Queeros 2021 Schweiz: Asile LGBTIQ+ hilft Geflüchteten
Ein Interview mit Vorstandsmitglied Marc Baumgartner
Viele Queers in Deutschland, Österreich und der Schweiz engagieren sich ehrenamtlich für LGBTIQ-Anliegen: im Rahmen von Vereinen oder Organisationen oder als Aktivist*innen. MANNSCHAFT macht auf diese Menschen aufmerksam. Rund 800 User*innen haben bei den diesjährigen Queeros-Wahlen ihre Stimme abgegeben. Für die Region Schweiz gewann der Verein Asile LGBTIQ+, der sich für LGBTIQ-Flüchtlinge einsetzt. Wir sprachen mit Vorstandsmitglied Marc Baumgartner.
Im Anschluss an eine umfassende, aktionsorientierte Forschung über die Lebensbedingungen von geflüchteten und nun in der Schweiz lebenden LGBTIQ wurde der Verein Asile LGBTIQ+ 2019 in Genf ins Leben gerufen. Das Ziel des Vereins ist es, die Mechanismen der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung, Marginalisierung und Prekarisierung von geflüchteten LGBTIQ-Personen sichtbar zu machen, zu verstehen und zu bekämpfen.
Die Mission von Asile LGBTIQ+ besteht darin, konkrete Antworten auf diese sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu geben. Es geht insbesondere darum, Mehrfachdiskriminierungen zu verhindern, die den Hauptschwierigkeiten dieser Gruppe zugrunde liegen: prekäre Lebensbedingungen, kumulierte Diskriminierungen, Schwierigkeiten beim Zugang zu Rechten, Rassismus, Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität und so weiter.
Ein zentrales Element der Vereinsarbeit ist auch die Förderung der Beteiligung von geflüchteten LGBTIQ-Menschen an den Funktions- und Entscheidungsstrukturen des Vereins, als Teil einer konkreten Integrationsarbeit und um deren Isolation zu bekämpfen und ihre soziale Teilhabe zu fördern. Nebst der allgemeinen Arbeit auf verschiedenen Ebenen, die ein grösseres Publikum hat, unterstützt der Verein auf individueller Ebene ungefähr 50 Personen pro Jahr im Kanton Genf, 20 Personen in anderen Kantonen der Schweiz sowie etwa 100 Personen ausserhalb der Schweiz, die sich mit Fragen zu Ihrer Fluchtsituation an den Verein wenden.
Auf unsere Fragen antwortet Vorstandsmitglied Marc Baumgartner.
Kannst du die konkreten Tätigkeiten und Dienstleistungen deines Vereins beschreiben? Asile LGBTIQ+ hat drei Interventionsachsen. Die erste betrifft die Individuelle und kollektive Begleitung und Unterstützung. Dazu gehören Informationen zum Asylverfahren und Aufenthaltsrecht, rechtliche und psycho-soziale Begleitung und die Weiterleitung an nützliche Netzwerke. Hinzu kommt eine kollektive Begleitung durch wöchentliche Peer-Gruppentreffen, organsiert durch eine Sozialarbeiterin, die selbst als queere Person das Asylverfahren durchlaufen hat. Durch diese Gruppentreffen können sich unsere Mitglieder gegenseitig unterstützen und eine soziale Isolation wird verhindert. Die Peer-Gruppe initiiert zahlreiche Aktivitäten: Sprach- und Yogakurse, Ausflüge zum Kennenlernen des Kantons, Teilnahme an Vorträgen und Debatten. Diese direkte Beteiligung von Personen, die von Zwangsmigration betroffen sind, hat zum Ziel, den Wissensaustausch zu stärken, um das Fachwissen der Mitglieder zu fördern.
Was ist die zweite Interventionsachse? Das ist die Unterstützung und Ausbildung der Personen in Kontakt mit diesem Publikum. Die Einzelfallarbeit erstreckt sich auch auf eine Sensibilisierung auf LGBTIQ-Themen der Sozialpartner und Fachkräfte, die geflüchtete LGBTIQ-Menschen in bestimmten Einrichtungen begleiten, damit diese nicht sekundäre Diskriminierungen erfahren. Um die Interventionen wirksamer zu gestalten, hat Asile LGBTIQ+ eine ganze Palette von Sensibilisierungsaktionen organisiert – sowohl für die Öffentlichkeit im Kanton Genf als auch für die Fachleute im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Institutionen. Diese Sensibilisierungs- und Schulungsmassnahmen finden innerhalb von Behörden, im Rahmen der Berufsausbildung oder bei Veranstaltungen statt, die es ermöglichen, die Problematik, mit der das Publikum des Vereins konfrontiert ist, aus dem Schatten zu holen.
