Reizthema Nicht-Binarität: Entspann dich, liebe Gesellschaft
Erst feierte die Schweiz Nemos ESC-Triumph, dann debattierte sie über Sein und Nichtsein nicht-binärer Identität. Neun Gedanken dazu und ein Plädoyer für mehr Lockerheit.
Diesen Sommer geschah es wieder. Eine Debatte erhitzte das Innere der Schweiz. Draussen weinten Wolken. Und ich wunderte mich über die hiesige Stimmung, so wechselhaft geartet wie das Wetter. Zuvor noch, im Mai, war aus der Schweiz Stolz empor gesprossen: Nemo hat den Eurovision Song Contest gewonnen! Die Massen tobten, klatschten frenetisch, die Presse purzelbäumte.
Bis der Juni kam und die ersten Blüten des Erfolgs begannen auszutrocknen. Es ging nicht mehr um Nemos Song «The Code», den bejubelten Geschlechter- und Genresprenger. Plötzlich ging es darum, wie man über einen Menschen schreibt, der sich weder ganz als Mann noch als Frau identifiziert. Wie schreibt man über eine nicht-binäre Person? Der Autor Michael Marti kommentierte diese Frage in seinem Essay «Nemo und die Sprache: Die Schweiz in der Gender-Falle» in der Tageszeitung Der Bund wie folgt:
«Während die weite Welt sich in gewohnten Bahnen dreht, verbeugen und verbiegen sich hiesige Medien in ihrer Sprache vor Nemo und den Sprachweisungen der Nonbinären-Community. . . . Die Sprache der Medien muss unverkennbar neutral bleiben, frei von ideologischen Einflüssen und Vereinnahmungen. Sie darf sich weder in Wortwahl noch Ausdrucksweise zum Sprachrohr aktivistischer Anliegen machen, und sei die Sache noch so sympathisch.»
Obendrein hatte Nemo den Moment öffentlicher Aufmerksamkeit genutzt, um in der Schweiz neben «Mann» und «Frau» ein drittes Geschlecht einzufordern, wie es in Deutschland und Österreich existiert: eine weitere Zündschnur in der Debatte um Sein oder Nichtsein von Nicht-Binarität, die in die Verliese der (sozialen) Medien führte, in die Kommentarspalten, in denen schon etliche Menschen gequält wurden.
Zum Beispiel Kim de l’Horizon: einst umjubeltes Literaturtalent, das mit seinem «Blutbuch» den Deutschen und auch den Schweizer Buchpreis einheimste (MANNSCHAFT berichtete). Als die Debatte um Nemos politische Forderung zur maximalen Lautstärke aufdrehte, kam es einem zarten Flüstern gleich, was Kim de l’Horizon am 4. Juni auf Instagram verkündete: eine 15-minütige bewegte Erklärung, warum sich Kim erschöpft aus der Öffentlichkeit zurückzieht: «Bestimmte Minderheiten werden heute gesehen und gehört, aber das bringt es mit sich, dass man dafür auch verletzt wird.»
Wo sind die jubelnden Massen, wenn es unbequem wird?
Was stimmt mit uns als Gesellschaft nicht? Erst feiern wir Kim und Nemo für Buch und Song, überschlagen uns vor Freude – und dann schlagen wir (verbal) auf sie ein wegen ihrer Identität, ohne die es dieses Buch oder diesen Song nicht gegeben hätte. Wo sind die jubelnden Massen, wenn es unbequem wird? Wen kümmert es, wenn aus den Held*innen von gestern die Leidenden von heute geworden sind? Über Kims Rückzug haben die Medien nicht berichtet.
