«Queers for Palestine? Sind die jetzt komplett verrückt geworden?»
Michael Roth (SPD) im Interview
Der SPD-Aussenexperte Michael Roth sitzt seit 1998 im Bundestag. Bei der Wahl am 23. Februar tritt er nicht mehr an. «Mir war klar, dass ich nicht als Bundestagsabgeordneter, als Politiker in Rente gehe», sagt der offen schwule Genosse.
Im Jahr 2022 hatte er einige Monate wegen einer mentalen Erschöpfung pausiert. Darüber sowie über seine Entfremdung mit dem Politikbetrieb (MANNSCHAFT berichtete) und seine Zukunftspläne spricht er im Interview mit MANNSCHAFT+.
Herr Roth, wie geht es Ihnen so kurz vor dem Ausscheiden aus dem Bundestag?
Ich hatte mal einen wunderbaren Büroleiter im Auswärtigen Amt, der meinte, das Schlimmste, was man sagen könnte, ist „mit einem lachenden und einem weinenden Auge» zu gehen. Das legt so eine Unentschiedenheit an den Tag.
Mit anderen Worten: Man kann doch ganz offen sagen, dass man traurig ist. Zurzeit spüre ich schon eine gewisse Wehmut, aber über allem liegt auch ein Gefühl von Erleichterung, eine Art Befreiung und Neugier, nach 27 Jahren in der Politik nochmal etwas Neues machen zu können.
Durch die vorgezogenen Neuwahlen wird es jetzt kein Abschied mit Grandezza, aber so ist es eben. Ich mache das Beste daraus, mit meiner Entscheidung bin ich voll im Reinen. Das Ende ist nah, jetzt reite ich dem Abendrot entgegen. Und da draussen warten ja grossartige Dinge auf mich: Ich möchte gerne wieder einen Hund haben, ich würde gerne Bienen züchten und öfter Brot backen.
Überlegen Sie nicht trotzdem manchmal, gerade jetzt, wo wir die Demokratie nicht nur vor der AfD verteidigen müssen: Vielleicht müsste ich noch bleiben?
Mir war es wichtig, selbstbestimmt Abschied von der Berufspolitik zu nehmen. Es freut mich daher, so vielen Menschen zu begegnen, die mein Ausscheiden bedauern. Das schmeichelt ja nicht nur der eigenen Eitelkeit, sondern zeigt auch, dass man offenkundig nicht alles falsch gemacht hat.
Ja, ich sehe unsere Demokratie in einer schweren Krise, wie ich sie noch nie gesehen habe und es auch nie für möglich gehalten hätte. Ich habe mich noch nie so häufig erschreckt über mein eigenes Land und über die immer stärker polarisierten Debatten hier, aber auch in Europa.
Ich muss mir auch selber eingestehen, dass mir für diese harte Auseinandersetzungen bisweilen die Kraft fehlt. Ich wollte mir nie wie so viele in der Politik ein dickes Fell zulegen, aber auch ich musste lernen, nicht jede Kritik auf mich zu beziehen.
Das fällt natürlich schwer, wenn man fast jeden Tag beleidigt und bedroht wird, wenn man sich mit den wüstesten Verschwörungstheorien auseinanderzusetzen hat von Menschen, bei denen man spürt, da ist gar kein Zugang mehr möglich.
Die Zeiten, wo man sich zusammensetzte und versuchte, im Gespräch zumindest einen Minimalkonsens zu finden, die sind im Umgang mit einer wachsenden Zahl von Menschen schlicht vorbei. Das ist bitter.
Schliessen Sie aus, politisch weiterzuarbeiten, in welcher Form auch immer?
Aus der Berufspolitik bin ich definitiv raus, ich strebe kein anderes politisches Amt an. Aber ich bleibe ja ein politischer Mensch. Die Themen, die mir immer wichtig waren – Menschenrechte, Minderheitenrechte, LGBTIQ-Rechte, Geschlechtergerechtigkeit, Europa – bleiben mir ein Herzensanliegen. Die gebe ich ja nicht einfach so an der Pforte im Bundestag ab und sage: Macht‘s mal gut!
