Queere Göttinger Stadtgeschichte: «Zeit der vielen Küsse»
Ein Projekt zeigt die 50-jährige queere Emanzipationsgeschichte
Eine Ausstellung und ein Buch zeigen 50 Jahre queere Aufbrüche, Konflikte und Erfolge in Göttingen. Dieses Sichtbar-Machen queerer Stadtgeschichte könnte ein Vorbild für andere Städte sein.
«Die Situation der Homosexuellen und anderer Minderheiten in unserer Gesellschaft ist beschissen» war 1972 plötzlich auf dem unscheinbaren Aufruf in der Universität zu lesen. Es war das Jahr von Rosa von Praunsheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt». Daraufhin gründete sich die «Initiativgruppe Homosexualität Göttingen». 1974 folgte das «Sozialistische Frauenzentrum». Damit nahm die nun seit 50 Jahren in Göttingen laufende bemerkenswerte queere Emanzipationsgeschichte massiv an Fahrt auf.
Doch noch lange hatten Frauen- und Lesben-Bewegungen einerseits und Schwulenbewegung andererseits Probleme mit der Annäherung zueinander – nicht zuletzt aufgrund teils machohaften Verhaltens schwuler Kreise. Beide Bewegungen liefen zunächst weitgehend getrennt voneinander ab.
Innerhalb der Frauen- und Lesben-Bewegungen gab es in den 80er Jahren erhebliche Auseinandersetzungen. Es entstanden aber auch Projekte wie das Frauenhaus, der Frauennotruf, oder das Frauengesundheitszentrum. All dies existiert noch heute. Daneben gab es die Lesbenwoche oder das Lesbentelefon. Eine Aktivistin, die in diesen Bewegungen aktiv war, beschreibt jene Phase als «Zeit der vielen Küsse und der vielen Umarmungen, […] des Kämpferischen, des sich Findens und sich neu Er-Findens». Das «Frauen-LesbenZentrum» war für seinen radikalen Protest und viele Provokationen bekannt. Bis es 1993 dann mit einem Polizeiaufgebot geräumt wurde.
Nachdem es bereits mehrere teils parallel existierende Schwulengruppen gegeben hatte, gründete sich erst 1994 das Göttinger Schwulenzentrum. Dieses schloss aber bereits drei Jahre später wieder. Das schwule Leben verlagerte sich aus dem selbstorganisierten Bereich mehr in die Bars der Stadt. Gegenwärtig existiert in Göttingen überhaupt keine schwule Bar mehr. Auch dies ist Ergebnis des Zeitgeistes. Junge Schwule gehen mittlerweile in Bars, die auch von Heterosexuellen besucht werden und daten sich online. An diesem Beispiel zeigt sich das paradoxe Phänomen des Rückbaus von Strukturen durch erfolgreiche Kämpfe, wenngleich auch mancher diese Entwicklung bedauert.
Diese «Wellenbewegungen» des queeren Engagements, wie Klaus Müller aus dem Team der Herausgebenden des Buches es gegenüber Mannschaft beschreibt, zeigen sich an vielen Beispielen in Göttingen. Insgesamt gab es in der Stadt in den letzten 50 Jahren etwa 140 queere Initiativen, Gruppen und Organisationen. Es sind besonders die vielen kurzlebigen Initiativen wie Treffen, Telefonberatungen, Büchertische und Aktionswochen, welche die Lebendigkeit der Szene ausmachen. Auch wenn vieles schnell wieder beendet war, ergaben sich daraus immer auch Ansatzpunkte für Nachfolgendes.
Gerade die Fluktuation einer Studentenstadt wie Göttingen entfaltet hier ihre doppelte Wirkung: Oftmals brechen Initiativen schnell in sich zusammen, weil Menschen weiterziehen. Andererseits werden durch den ständigen Wechsel auch dauerhaft neue Impulse geliefert. Es zeigt sich, dass emanzipativer Fortschritt letztlich das Ergebnis manchmal zielgerichteter, gelegentlich widersprüchlicher, oft aber einander befruchtender Prozesse ist.
Ausstellung und Buch zeichnen diese Entwicklungen nach. Es wird aber auch das Innenleben von Gruppen beleuchtet. Es kommen einzelne Teilnehmende einer Schwulengruppe zu Wort. Sie berichten über ihre Zuversicht und ihre Ängste. Manche sind davon irritiert, dass andere dort nur nach Sex suchen. Wieder andere wollten auch in den 80ern vor allem Politik machen, andere eigentlich nur Party. Manche sahen die Schwulengruppe lediglich als Ort des Coming Outs und verliessen diese danach schnell wieder.
