Mit unseren queeren Vibes ist alles in Ordnung!
Anna Rosenwasser über ihre «Kein Gewitter ohne Regenbogen»-Strategie
Eine positive Einstellung zieht Positives an? Nicht unbedingt, schreibt Anna Rosenwasser in ihrem Kommentar*.
Letztens war ich beim Podcast einer jungen Unternehmerin eingeladen, wo ich als Gast über sexuelle Orientierung sprach. Wenn das Publikum wenig Vorwissen über das Thema hat – was hier der Fall war, es ist eigentlich eine Art Business-Podcast –, steige ich so zugänglich ins Thema ein, wie es geht. Meine Strategie: Mit dem Positiven anfangen. Also damit, dass Geschlecht und Anziehung eigentlich viel vielseitiger sind, als wir alle meinen. Ein schöner Gedanke! Und für viele Leute verträglicher, als wenn ich gleich mit Diskriminierungsformen und Suizidstatistiken reinfahren würde.
Was nicht heisst, dass ich sie nicht bringe: Meistens erzähle ich zuerst, was für eine schöne Freiheit queere Vielfalt mit sich bringen kann. Und dann fahre ich damit fort, welche Ungerechtigkeiten viele Queers noch erfahren müssen, weil sie sich selbst sind. Am Schluss weise ich dann oft auch auf Community-Angebote und Infoquellen hin. Diese Strategie nenne ich gerne «kein Gewitter ohne Regenbogen»: Ich weigere mich, queeres Leid zu thematisieren, ohne Hoffnung und Ideen anzubringen.
Die Entscheidung ist nicht, ob wir queer sind oder nicht, sondern: ob wir wir selbst sind!
Jedenfalls war ich in diesem Podcast-Interview gerade beim ersten Teil: Ich schwärmte davon, wie vielseitig Anziehung und Geschlecht eigentlich sind. Meine Gastgeberin hörte aufmerksam zu. «Die Entscheidung ist deshalb nicht, ob wir queer sind oder nicht», fuhr ich fort, «sondern, ob wir wir selbst sind!» – «Ja!», schaltete sie sich ein, «und dann strahlt man das auch aus!»
Ich nickte, aber etwas skeptisch. «Law of attraction: Wenn man man selbst ist, zieht man die positiven Vibes auch an», fuhr sie fort, «anstatt dass man negative Vibes ausstrahlt und dann halt auch Negatives zurückkriegt. Und davon krank wird.» Uff. Stopstopstop.
Liebe Leser*innen, glaubt mir, ich unterstütze eure positiven Vibes voll. Ich glaube durchaus, dass wir üben können, geduldig und liebevoll zu sein, mit anderen und uns selbst. Und ja, wer Zufriedenheit und Freude ausstrahlt, zieht vielleicht auch angenehme Begegnungen an. Aber: Wenn wir uneingeschränkt davon ausgehen, dass jede Person selbst dafür verantwortlich ist, ob sie Positives oder Negatives anzieht, dann kann das gefährlich sein.
Denn: Ungerechtigkeit existiert. Diskriminierung existiert. Die Vorstellung, dass es Positives anzieht, wenn man einfach sich selbst ist, funktioniert vor allem bei Leuten, die der Norm entsprechen. Viele von uns wissen: In manchen Situationen hat es negative Folgen, wenn wir zu sehr wir selbst sind. Das ist nicht unser Fehler; das sind Queerfeindlichkeit und weitere Diskriminierungsformen. Sie sind es, die uns schaden. Nicht unsere negativen Gedanken.
Ich weiss, diese Haltung verbreitet nicht gerade die positivsten Vibes. Das liegt daran, dass Ungerechtigkeit nicht weggelächelt werden kann. Widerstand kann auch herzlich, liebevoll und positiv sein, klar. Aber an dem, was uns widerfährt, sind nicht wir selbst schuld. Mit unseren queeren Vibes ist alles in Ordnung. Was sich ändern muss, ist das um unsere queeren Vibes herum.
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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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