Leben und Lieben mit einer körperlichen Einschränkung
Vor ihren über 1,5 Million Follower*innen hat das Paar keine Geheimnisse – fast keine
Paul Castle ist fast blind, Matthew Castle wuchs in einer Sekte auf. Als Jugendliche liessen sich der Kanadier und der Amerikaner von Schicksalsschlägen nicht unterkriegen. Heute sind sie verheiratet und lassen die Öffentlichkeit über Social Media an ihrem Leben teilhaben.
Pauls Geschichte Paul Castle war einfach ungeschickt. Alle sagten es ständig und so glaubte er es auch. Als kleiner Junge lief er ständig in Dinge rein, im Sport war er eine Niete, grössere oder kleinere Unfälle waren nichts Aussergewöhnliches. Typisch Paul!
Mit fünf Jahren bekam der Kanadier eine Brille. «Das ist meine früheste Kindheitserinnerung: Wie ich aus dem Optikergeschäft kam und die Welt erstmals gestochen scharf sehen konnte», sagt Paul. Doch als die Jahre vergingen, blieb er tollpatschig. Am Augenlicht konnte es nicht liegen, er hatte ja eine Brille.
Besonders schwierig waren Situationen mit schlechten Lichtverhältnissen. Wenn andere beim Lagerfeuer Sternbilder am Nachthimmel ausfindig machten, sah Paul nichts. «Ich fragte mich ständig, weshalb ich die Dinge nicht erkennen konnte, die sie sahen», sagt er. «Also tat ich einfach so, als ob ich den Grossen Wagen ausmachen konnte. Es war einfacher, als meine Augen anzustrengen.»
Wie in Kanada üblich durfte sich Paul mit 16 Jahren ans Steuer setzen und zur Schule fahren. Als er auf der Autobahn die Spur wechselte, rammte er beinahe einen anderen Wagen. Spätestens jetzt war allen klar, dass mit Pauls Augen etwas nicht stimmte. Ein halbes Jahr verging mit mehreren Besuchen bei verschiedenen Augenspezialist*innen, bis er schliesslich eine Diagnose erhielt: Retinitis pigmentosa.
Die degenerative Netzhauterkrankung ist tückisch. Im Lauf der Jahre sterben die Fotorezeptoren auf der Netzhaut allmählich ab – vom Rand bis hin zum Zentrum seines Gesichtsfelds. Die Farben verblassen und das Sehen bei schlechten Lichtverhältnissen wird immer schwieriger, bis Paul komplett erblinden wird. In seinem Fall gibt es weder ein Heilmittel noch eine Therapie, um den Sehverlust rückgängig zu machen oder aufzuhalten.
«Im ersten Moment war die Diagnose eine Erleichterung. Endlich wussten wir, was Sache ist. Und dass ich nicht nur tollpatschig war», erzählt Paul. Es gab einen Namen für die Erkrankung und Gewissheit, dass die Wissenschaft nach einer Behandlung suchte. Gegenüber Freund*innen und Familie machte er gute Miene zum bösen Spiel. «Wenn es anderen gut geht, geht es mir auch gut. So bin ich einfach.»
Erst fünf Jahre später, Paul war bereits 21 Jahre alt, holte ihn die Realität ein. Er war ausgezogen und lebte in San Francisco, wo er ein wöchentliches Treffen mit anderen Betroffenen besuchte. «Als ich zu sprechen begann, brach ich plötzlich weinend zusammen – vor all diesen Leuten, die ich zum Teil gar nicht kannte. Es war das erste Mal, dass ich alles rauslassen konnte.»
Mit 32 Jahren bleiben Paul heute etwas weniger als 10 % des Augenlichts. Dank eines Blindenhunds und moderner Technologien, darunter vor allem das Smartphone, navigiert er seinen Alltag grösstenteils selbstständig. Eigentlich hätte er Filmregisseur werden wollen. Schon als kleiner Junge liebte er es, Geschichten zu erzählen und zu inszenieren. Seine Babysitterin musste alles niederschreiben, damit er die Bilder dazu malen und ein Buch daraus machen konnte. Seine Sehbehinderung hielt ihn nicht davon ab, zum Künstler und Autor zu werden. Auf seiner Website verkauft er seine Bilder – Zeichentrickfiguren, für die er sich unter anderem von Disney, Star Wars und Harry Potter inspirieren lässt.