Sie wollten mal SPD-Chef werden, hat nicht geklappt. Glauben Sie, mit Ihnen an der Spitze hätte es an der einen oder anderen Stelle anders laufen können?
Das will ich doch hoffen, dass es anders gelaufen wäre. Aber im Grunde bin ich mit mir im Reinen. Diese Kandidatur war eine lehrreiche, aber auch schmerzhafte Erfahrung. Jetzt müssen es andere richten.
Glauben Sie, die SPD kann die Bundestagswahl gewinnen, mit dem Spitzenkandidaten Olaf Scholz?
Was mich an Olaf Scholz immer beeindruckt hat, ist, dass er selbst eine derartige innere Überzeugung mitbringt, mit der man vielleicht sogar Berge versetzen kann. Oder in diesem Fall Umfrageergebnisse umkehren kann. Wenn es ihm gelingt, diese Zuversicht auf die eigene Partei und die Wählerinnen und Wähler zu übertragen, dann ist noch vieles möglich.
Klingt aber nun nicht so, als würden Sie es eine unheimlich gute Idee finden: Scholz als Spitzenkandidat.
Natürlich kann niemand in der SPD mit den aktuellen Umfragen zufrieden sein. Und es bleibt ja nicht mehr viel Zeit, um aus diesem 15%-Loch herauszukommen. Deswegen müssen wir uns jetzt alle um das Gelingen kümmern und nicht ständig über ein mögliches Scheitern sprechen.
Im Wahlkampf geht es ja nicht nur um rationale Argumente für eine Partei oder einen Kandidaten, sondern man muss vor allem die Herzen der Wählerinnen und Wähler erreichen. Ich wünsche mir natürlich, dass die SPD sich inhaltlich so aufstellt, dass diejenigen, die skeptisch auf die Ampel blicken, am Ende dennoch ein Grundvertrauen in die SPD haben, weil sie sagen: Ja, diese Partei wird gebraucht und sie soll auch weiter stark sein.
Sie sagen, Sie mussten lernen, Kritik und Pöbelei nicht mehr so persönlich an sich ranzulassen. Es ging Ihnen ja eine Zeitlang seelisch nicht gut, Sie waren in Therapie.
Darüber können wir ganz offen und unverdruckst reden: Ich war lange krank. Wenn man fast fünf Monate seine Arbeit nicht mehr machen kann, dann muss man in so einem Amt, wie ich es habe, auch öffentlich Rechenschaft ablegen.
Selbstverständlich ist es Teil einer Therapie, zu lernen, nicht in jeden Boxring zu steigen und nicht alles persönlich zu nehmen, dass man mit seiner eigenen Kraft besser haushaltet und es vor allem schafft, seine eigene Batterie immer wieder aufzuladen.
Wenn man sich nur noch in einem Teufelskreis von permanenten Konflikten bewegt, ist man irgendwann leer. Gut, wenn man das rechtzeitig erkennt. Sonst steht man irgendwann vor einem Scherbenhaufen. Davor bin ich Gott sei Dank bewahrt worden. Auch weil ich relativ schnell professionelle Hilfe gefunden habe.
«Meine Zeit und meine Kraft ist mir zu schade, um mich ständig an russischen Bots und Hatern abzuarbeiten.»
Viele machen den schweren Fehler und wollen das mit sich alleine klären. Damit überfordert man sein eigenes Umfeld. Es ist für enge Bezugspersonen schwer zu akzeptieren, dass sie nicht nur Teil der Lösung, sondern bisweilen auch Teil des Problems sind. Das ist ganz hart für Partner, Familienangehörige oder enge Freunde, die sich dann teilweise ausgeschlossen fühlen.