Eine gesunde Gesellschaft fusst auf einem öffentlichen Diskurs und dem argumentativen Aushandeln von Fragen, die alle betreffen. Wären da nicht die Kommentarspalten oder Schlagzeilen, die empörte Untertöne weitertragen und die Luft für einen unaufgeregten Austausch verdünnen. Etwa der Tagesanzeiger wählte den Titel «Bald brauchen wir noch ein viertes und fünftes Geschlecht» für eine Sendungskritik des «Arena»-Politik-Talks «Ist die Schweiz bereit für das dritte Geschlecht?». Nach einer Umfrage titelte das gleiche Medium ein paar Tage später: «Kein ‹Nemo-Effekt›: Nicht einmal die Jungen sagen Ja zum dritten Geschlecht» (MANNSCHAFT berichtete).
Wie neutral wirken die beiden Wörtchen «nicht einmal» im Titel? Mmmh.
Aus einem freudetaumelnden Frühling stolperte die Schweiz in einen pronomen-polarisierten Sommer. Doch der Sommer hatte auch etwas Gutes: Die Ferienzeit, die Ruhe brachte. Wer in Sardinien lag, lag in Sardinien und zündelte nicht in Kommentarspalten.
Bevor ich mich selbst in die Ferien aufmachte, fand ich mich in einer Stimmung wieder, irgendetwas zwischen «enttäuscht» und «erregt» und «fragend». In diesem Zustand erreichte mich eine Mail aus Deutschland, die ich mit anschwellender Aufmerksamkeit las. Darin pries der Verlag «w_orten & meer» ein Buch an, in dem es um nicht-binäres Leben geht. Die Idee, ein Interview zu führen mit der Person, die besagtes Buch geschrieben hat, Birgit Palzkill, erschien mir ein guter Schritt, um aus dieser seltsamen Stimmung herauszukommen und mehr über nicht-binäre Menschen zu erfahren. Birgit hat mit siebzehn nicht-binären Menschen im Alter von 20 bis 70 Jahren gesprochen und aus diesen Interviews anonyme Personen konstruiert.
Das Buch «Nicht binär leben» ist am 16. Oktober, dem Internationalen Pronomen Tag, im Verlag «w_orte & meer» erschienen.
Für welche Personen ist das Buch zu empfehlen? Für alle, die nicht binär leben und leben wollen. Für alle, die verstehen wollen, was es heisst, nicht binär zu leben. Für alle, die in verschiedenen Kontexten wie Schule, Universität, Verwaltung, Beratung und Medizin einen respektvollen Umgang mit nicht binär lebenden Menschen gestalten wollen.
Mehr Informationen über nicht-binäre Identität: nonbinary.ch
Das Gespräch mit Birgit dauerte zwei Stunden. Birgit sass in Köln im hippen Stadtteil Ehrenfeld am Schreibtisch, die Sonne schien durchs Arbeitszimmer und auf die Wandbilder, zwei selbst gemalte und eines von einer befreundeten Künstlerin, das abstrakte Strukturen auflöst – «stellvertretend für die Identität, die immer etwas Fluides ist und keine feste Struktur hat», erklärte Birgit.
Aus diesem Gespräch habe ich neun Gedanken mitgenommen, für den Fall, dass die Debatte um nicht-binäres Sein oder Nichtsein wieder aufflammen sollte. Und als Begleitung in den abkühlenden Herbst, der im besten Fall Raum bietet für eine unaufgeregte Reflektion.
Gedanke 1: Es ist keine Modeerscheinung.
Birgit: «Ich habe siebzehn Personen zwischen 20 bis 70 Jahren interviewt. Die 70-jährige und die 62-jährige Person zeigen, dass es keine Modeerscheinung ist. Bei ihnen war es so wie bei mir: Sie haben es immer schon gespürt, hatten aber keinen Begriff dafür. Das, was wir jetzt haben, ist keine Modeerscheinung, sondern mehr Sichtbarkeit. Natürlich auch, weil es in Deutschland jetzt juristisch den Geschlechtseintrag ‹divers› gibt. Auch weltweit gesehen ist es keine neue Bewegung: In anderen Kulturen gab es immer schon nicht-binäre Menschen und auch eine Sprache dafür. Das bekannteste Geschlecht jenseits der Kategorien von Mann und Frau sind die ‹Two Spirits›, die viele nordamerikanische indigene Völker kennen. Erst die Kolonisierung wertete diese Geschlechterkulturen ab und versuchte, sie auszuradieren.»