2022 veröffentlichte er mit «The Pengrooms» sein erstes Kinderbuch: Eine Geschichte über die zwei verliebten Pinguinmännchen Pringle und Finn, die im Tierreich Hochzeitstorten ausliefern. Jeder Auftrag bringt seine Herausforderungen mit sich, die die beiden Pinguine meistern müssen.
Grelles Licht und digitale Technologien helfen Paul beim Malen und Zeichnen. Da seine Augen Bleistiftzeichnungen auf Papier nicht mehr erkennen können, arbeitet er heute mit einem Tablet, wo er die Hintergrundbeleuchtung aufdrehen kann.
«Ich versuche Menschen über den Begriff der Blindheit aufzuklären», sagt Paul. «Behinderungen sind nuanciert, und ich glaube, viele Menschen stellen Blindheit mit totaler Dunkelheit gleich. Aber die blinde Community besteht aus Menschen, die noch etwas Sehvermögen haben, seien es Formen und Farben, sei es ein Tunnelblick wie bei mir, und aus vollständig Erblindeten.»
Matthews Geschichte Matthew Olshefski – wie er vor der Ehe hiess – und seine Geschwister mussten sich als Kinder die Ohren zuhalten, wenn im Supermarkt plötzlich Popmusik lief. Sie war des Teufels Werk. Einen Fernseher gab es nicht, Kleidung musste so viel Haut wie möglich abdecken (beim Schwimmen blieb das T-Shirt an) und Gespräche mit Personen des anderen Geschlechts mussten auf zwei Minuten begrenzt werden. Zu gross war die Versuchung, von Gottes Weg abzukommen und sich der Sünde hinzugeben.
Matthew und seine Familie waren Teil des Instituts in Basic Life Principles (IBLP), einer ultrakonservativen christlichen Sekte, die von Bill Gothard in den USA gegründet wurde. In diesem System sind Männer überlegen und Frauen unterwürfig, die Evolutionstheorie gilt als Schwindel und die Bibel als einzige Quelle der Wahrheit. Kinder werden zuhause unterrichtet und bleiben bei ihren Eltern, bis sie heiraten und eine eigene Familie gründen.
Die einzige Kunst, die im Hause Olshefski Einzug hielt, war die klassische Musik. Gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Schwester erhielt Matthew bereits als Dreijähriger Geigenunterricht. In ihrer Kindheit und Jugend wurden die Geschwister von Eltern und Lehrpersonen gefördert und spielten Konzerte im ganzen Land.
@matthewandpaul The moment he realized 😂 #prank #blind #husbandprank #storytime #couplegoals #disabilitytiktok #funny #interabled ♬ original sound – Paul Castle
Angesichts der strengen Regeln des IBLP unterdrückte Matthew als Jugendlicher seine Gefühle des Andersseins und der gleichgeschlechtlichen Anziehung. Seine Ängste und Hoffnungen hielt er in einem Tagebuch fest, das er auf der Unterseite seines Schranks mit Klebeband versteckte. Er befand sich mit seinen Geschwistern in einer anderen Stadt und war kurz davor, auf die Bühne zu gehen, als er einen Anruf seiner Mutter erhielt. Sie hatte sein Tagebuch gefunden. «Ich wünschte mir, dass ich auf der Stelle sterben würde», erinnert er sich. «Ich sah keine Zukunft mehr.»
Seine Mutter zog sein Handy ein und untersagte es ihm, den Familienwagen und den Familiencomputer zu nutzen. Matthews Leben kam zum Stillstand. Es folgten mehrere Gespräche mit seiner Mutter, in denen er seine Sexualität und das Geschriebene dementierte, es sei nur eine Phase gewesen. «Ich wollte etwas Zeit gewinnen, aber sie kaufte es mir nicht ab. Es war klar, dass nichts mehr so bleiben würde, wie es war», sagt Matthew. «Dann kam die Frist. Ich erinnere mich, dass es ein Donnerstag war, an dem ich aus dem Haus sein musste.»
