«Kein grösseres Tabu als schwuler Sex»: Queere Literatur in Corona-Zeiten
Donat Blum organisierte während des ersten Lockdowns das digitale Literaturfestival «Viral», das sich u. a. für die Sichtbarkeit von queeren Themen und Autor*innen in Pandemiezeiten einsetzte. Aber wie steht es überhaupt um LGBTIQ-Sichtbarkeit im Literaturbetrieb?
Der 1986 in Schaffhausen geborene Donat Blum war Co-Präsident des Filmfestivals «Queersicht» und ist Initiator sowie Mitherausgeber der ersten queeren Literaturzeitschrift des deutschsprachigen Raums: Glitter – Die Gala der Literaturzeitschriften. 2018 ist sein Debüt-Roman «Opoe»erschienen. Er lebt zwischen Berlin und der Schweiz. Wir wollten von ihm wissen, wie es generell um LGBTIQ-Sichtbarkeit im deutschsprachigen Literaturbetrieb steht – und warum schwuler Sex immer noch das grösste Tabu ist.
Donat, während des ersten Lockdowns habt ihr eine Art Online-Festival mit queeren Autor*innen veranstaltet, 33 Abende bzw. 165 Lesungen. Sind dir dabei Themen aufgefallen, die Queers besonders bewegten, die andere nicht ansprachen? Das Festival war nicht ausschliesslich mit queeren Autor*innen. Ihr Anteil war aber sehr gross, und die Themen decken eigentlich die ganze literarische Palette ab. Von Familien- über Migrationsgeschichten bis hin zu Identitätssuche – auch in Bezug auf Geschlechtsidentität. Um ein klassisches Coming-out ging es hingegen nie. Grundsätzlich lässt sich sagen: Eine queere Perspektive erlaubt einen anderen, oft ungesehenen Blick auf unsere Gesellschaft. Das macht die Thematik äusserst fruchtbar für Literatur. Literatur ist immer auch Zeitgeschichte und zugleich deren Aufarbeitung.
Merkst du, dass Corona auch in der LGBTIQ-Literatur ein wichtiger Punkt werden könnte? Das ist zu früh zu sagen. Mit und während Corona haben gerade Queers noch mehr Sichtbarkeit eingebüsst. Ich weiss eigentlich nur aus eigener Erfahrung, inwiefern sich Corona auf Queers spezifisch ausgewirkt hat. Gerade für Jugendliche, die noch bei den Eltern wohnen, die oftmals homo- oder transphob sind, muss es schrecklich gewesen sein, plötzlich 24 Stunden am Tag mit diesen Verwandten verbringen zu müssen. Auf den Berliner Strassen liess sich sehr gut beobachten, wie die queere Szene in sich zusammenfiel. Das, was noch übrig blieb, wurde plötzlich wieder viel «weisser» und «deutscher». Viele, die aus anderen europäischen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal, Polen usw. ins progressive Berlin geflüchtet waren, wurden gezwungen, zu ihren Eltern zurückzukehren.
Im anglo-amerikanischen Raum werden Bücher mit LGBTIQ-Inhalten explizit (auch) für den Mainstream vermarktet und von grossen Verlagen in Umlauf gebracht. Besonders im Bereich der Young-Adult-Bücher gibt’s neue Star-Autor*innen wie Becky Albertalli oder Simon James Green. (MANNSCHAFT berichtete.) Oft erlangen ihre Titel durch Verfilmungen riesige Bekanntheit, was ihnen erlaubt, von ihren Büchern zu leben – hauptberuflich. Wie ist das im Vergleich im deutschsprachigen Raum mit grossen Verlagen, Einkünften aus Publikationen, Verfilmungen? Ziemlich inexistent. Hier muss sich mensch noch immer glücklich schätzen, wenn das eigene queere Buch überhaupt verlegt wird. Wobei: Der eben erschienene Roman «Die Sommer» von Ronya Othman ist vermutlich der erste queere Spitzentitel eines wichtigen deutschsprachigen Literaturverlages. Und in der Programmvorschau wird klar gemacht, dass es darin eine lesbische Liebesgeschichte zu lesen gibt. Für die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum ist das geradezu revolutionär! Zu einer aktiven Vermarktung des queeren Alleinstellungsmerkmals, wie wir es aus dem anglo-amerikanischen Raum kennen, haben wir es aber noch nicht geschafft. Ronya könnte es mit dem Buch aber gelingen, ein oder zwei Jahre von den Tantiemen und den Lesehonoraren zu leben. Aber wie gesagt: Das ist ein grosse (grosse!) Ausnahme. Die Realität ist eher diese: Deutschsprachige Verlage wissen nicht mal wie «queer» ausgesprochen wird, also verschweigen sie es lieber ganz.