Gedanke 2: Es gibt Parallelen zur Schwulen- und Lesbenbewegung.
Birgit: «Mit der Nicht-Binarität ist es heute ähnlich wie in den 80ern, 90ern, als ich mein Buch ‹Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh› veröffentlicht habe – zum Beispiel bezogen darauf, wie tabuisiert lesbische Existenz war und wie wenig sichtbar. Bloss, dass heute durch das Internet alles schneller geht. Auch die Argumentationen sind die gleichen wie damals: Dass Jugendliche dazu verführt werden, nicht binär oder trans* zu sein. Früher hiess es: Die Jugendlichen werden verführt, lesbisch oder schwul zu sein. Wir dürfen Kindern Homosexualität nicht zeigen, sonst werden sie homosexuell.»
MANNSCHAFT-Autor Michael Freckmann schrieb, was einst Ian McKellen dazu sagte, der weisse Zauberer Gandalf aus der «Herr der Ringe»: Ian McKellen «verstehe gar nicht, wie ‹homosexuelle Propaganda› wirken solle. Er selbst sei in seinem ganzen Leben nur ‹heterosexueller Propaganda› ausgesetzt gewesen und bisher immer noch nicht heterosexuell geworden.» Hier geht's zum Artikel.
Gedanke 3: Man sieht es einer Person nicht an.
Birgit: «Vom Äusseren her kann ich überhaupt nicht erkennen, ob ein Mensch nicht-binär ist. Eine Person kann gendernonkonform aussehen und sich gleichzeitig eindeutig als Mann oder Frau identifizieren. Oder wenn eine Person einen Bart und einen Rock trägt, kann ich nicht rückschliessen, dass sie nicht-binär ist. Früher habe ich keine Röcke getragen. Ich sah darin sozusagen eine Verpflichtung eine Frau zu sein. Und weil ich mich dagegen wehrte, mich als Frau einzusortieren, wollte ich weder Kleid noch Rock anziehen. Seit ich nicht-binär bin, kümmert mich nicht mehr, was als weiblich oder männlich gilt. Ich habe seither eine grössere Spannbreite in meiner Kleidung, je nachdem, wie ich mich fühle. Das wurde auch in den Interviews oft geschildert.
Und ja, ich habe mir überlegt, ob ich einen geschlechtsneutralen Namen möchte. Was dagegenspricht: Ich bin über 70, bin meinen Namen gewohnt und komm' ganz gut mit ihm klar. Und ich sehe auch nicht ein, meinen Namen zu ändern, nur weil andere ihn immer gendern. Wenn ich jünger wäre, wäre es vielleicht anders. Wenn ich ihn ändere, dann nur, damit ich nicht immer fälschlicherweise als Frau angesprochen werde. Im Moment bin ich dazu noch nicht bereit, aber ich überlege hin und her.
Nicht-binäre Menschen sind ebenso vielfältig wie Männer und Frauen. Nemo und Kim de l’Horizon stehen für sich, nicht für andere. Es existieren riesige Unterschiede im Spektrum von Nicht-Binarität. Beispielsweise sind die einen zufrieden mit ihrem Körper, so wie er ist, während andere körperliche Angleichungen benötigen, um ihren Körper akzeptieren zu können.»
Gedanke 4: Menschen als nicht-binär zu akzeptieren ist eine Lebenshaltung
Birgit: «Wie ich anderen Menschen begegne, ist eine Lebenshaltung. Bin ich bereit, mich auf Zwischentöne einzulassen, anstatt stets in gewohnte Polarisierungen zu fallen: in richtig oder falsch, gesund oder krank, weiss oder schwarz. Es gibt viele solcher Polarisierungen. Bin ich bereit, etwas zuerst auf mich wirken zu lassen, anzuschauen, ohne es einzukasteln, direkt zu urteilen?»