Und das dritte Gebiet? Das ist schliesslich die allgemeine Sensibilisierung der Öffentlichkeit auf intersektionelle Diskriminierung. Durch die Teilnahme an kulturellen, akademischen, und allgemeinen öffentlichen Veranstaltungen in Genf und in der ganzen Schweiz sensibilisieren unsere Mitarbeitenden und unsere Peer-Gruppe auf die Lebensrealitäten und Schwierigkeiten, denen geflüchtete LGBTIQ-Menschen in der Schweiz gegenüberstehen. Unsere Mitarbeitenden zusammen mit den Mitgliedern der Peer-Gruppe organisieren regelmässige Workshops in Migrantengemeinschaften, um LGBTIQ-Vielfalt zu thematisieren sowie auch in LGBTIQ-Gemeinschaften, um über Themen wie Rassismus und Migration zu sprechen.
Was sind die besonderen Herausforderungen für LGBTIQ-Flüchtlinge im Vergleich zu anderen Flüchtlingen? LGBTIQ-Flüchtlinge befinden sich am Schnittpunkt sich überschneidender Machtregime – Migrationsregime und Rassismus verbinden sich mit Heteronormativität und Cisnormativität, die in Kombination den Alltag von queeren Flüchtlingen prägen und organisieren. Das Zusammenspiel von Flüchtlingsstatus oder prekärem Aufenthaltsstatus, Sexualität und Geschlecht führt zu einer Marginalisierung mit zahlreichen Folgen für ihre Alltags-Erfahrungen und für den Ausgang ihrer Asylanträge. Die sehr schlechten Bedingungen in der Schweiz von Personen im Asylverfahren werden für LGBTIQ-Personen noch akzentuiert, da sie oft nicht auf Unterstützung von Familienmitgliedern oder Bekannten zählen können und sie zusätzlicher Gewalt ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind die Schweizer Migrationsbehörden überhaupt nicht sensibilisiert auf LGBTIQ-Fragen.
Die betreffenden Menschen müssen ja erst auf den Verein aufmerksam werden und auf euch zukommen. Wie geschieht das? Die Vernetzung unter den betroffenen Personen ist sehr stark und ist eine grosse Ressource für den Verein. Wir sehen uns auch als Plattform für den Austausch und der gegenseitigen Unterstützung von LGBTIQ-Menschen in einer Migrationssituation. Gleichzeitig haben wir seit Jahren einen regen Austausch mit verschiedenen Partnern (Sozialhilfe, NGOs, Rechtshilfe, Asylzentren, etc.) und sensibilisieren diese aktiv für LGBTIQ-Themen, sodass diese uns oft direkt kontaktieren und uns LGBTIQ-Personen im Asylverfahren vermitteln. Ausserdem haben wir auch mit einer Website, in den sozialen Netzwerken sowie in Form von Flyern präsent. Die Sichtbarkeit unseres Vereins ist für uns sehr wichtig, da Personen im Asylverfahren oft nicht wissen, dass ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität Asylgrund sein kann und dass sie das Recht haben, offen darüber zu sprechen.
Welche Massnahmen wünscht ihr euch von der Politik, die eure Arbeit und das Leben von LGBTIQ-Flüchtlingen in der Schweiz einfacher machen würden? Um die derzeitige Praxis weiterzuentwickeln, ist es notwendig und zwingend erforderlich, dass sich die verschiedenen Akteur*innen, insbesondere die für die Anhörungen zuständigen Personen und die Dolmetscher*innen, über die Besonderheiten der SOGIESC-Anträge (SOGIESC steht für «Sexual Orientation, Gender Identity and Expression, and Sex Characteristics») informieren. Regelmässige und verpflichtende Sensibilisierungstrainings würden es ermöglichen, die spezifischen Schwachstellen zu erkennen und besser zu verstehen.