Warum denkst du, dass das in einer «Kulturnation» wie Deutschland nicht so klappt mit der queeren Literatur – und mit Verfilmungen, wo’s doch so viel staatliche Unterstützung fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen gibt und einen «Bildungsauftrag»? Ich glaube, dem Literaturbetrieb fehlen in weiten Teilen die Umgangsformen mit queeren Themen. Da müssen wir uns auch an der eigenen Nase nehmen: es hat sich bisher kaum jemand von uns öffentlich dafür eingesetzt, queere Literatur zu vermitteln. Andere marginalisierte Gruppen sind da lauter – und folglich auch erfolgreicher. Das wünsche ich mir auch für uns Queers. Denn wir und die ganze Gesellschaft brauchen dringend neue queere Bilder und Narrative.
Die ganze Gesellschaft braucht dringend neue queere Bilder und Narrative
Einige anglo-amerikanische Autor*innen vermarkten sich direkt im LGBTIQ-Marktsegment mit Selfpublishing-Titeln. Gibt’s das im deutschsprachigen Bereich auch – oder ist man da gleich Nischenprodukt und nicht mehr mainstreamtauglich? Literatur im engeren Sinn ist vermutlich nie mainstreamtauglich. Darum geht es aber auch gar nicht. Literatur kann der Gesellschaft Inputs geben und Bewegungen anstossen. Dafür muss sie nicht alle erreichen und auch nicht möglichst viele, sondern die richtigen Multiplikatoren. In diesem Prozess spielen selbstpublizierte Bücher keine zentrale Rolle. Sie fallen eher ins Segment der Unterhaltungsliteratur, und als queere Geschichten in den Bereich der Fanfiction, also direkt in die Nische «von Queers für Queers».
Im Fall von Becky Albertalli schreiben auch heterosexuelle (neuerdings als bisexuell geoutete, MANNSCHAFT berichtete) Frauen schwule Liebesgeschichten. Ist das eine Bereicherung – oder kultureller «Missbrauch», wie einige Aktivist*innen Albertalli vorwerfen? Muss man LGBTIQ sein, um ein wichtiges LGBTIQ-Buch zu schreiben? (Ich denke da an «A Little Life», das wirklich alles in den Schatten stellt, was ich sonst kenne.) Ronya Othmann hat das kürzlich in einer Kolumne ganz schön auf den Punkt gebracht: Die Frage ist nicht, ob mensch das darf, sondern ob mensch das kann. Queeren Geschichten merke ich meistens an, wenn sie von Nicht-Queers geschrieben wurden. Gewisse Erfahrungen, gerade auch Innerlichkeiten, können die wenigsten Autor*innen rein durch Empathie in der Fantasie entwickeln. Und auch Recherche reicht da nicht immer aus. Hanya Yanagihara und ihr «A Little Life» bzw. «Ein bisschen Leben» ist allerdings ein gutes Gegenbeispiel. Sie konnte es.