Birgit Palzkill
Birgit Palzkill lebt selbst nicht-binär, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen rund um das Thema Geschlecht und machte schon in den 1990er-Jahren mit Studien zu lesbischem Leben und zu sexualisierter Gewalt im Sport tabuisierte Themen öffentlich. Birgit setzt sich in Pädagogik und Sport als Berater*in, Fortbildner*in und Wissenschaftler*in dafür ein, dass alle Menschen ohne Angst vor sexistischer und queerfeindlicher Diskriminierung und Gewalt und in gegenseitigem Respekt leben können.
Gedanke 5: Nicht-binär zu leben ist ein Menschenrecht.
Birgit: «Manchmal werde ich gefragt, warum nicht-binäre Menschen nicht einfach ein femininer Mann oder eine maskuline Frau sein können. Die Antwort ist einfach: Weil sie es nicht sind.
Das lässt sich nicht erklären. Genauso wenig, wie andere Personen erklären können, warum sie ‹Frau› sind oder warum sie ‹Mann› sind. Sie versuchen es biologisch zu erklären, aber das stimmt dann auch nicht so richtig.
Warum identifiziere ich mich mit diesem oder jenem Geschlecht? Diese Frage können die meisten cis Menschen auch nicht beantworten. Das ist ein komplexer Entwicklungsprozess. Es gibt viele Theorien, aber niemand kann es wirklich erklären.
Birgit: «Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, dass sein Selbst von seiner Umwelt gespiegelt wird. Für mich ist es wichtig, dass meine Umwelt mich als nicht-binären Menschen ansieht und nicht als etwas, was ich nicht bin, und mich ständig als eine Person bezeichnet, die ich nicht bin. Wenn das zum Beispiel eine Frau nicht verstehen will, dann sage ich: ‹ Wenn du ständig als Herr Meyer und nicht als Frau Meyer angesprochen wirst, stört dich das oder stört dich das nicht?› Dass mir kein Geschlecht zugewiesen wird, was ich nicht habe, ist für mich ein Menschenrecht.
Wenn ich 20 Jahre zurückblicke, hat sich viel getan. Damals waren nicht-binäre Menschen gar nicht sichtbar. Und wenn ich heute meiner Nachbarschaft sage, dass ich nicht-binär lebe, dann wissen die zumindest ungefähr, was ich meine. Früher hätten sie mich angeguckt wie ein Auto. Gleichzeitig geht damit mehr Gegenwind einher. In letzter Zeit sorge ich mich darum, dass wieder vermehrt Leute eher ‹unter dem Radar bleiben›, weil sie Angst vor Gewalt haben.»
In der Schweiz und in Österreich leben geschätzt zwischen 100'000 und 200'000 nicht-binäre und trans* Menschen, in Deutschland zwischen 800'000 und 1,7 Millionen. Es sind nur eins bis zwei Prozent der Bevölkerung, aber es sind viele.
Gedanke 6: Das mit der Sprache ist schwierig, aber es geht.
Birgit: «Schweden ist ein Vorbild. Dort haben sie ‹hen› als geschlechtsneutrales Pronomen eingeführt, inzwischen auch in Gesetzestexten. Es hat sich also in der schwedischen Sprache und Gesellschaft durchgesetzt. Im Englischen kann es mit dem Pronomen ‹they› gelöst werden. Für unsere deutsche Sprache wünsche ich mir auch ein allgemein anerkanntes, neutrales Pronomen. Dafür gibt es zwar Vorschläge, aber keines hat sich bislang durchgesetzt. Ich wünschte, es würde offiziell eines eingeführt, das wird aber in absehbarer Zeit nicht passieren. Bei der Vielzahl der momentan benutzten Neopronomen dürfte der Weg zu einem einzigen etablierten Pronomen noch lang sein. Eine Lösung habe ich im Moment nicht.