Trotzdem halten Sie tapfer bei X/Twitter aus. Lesen Sie die teils fürchterlichen, auch homofeindlichen Kommentare selber und antworten selber?
Ich hatte mal jemanden im Team, der sich um Social Media gekümmert hat. Bisweilen hilft mir ein Kollege in seinem deutlich besseren Englisch, einen Tweet zu schreiben. Aber ansonsten mache ich das alles komplett selbst.
Ich zahle dafür einen Preis, weil das Dialogische kaum noch stattfindet. Auf der anderen Seite nehmen die Beschimpfungen und Fake News zu. Inzwischen lese ich nicht mehr alles, auch zum Selbstschutz. Meine Zeit und meine Kraft ist mir zu schade, um mich ständig an russischen Bots und Hatern abzuarbeiten.
Sie treten nun ab, mit Ihnen andere queere Köpfe wie Tessa Ganserer. Kevin Kühnert ist nicht mehr oder gerade nicht aktiv. Zuviel Stress auch durch wiederholte Anfeindungen. Dass Jens Spahn oder Alice Weidel mal aus diesen Gründen aufgeben, kann man sich schwer vorstellen.
Die machen ja auch einen gewissen Unterschied, nach dem Motto: Also ich bin nicht queer, ich bin schwul bzw. lesbisch und habe mit diesem ganzen LGBTIQ-Krempel nichts am Hut.
Ich wollte eigentlich nie der schwule Politiker sein, der schwule Politik betreibt. Erst als Staatsminister merkte ich, dass ich in anderen Ländern, die in Sachen Toleranz und Gleichstellung leider noch nicht so weit sind wie wir, sowas wie ein Vorbild wurde: »Schaut mal, man kann in der Politik auch als Schwuler Karriere machen.» Ich habe erkannt, dass ich anderen Mut und Hoffnung machen kann. Erst dann bin ich in diese Rolle hineingeschlüpft. Ganz bewusst auch, um LGBTIQ-Politik zu betreiben.
LGBTIQ-Rechte sind Menschenrechte. Ich erwarte, dass wir uns alle dahinter vereinigen können. Genauso wie ich ja auch von Männern erwarte, dass sie Feministen sind. Wir können diese Gesellschaft nicht gerechter machen, wenn man das immer nur denen überlässt, die selbst betroffen sind. Dann dürften sich nur Frauen um Geschlechtergerechtigkeit kümmern und Menschen mit Migrationshintergrund um Integrationspolitik. Ich bin immer dafür eingetreten, dass es eine Solidarität unter Minderheiten gibt.
Und – gibt es sie?
Hier bei uns eher selten. Aber in vielen Ländern war ich begeistert zu sehen, dass Roma, LGBTIQ-Aktivisten oder Frauenrechtlerinnen ganz eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten, weil sie wussten: Am Ende sind wir alle in einem Boot. Denn Autoritarismus und Diktaturen suchen sich oft Minderheiten als Opfer aus.
Diese Grundsolidarität habe ich in anderen Ländern in Europa eher wahrgenommen als bei uns. Darum kann ich auch meiner eigenen Community Kritik nicht ersparen.
«Nicht jeder, der das Wort queer nicht kennt, ist gleich homophob.»
Nicht jeder, der das Wort queer nicht kennt, ist gleich homophob. Ich kann auch nachvollziehen, dass Menschen ausserhalb von Grossstädten mit Trans-Identität erstmal fremdeln, wenn sie dazu keinerlei Berührungspunkte haben.
Darum sage ich: Wir müssen raus aus diesen Bubbles! Wir müssen uns begegnen, uns anschauen, wir müssen auch tolerant sein, um die Herzen der Menschen zu gewinnen und nicht jeden gleich verurteilen, der vielleicht noch etwas mehr Zeit braucht. Lasst uns doch ein bisschen entspannter miteinander umgehen.
Warum, glauben Sie, ist das anders in anderen europäischen Ländern?