Eindrücklich beschreiben ehemalige Aktivist*innen rückblickend ihre Wut und Ohnmacht während der Aids-Krise. Aus dieser Energie heraus schufen sie dann die Göttinger Aids-Hilfe. Daraus wiederum entstanden die heute noch, und mittlerweile seit 25 Jahren existierenden, «Queeren Kulturtage». Dies führte auch die in Göttingen lange parallel verlaufenden lesbischen und schwulen Aktivitäten etwas näher zusammen. Hier zeigt sich, wie aus der Kraft einzelner gegründeter Organisationen wiederum neue entstehen können. Queere Energie wird weitergeben und potenziert sich.
Während in den 70er Jahren noch der gesellschaftliche Umsturz für viele das zentrale Ziel war, ging es in den 80er und 90er Jahren darum, das Erreichte zu verteidigen und in feste Strukturen zu überführen. So ist das queere Engagement in Göttingen immer auch Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse gewesen. In einer Zeit, als der gesellschaftskritische Geist der 70er Jahre in der Schwulenbewegung immer weiter abflaute, ergriffen drei Männer die Initiative zu dem, was heute überregional als «Akademie Waldschlösschen» bekannt ist. Sie gehört gegenwärtig zu den Deutschlandweit bedeutendsten queeren Bildungseinrichtungen.
In den Jahren seit 2010 hat sich die Form des queeren Engagements weiter gewandelt. Trans*-Angebote haben in dieser Zeit im queeren Leben in Göttingen einen massgeblichen Raum eingenommen. Das heute existierende «Queere Zentrum», das wiederum aus den «Queeren Kulturtagen» hervorgegangen ist, und der damit verbundene Verein «Queeres Göttingen e.V.» dienen als Schirm vieler Initiativen und Gruppen. Unter diesem Dach finden soziales Miteinander, Gesundheitsaufklärung, Beratung und Bildung für queere Menschen statt.
Die Initiator*innen des Projektes «In Bewegung kommen» in Göttingen haben sich seit 2019 daran gemacht, diese Geschichte der queeren Emanzipation öffentlich zugänglich zu machen. Sie wollten damit vor allem Sichtbarkeit erzeugen. Daher ist es von hoher symbolischer Bedeutung, dass diese Ausstellung im Alten Rathaus, dem touristischen Kern der Göttinger Innenstadt, stattfinden kann.
Die Ausstellung zeigt in mehreren Räumen auf Schautafeln, anhand von ausgestellten Gegenständen und in Hörstationen verschiedene Aspekte queerer Emanzipation. Es geht um Leben in einer heteronormativen Gesellschaft, die Entstehungsgeschichte einzelner Gruppen, queere Alltagskultur und Empowerment.
Das Buch ist zeitlich chronologisch entlang der einzelnen Schritte des Kampfes um Selbstbehauptung aufgebaut. Es macht so umso mehr die Ungleichzeitigkeit der queeren Emanzipation deutlich. Es zeigt die Potentiale und die Konflikte des gelegentlich in ungeordneten Bahnen verlaufenden Agierens. Und so sind Buch und Ausstellung auch für Menschen, die nicht in Göttingen leben spannend, da Göttingen als Referenzpunkt für viele ähnlich strukturierte Städte gesehen werden kann.
Die queere Perspektive der Stadtgeschichte musste aktiv erarbeitet werden. Dies gelang aufgrund der vielen Aufzeichnungen und Zeugnisse von damals beteiligten Personen. «Es gab Ende der 20er Jahre in Göttingen grosse Kostümfeste, auf denen viele Homosexuelle verkehrten, aber davon ist kaum etwas überliefert. Es gab auch einige schwule Menschen aus Göttingen, die ins KZ mussten», sagt Herausgeber Klaus Müller. Umso wichtiger war es ihm, den Erinnerungsprozess an die letzten 50 Jahre aktiv zu gestalten: «Wir wollen daran erinnern, denn was nicht aufgezeichnet wird, war letztlich nicht existent.»
Gezeigt wird in Buch und Ausstellung eine Göttinger Mutgeschichte, die allerdings weiter verteidigt werden muss und vor immer neuen Herausforderungen steht. Ausstellung und Buch machen nicht nur Gegenwärtiges präsenter, sondern rufen endlich auch eine Erinnerung ins Gedächtnis der Stadt, die bisher nur wenige interessiert hat, und die selbst für viele Interessierte kaum sichtbar war.
Weitere Informationen zur Ausstellung «In Bewegung kommen – 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen». Derzeit wird daran gearbeitet, die Ausstellung auch digital verfügbar zu machen. Das Buch zu diesem Projekt ist im Wallstein Verlag erschienen.
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