«Jeder Mensch kann auf seine eigene Weise eine Sprache finden, die zu ihm passt und gleichzeitig keiner Person ein unpassendes Geschlecht zuweist.»
Birgit Palzkill
Ich selbst wünsche, dass für mich keine Pronomen benutzt werden oder das Neopronomen «they». Wenn ein Gegenüber keine Neopronomen benutzen möchte, kann ich das akzeptieren. Ich tue mich selbst damit oftmals noch schwer. Aber ich wünsche mir, dass eine Person sich dann eben Gedanken macht, wie sie über mich geschlechtsneutral sprechen kann ohne Neopronomen. Und das geht mit etwas Kreativität. Ich kenne Menschen, die sich weigern, mich als Freund*in anzusprechen, weil sie das Sternchen nicht mögen. Kein Problem, dann können sie sagen, ich bin eine Person, mit der sie befreundet sind. In meinem Buch ‹Nicht binär leben› finden sich nur wenige Sternchen, weil ich es, um ehrlich zu sein, ästhetisch selbst nicht umwerfend finde. Es geht, geschlechtsneutral zu sprechen ohne Sonderzeichen und ohne Pronomen. Jeder Mensch kann auf seine eigene Weise eine Sprache finden, die zu ihm passt und gleichzeitig keiner Person ein unpassendes Geschlecht zuweist. Das verlangt nur ein bisschen Übung. In Berlin habe ich einen jungen Bekanntenkreis, der wie selbstverständlich geschlechtsfrei spricht. Und das fällt gar nicht gross auf.»
Gedanke 7: Hole dir zuerst selbst Informationen.
Birgit: «Es ist nicht die Aufgabe von nicht-binären Menschen andere aufzuklären – ähnlich wie beim Rassismus, wenn schwarze Menschen sagen: ‹Informiert euch über Rassismus, das ist nicht unsere Aufgabe, euch immer zu belehren.›
Nicht-binäre Menschen sollen ihr Sein nicht immer wieder erklären müssen. Es gibt inzwischen gute Quellen, um sich zu informieren. In meinem Buch kann man vieles nachlesen und in der Schweiz existiert eine sehr gute Seite: nonbinary.ch»
Gedanke 8: Niemand ist perfekt – auch nicht-binäre Menschen nicht.
Birgit: «Ich bin selbst damit aufgewachsen, nur in den zwei Kategorien Mann und Frau zu denken. Von daher kann ich gut verstehen, wenn Leute, die mich nicht kennen, mich als Mann oder Frau ansprechen oder auch Menschen, die wissen, dass ich nicht-binär lebe, das versehentlich tun. Und das führt dazu, dass ich oft gedacht habe, ich darf da jetzt nichts sagen, weil sie es ja nicht böse meinen. Ich halte es aber für wichtig, die eigene Verletztheit wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es schmerzhaft ist. Wenn ich das tue, kann ich danach immer noch überlegen, wie ich reagiere.
In unserer Gesellschaft ist alles in weiblich und männlich gegendert. Sich völlig frei davon zu machen, halte ich für fast unmöglich. Ich muss, wenn ich hier aufgewachsen bin, auch davon ausgehen, dass ich rassistische Denkmuster verinnerlicht habe. Ich versuche, mir diese bewusst zu machen und abzulegen, aber ich würde nie behaupten, dass ich mit solchen Mustern nichts zu tun habe. Genauso habe ich verinnerlichte Denkmuster in Bezug auf Geschlechter. Vieles davon habe ich sicher schon abgebaut, aber ich kann nicht sagen, dass ich völlig frei davon bin.
