwachsene mit besonderem Mut.
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