Der Kampf ist dort oft noch ein ganz anderer. Wie viele schwule Freunde habe ich in Europa, die nach wie vor ein Doppelleben führen, die noch nicht mal ihren Freundinnen und Freunden, geschweige denn ihren Angehörigen, etwas über ihre sexuelle Identität erzählen. Es sind Länder, wo ein Coming-out einfach noch ganz viel Mut erfordert.
Deswegen bin ich vielleicht hierzulande im Umgang mit Berührungsängsten gegenüber queeren Themen etwas entspannter, weil ich anderswo sehe, dass es wirklich noch ums Existenzielle geht.
Ich habe den Eindruck, wir sind hier sehr verbissen geworden, und das tut uns nicht immer gut. Wir selber haben nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen. Wir mussten auch lernen von den skandinavischen Ländern und den Niederlanden. Wir sind nicht in allem immer die Besten - erst recht nicht, wenn es um queere Rechte geht.
Es gibt auf Bundesebene und im Land Berlin Queerbeauftragte der Regierung. Die werden von rechts kritisiert, aber auch von der Linken. Ihre Bilanz?
Ich wünschte mir, dass solche Posten ganz überflüssig werden, dass die Fragen von sexuellen Minderheiten ein ganz selbstverständlicher Teil unserer Arbeit werden. Manchmal besteht ja auch die Gefahr, dass so ein Beauftragter eine Art Feigenblatt wird.
Mir ist es wichtiger, dass wir an Richtlinien arbeiten, wie wir LGBTIQ-Rechte stärker in unsere internationale Arbeit einbringen. Man kann den Einsatz für LGBTIQ-Rechte nicht nur abhängig machen von progressiven Botschafterinnen und Botschaftern.
Fest steht: Nichts kommt von selbst, nichts ist von Dauer. Man muss immer wieder um LGBTIQ-Rechte kämpfen. Aber wir sollten es nicht mit Schaum vor dem Mund tun.
Es gehen auch immer mehr queere Ausgehorte verloren.
Wir erleben das Sterben von Orten und Institutionen, die in meiner Generation noch ganz wichtig waren, wo man einfach angstfrei sein konnte, wie man sein wollte. Bars, Cafés, Restaurants, was auch immer. In Berlin gibt es davon noch einige, aber in Frankfurt, in München, in Hamburg lässt das dramatisch nach. Die queere Infrastruktur geht verloren.
Und ich hoffe nicht, dass wir in Deutschland irgendwann wieder in eine Situation kommen, wo wir uns Schutzräume suchen müssen, um auch in so einer weltoffenen und liberalen Stadt wie Berlin so sein zu können, wie wir sind.
Das ist leider schon heute nicht mehr überall möglich. Leider. Und wenn die Polizeipräsidentin sagt, in bestimmten Teilen Berlins könne man sich nicht mehr offen als Jude bekennen oder als Schwuler Hand in Hand mit seinem Partner herumlaufen, dann ist das ein Skandal. Diese Debatte müssen wir führen und die Realitäten beschreiben. Natürlich ist das häufig ein Problem von Männern mit einem migrantischen Hintergrund. Das muss man doch benennen können. Deshalb habe ich die Kritik an unserem ehemaligen Generalsekretär Kevin Kühnert überhaupt nicht verstanden. (MANNSCHAFT berichtete).
Ebenso wenig kann ich verstehen, dass sich LGBTIQ-Aktivisten völlig unkritisch mit einer palästinensischen Terrororganisation solidarisieren, wo doch jeder weiss: Im Gazastreifen kannst Du keine fünf Minuten frei Dein Schwulsein ausleben, aber alle reisen gerne nach Tel Aviv und lassen es da beim grössten Pride March der Region krachen. Das war meine jüngste Entfremdung, wo ich mir dachte: «Queers for Palestine»? Sind die denn jetzt komplett verrückt geworden?!
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