Zur Entfremdung vom IBLP kam es, als Matthew gegen eines der Grundprinzipien von Gothards Lehren verstiess: Er stellte die Autorität seiner Vorgesetzten in Frage. Zu diesem Zeitpunkt engagierte er sich in einem sogenannten «Trainingszentrum» in Neuseeland, das frisch entlassene Häftlinge im Rahmen eines «Seminars» abfing und für das IBLP zu rekrutieren versuchte. «Das Seminar gibt ihnen praktische Ratschläge für den Wiedereinstieg in den Alltag – verpackt mit viel christlichem Charisma natürlich», sagt Matthew. «Ich wollte meine Aufgabe gut machen und widersprach im Fall eines ehemaligen Häftlings dem Pastor und dem zuständigen Bewährungshelfer, der ebenfalls IBLP-Mitglied war.» Matthews Widerworte wurden als Verrat angesehen. «Es war erschreckend, wie schnell sich alle von mir abwendeten. Es ist eine eng verbundene Gemeinschaft und mir blieb nichts anderes übrig, als den nächsten Flug zurück in die USA zu nehmen.»
Nach meinem Austritt plagten mich Ängste und Schuldgefühle. Würde ich in die Hölle kommen?
Nach dem Bruch mit dem IBLP öffnete sich für Matthew als junger Erwachsener eine neue Welt voller Freiheiten – Eindrücke, denen er sich nur langsam annäherte. Der heute 40-Jährige erinnert sich, wie er mit der Comedyshow «The Office» oder der «Bourne-Trilogie» erstmals säkuläre Filme und Serien konsumierte. Es gab aber auch Schattenseiten. Matthew erzählt, wie er abends vor dem Einschlafen wie gelähmt im Bett lag: «Nach meinem Austritt plagten mich Ängste und Schuldgefühle. Würde ich in die Hölle kommen? Habe ich mich richtig entschieden?»
Matthews und Pauls Geschichte «Drei, zwei, eins: Stufe, Stufe, Stufe.» Matthew und Paul sind zuhause in Seattle unterwegs und gehen eine Treppe hinunter. Matthew hat den Arm bei seinem Ehemann eingehängt und die Entfernung und Anzahl der Stufen angekündigt. So meistern die beiden das Hindernis mühelos, ohne stehenbleiben zu müssen.
Mit Videos wie diesem geben Matthew und Paul auf Social Media einen Einblick in ihren Beziehungsalltag. Paul zeigt, wie er seine Wäsche faltet oder mit seinem Blindenhund Maple unterwegs ist. Manchmal spielt Matthew Paul einen Streich, indem er sich versteckt oder ihm unbemerkt Essen auf den Teller schaufelt. Sie lassen ihre Follower*innen aber auch an ernsten Momenten teilhaben, etwa als Paul einen neuen Scan seiner Netzhaut erhält und realisiert, wie sehr sich sein Augenlicht gegenüber den Vorjahren verschlechtert hat. In einem anderen Video verarbeitet er eine Absage, die er für eine Gentherapie bekommen hat. Zu sehr sei die Netzerkrankung schon fortgeschritten, so dass er für die klinische Studie nicht mehr in Frage komme.
Meine Behinderung öffnete mir mehr Türen, als sie verschloss.
Ob die unausweichliche, komplette Erblindung Paul denn nicht belastet? «Das passiert, aber selten», sagt er. Dann fühle er sich schon ein bisschen traurig. «Ich versuche in solchen Momenten immer wieder daran zu denken, dass sich durch meine Behinderung mehr Türen öffneten als verschlossen. Das möchte ich gerne weitergeben.» Er ergänzt mit einem Schmunzeln: «Und wenn das nicht reicht, um mich wieder aufzumuntern, dann nehme ich ein heisses Bad oder lasse mich von Matthew in den Arm nehmen.»
Matthew und Paul lancierten ihren englischsprachigen Podcast «His & His» sowie ihre Instagram- und Tiktok-Profile aus einer Laune heraus im Frühjahr 2020, als die Pandemie ihren Lauf nahm. Paul arbeitete als Maler und Künstler, Matthew war als professioneller Violinist unterwegs für Grössen wie Andrea Bocelli oder Josh Groban und gab Geigenunterricht. «Wir wollten von zuhause aus etwas Kreatives machen und hatten schon eine Weile über einen Podcast gesprochen. Wir sind kein alltägliches Paar und wollten unsere Geschichte teilen», erinnert sich Matthew. Die beiden bezeichnen ihre Beziehung als «interabled» – einen Begriff, für den sich im Deutschen noch kein gleichwertiges Pendant etabliert hat. Auf ihre Beziehung angewendet bedeutet es, dass ein Partner mit einer körperlichen Einschränkung lebt, der andere hingegen nicht.