Ein Beispiel: Bei Kindern muss ich mich auch immer wieder disziplinieren, ihnen nicht direkt ein Geschlecht zuweisen zu wollen, sondern sie einfach als Kind zu sehen. Als ich kürzlich eine Person interviewt habe, die ein Kind hat, lag es mir auf der Zunge zu fragen, ob das Kind als Mädchen oder Junge zugewiesen wurde. Weil es mich eben doch auch irgendwie interessiert. Und dann habe ich sie gefragt, wie ihr Kind angesehen wird. Sie antwortete: ‹Das kommt drauf an, was es anzieht.›»
Gedanke 9: «Mann» und «Frau» werden nicht angegriffen, sondern ergänzt.
Birgit: «Wohin sich die Debatte entwickeln wird, weiss ich nicht. Ich kann nur sagen, was ich und was nicht-binäre Menschen im Moment brauchen. Ich denke nicht in Utopien, sondern ich gucke, was jetzt ist. Und jetzt ist es so: Es gibt Männer, es gibt Frauen und es gibt Personen, die sich als ‹weder noch› identifizieren. Und ich will, dass das anerkannt wird. Wo das dann hinführt, das werden wir sehen. Es steht niemandem zu, anderen Vorschriften bezüglich ihres Geschlechts zu machen. Es gibt Personen, die sich als Frau oder Mann eindeutig identifizieren und sie sollen das auch tun können. Aber ich will, dass sich die Gesellschaft ändert, indem nicht-binäre Personen mitgedacht werden als etwas Selbstverständliches und sich dadurch diese Polarisierung ein Stück auflöst.
Auch im Sport gibt es immer die Diskussion. Sport ist durch und durch binär organisiert, in Männersport und Frauensport. Mir geht es weder darum, die Frauen- noch die Männerwettbewerbe abzuschaffen. Aber es kann nicht sein, dass nicht-binäre Menschen keinen Sport treiben können, weil sie schon bei den Umkleiden nicht mitgedacht werden und es kein Team gibt, zu dem sie gehören. Was ich in den Vordergrund stelle, ist, dass ich so, wie ich bin, anerkannt werden will und teilnehmen kann.
Im Gespräch mit anderen versuche ich auf die persönliche Ebene zu kommen, um die abstrakte und grosse Diskussion über Geschlechter herunterzubrechen. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht.»
Mein Plädoyer: Lasst es uns lockerer angehen.
«Möchtest du mir noch etwas mit auf den Weg geben?», fragte ich Birgit abschliessend. Birgits Körper dehnte sich im Bildschirm aus. «Mein Herzenswunsch ist es, dass sich nicht-binäre Menschen vernetzen und unterstützen. Mit meinem Buch will ich sie dabei unterstützen.»
Was sich Kim am Ende des Instagram-Videos wünschte, waren drei Dinge:
Zärtlichkeit, Vertrauen, Zuhören.
Ich möchte etwas ergänzen: Lockerbleiben.
Dass so viele Menschen wie nur möglich so locker bleiben wie nur möglich, soweit es ihnen möglich ist und sie die emotionale Stärke dafür aufbringen können.
Niemandem wird etwas weggenommen. Männer können Männer bleiben. Frauen können Frauen bleiben. Es geht einzig darum, dass Nicht-Binäre genauso selbstverständlich existieren wollen. Das tut niemandem weh. Und wer sich sprachlich nicht «verbiegen» möchte, soll es lassen. Es gibt keinen Zwang, kein Gesetz, dass gegendert werden muss. Deshalb braucht es auch kein Verbot dagegen. Und wenn zwei sich nicht finden, dann finden sie sich nicht. Handschlag und «Tschüss». Wir müssen nicht alle der gleichen Meinung sein. Es genügt das Aushalten, dass es andere Lebensrealitäten gibt, und das Streichholz in der Hosentasche zu behalten, anstatt damit zu zündeln.
Lasst es uns lockerer angehen.
Wenn in den Medien, am Stammtisch, in der Bar, auf der Geburtstagfeier die Debatte das Thermometer hochkrabbelt, lasst es uns lockerer angehen.
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