Welche weiteren Vorteile hätten solche Trainings?So liessen sich auch diskriminierende, unsichtbar machende oder ausgrenzende Verhaltensweisen, die bis zur Behinderung der Tatsachenfeststellung führen können, vermeiden. Eine gleichberechtigtere und sensiblere Zusammenarbeit bei der Feststellung des Sachverhalts ist notwendig, insbesondere um die Fähigkeit von LGBTIQ-Asylsuchenden, traumatische Erinnerungen wiederzugeben, besser zu ermöglichen. Die Pflicht, den Antrag zu begründen, muss mehr und mehr zu einer gemeinsamen Pflicht werden. Was die Unkenntnis der Ausgangslage betrifft, sollte das Staatssekretariat für Migration andere Abklärungsmassnahmen im Verfahren wie Gutachten oder die Konsultation von Drittpersonen wie etwa LGBTIQ-Verbänden vor Ort oder NGOs fördern.
Welche Forderungen hat der Verein im Hinblick auf die rechtliche Analyse? Man sollte aufhören, die Plausibilität der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder des Geschlechtsausdrucks und der sexuellen oder biologischen Merkmale auf der Grundlage von Stereotypen zu analysieren. Man sollte vielmehr endlich die Tatsache berücksichtigen, dass diese Elemente die grundlegendsten Aspekte der Selbstbestimmung, der Würde und der Freiheit von Personen darstellen. Es sollte auch daran erinnert werden, dass im Falle von Zweifeln an der Wahrscheinlichkeit der SOGIESC einer Person Beamte den Grundsatz des Vertrauensvorschusses anwenden. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das in der Schweiz am 1. April 2018 in Kraft trat, enthält eine umfassende und systemische Definition von Gewalt und legt eine ausdrückliche Verpflichtung zum Schutz der Opfer «ohne jegliche Diskriminierung» (Art. 4 Abs. 3) fest. Diese hängt insbesondere mit der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität zusammen.
Gibt es im Asylrecht bereits spezielle Verfahrensvorschriften zum Schutz von Personen, die geschlechtsspezifisch verfolgt werden? Ja, allerdings werden diese ungenügend umgesetzt. Es ist wichtig, die besondere Verletzlichkeit von LGBTIQ-Personen sowie die Spezifität ihrer Motive zu berücksichtigen, was sich sowohl im Verfahren als auch bei der Aufnahme der Personen widerspiegeln muss. Die soziale Isolation und Unsichtbarkeit, die geflüchtete LGBTIQ-Menschen erleben, wirkt sich auch negativ auf ihren Zugang zu bestimmten Dienstleistungen aus. Daher ist es wichtig, dass diese Gruppe von Menschen in spezialisierten Einrichtungen, insbesondere im Gesundheitsbereich, aufgenommen und von Fachleuten betreut werden, die über Erfahrung in der Begleitung dieser Bevölkerungsgruppe verfügen.
Was muss bei den Unterkünften beachtet werden? Zu ihrer physischen und psychischen Sicherheit sollten LGBTIQ-Personen nicht in Kollektivunterkünften untergebracht werden. Dies gilt vor allem für trans und intergeschlechtliche Menschen, da sie noch stärker als andere Gruppen von Gewalt bedroht sind. In jedem Fall müssen trans und intergeschlechtliche Personen abschliessbare, eigene Sanitärräume und ein eigenes Zimmer erhalten. All diese Ressourcen tragen dazu bei, das Risiko der Reproduktion von LGBTIQ-phoben Diskriminierungen in der Aufnahmegesellschaft, von denen uns die Betroffenen so oft erzählen, zu verhindern.
Welche Ziele hat der Verein für die nächsten Jahre? Wir sind ein junger und kleiner Verein, der zusammen mit «Rainbow Spot Lausanne» in der Westschweiz die einzige Anlaufstelle für den Bereich LGBTIQ-Migration ist. Wir sind deshalb konfrontiert mit einer grossen Anzahl von Anfragen, nicht nur auf lokaler, sondern auch auf regionaler und nationaler Ebene. Anfragen, die oft über unsere Kapazitäten hinausgehen. Unser Ziel für die nächsten Jahre ist es deshalb, unsere Kapazitäten zu erhöhen, in personeller und finanzieller Hinsicht, um LGBTIQ-Personen im Asylverfahren besser unterstützen zu können und gleichzeitig Ressourcen in die politische Arbeit investieren zu können, in die Verbesserung der Aufnahmebedingungen sowie die Sensibilisierung der Behörden.
Aktuell läuft eine Crowdfunding-Kampagne, bei der du den Verein Asile LGBTIQ+ finanziell unterstützen kannst. Mehr Infos (auf Französisch) unter diesem Link.
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