Das neue Projekt war ein sofortiger Erfolg und ist zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden, die sie sechs Tage die Woche beansprucht. Nach drei Jahren erreichen Matthew und Paul mit ihren Kanälen heute über 1,5 Million Follower, kürzlich kam ein Youtube-Kanal dazu. In Kommentaren und DMs teilen die Fans ihnen mit, was sie besonders anspricht: Die Sichtbarmachung von Menschen mit Einschränkungen und die Hoffnung auf Akzeptanz und Liebe. «Viele haben Angst, dass ihre Behinderung in einer Beziehung nicht akzeptiert wird», sagt Paul. Bevor er Matthew 2016 kennen gelernt hatte, war er auf Grindr stets offen, was seine Einschränkung betraf. Auch wenn ihn die einen oder anderen Männer blockierten oder nach der ersten Verabredung ghosteten, ist Pauls Dating-Erfahrung eher positiv. «Ich hatte einige sehr schöne Dates und habe auch neue Freunde gefunden», sagt er und fügt schmunzelnd hinzu: «Aber wirklich geklickt hat es sowieso nur mit Matthew.»
Bei ihrem Kennenlernen erfuhren beide Männer schnell, dass sie bereits in jungen Jahren schwere Zeiten durchgemacht hatten. Matthew mit seinem Coming-out und dem Leben innerhalb der Sekte. Paul erlitt neben seiner Diagnose weitere Schicksalsschläge: Als er 13 Jahre alt war, beging seine alkoholsüchtige Mutter einen zweiten Suizidversuch. Daraufhin wurde er zu seiner Tante geschickt, die ihm als erstes eine Bibel in die Hand drückte und Gespräche mit dem Pastor aufbrummte. «Sie ahnte vielleicht, dass ich schwul bin und wollte mich heilen», vermutet Paul. Als junger Erwachsener glitt er selbst in die Alkoholsucht ab. Heute verzichtet er auf Alkohol.
Über Traumata zu sprechen – miteinander und im Rahmen von Therapiesitzungen – hat Matthew und Paul bei der Vergangenheitsbewältigung geholfen und die Lebensfreude zurückgegeben, die sie mit ihren Followern teilen wollen. In den bisher über 150 erschienen Podcast-Folgen sprechen die beiden eine Bandbreite von leichten und schweren Themen an, von Coming-out und Treue bis zu Dating und sexuellen Erfahrungen. «Mit Ausnahme von expliziten Details aus unserem Sexleben gibt es nichts, worüber wir nicht sprechen», sagt Matthew. «Über gute und schlechte Zeiten zu sprechen ist nicht nur heilsam für uns, sondern auch für unsere Zuhörer*innen.»
Auch wenn sich der Alltag von Matthew und Paul in vielen Punkten dem konventioneller Paare unterscheidet, wollen sie aufzeigen, dass ihre Beziehung gleich ist wie jede andere auch. «Es gibt Dinge, die Paul besser kann als ich und umgekehrt», sagt Matthew. «Wie in anderen Beziehungen nehmen auch wir Rücksicht aufeinander, machen Kompromisse und unterstützen uns gegenseitig. Dadurch sind wir nicht anders als jedes andere Paar auf dieser Welt.»
Kreativ sein will Paul weiterhin, auch dann, wenn er eines Tages komplett erblinden sollte. «Wenn ich nicht mehr malen kann, habe ich viele Ideen, die ich niederschreiben kann», sagt er. «Solange ich Geschichten erzählen kann, wird es meiner Seele gut gehen.»
Seit bald 20 Jahren nehmen Judith Wildi und Helene Grob bei Tanzsportturnieren in ganz Europa teil. Im Sommer tanzen sie in den höchsten Leistungsklassen bei der EM in Bern. Um bei der Jury zu punkten, braucht es neben Technik und Taktgefühl auch ein Talent für Entertainment. Und viel harte Arbeit (MANNSCHAFT+).
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