In vielen der Young-Adult-Bücher geht es um Liebe und grosse Gefühle bei Teenagern – aber Sex kommt nicht vor. Sehr im Gegensatz zu vergleichbaren Coming-out-Geschichten aus den 1970er-Jahren (z. B. Gordon Merricks «The Lord Won’t Mind», zu dt. «Ein Fall von Liebe»). Ist diese «Angst» vor sexuellen Handlungen typisch für unsere neo-prüde Zeit? Welche Rolle spiele Facebook & Co. dabei? Das ärgerliche ist ja: in heterosexuellen Young-Adult-Büchern kommt es sehr wohl zu Sex – zumindest unter der Bettdecke oder in der Blumenwiese. Das heisst: Die gesellschaftliche Homophobie findet in der Angst vor schwulem oder im weiteren Sinn queerem Sex ihren definitiven Ausdruck. Verlage fürchten, dass sie damit Leser*innen brüskieren könnten, Autor*innen wollen geliebt werden und Erfolg haben, und Literaturvermittler*innen wie bspw. Lehrer*innen haben Angst, von konservativen Eltern eins aufs Dach zu kriegen oder sich damit gar als lesbisch oder schwul zu outen. Das ist ja auch ganz schön bei Filmen zu beobachten: Es gibt quasi kein grösseres Tabu als schwulen Sex. Menschen können in minutenlangen Szenen geköpft oder vergewaltigt werden, aber zwei Männer, die sich – hart oder liebevoll – vereinigen, ist ein riesen No-Go, etwas, das noch immer als Verkaufsschädigend gilt.
Als Schwuler auf dem Land – ein Romandebüt mit Tiefgang
Wie reagieren die Autor*innen, mit denen du zu tun hast, darauf? Und wieso ist «Game of Thrones» mit der Überfülle an queerem Sex ein Hit bei Jugendlichen und im Mainstream, andererseits bei LGBTIQ-Young-Adult-Büchern ausgeblendet? Gibt es in «Game of Thrones» wirklich eine Überfülle an queerem Sex? Queere Charakteren ja, aber tatsächlicher queerer Sex findet da doch auch nur am Rande statt. Aber egal: Fraglos sind Jugendlich gerade was Sexualität und diverse Geschlechtsidentitäten angeht viel offener als vorangehende Generationen. Das beobachte ich bereits bei Leuten, die knapp 10 Jahre jünger sind als ich, und da hat natürlich das Internet die Finger im Spiel: Digital Natives sind mit viel diverseren Narrativen und Bildern aufgewachsen, als ich es mir je hätte erträumen können. Diese neuen Generationen sitzen allerdings noch nicht in den Entscheidungspositionen, erst recht nicht bei den Verlagen. Der Literaturbetrieb ist äusserst konservativ. Das hat auch mit dem schwindenden Buchmarkt zu tun. Die Risikobereitschaft ist enorm klein.
Der Literaturbetrieb ist äusserst konservativ. Das hat auch mit dem schwindenden Buchmarkt zu tun. Die Risikobereitschaft ist enorm klein
Mal abgesehen von Corona: Welche weiteren neuen Themen siehst du in LGBTIQ-Romanen der letzten 10 Jahre? Hat sich da etwas verändert/entwickelt? Geschlechtsidentität wird mehr und mehr ein Thema. Überhaupt: Identität wird nochmals ganz neu verhandelt. Gerade in der Literatur. Manchmal auch in der deutschsprachigen. Ältere Generationen bleiben aber definitiv auf der Strecke. Ich denke, das könnte auch damit zusammenhängen, dass ältere queere Autor*innen irgendwann aufgeben und sich entweder dem Druck beugen und nicht mehr Queeres erzählen oder aber das Schreiben ganz sein lassen. Der Wind im Literaturbetrieb ist für queere Autor*innen sehr rau. Ich verstehe jede und jeden, der sich diesem irgendwann nicht mehr aussetzen möchte. Die Enttäuschung, wenn jemand jahrelang an einem Text arbeitet, und der dann von Verlagen und Agenturen nicht mal angeschaut wird, die ist schon schwer zu verkraften.
Du lebst zwischen der Schweiz und Berlin. Welche Unterschiede bemerkst du, was aktuelle Queer-Debatten betrifft? Die Schweiz hinkt dem Deutschen Literaturbetrieb nochmals 10 Jahre hinterher. Sogenannte Migrationsliteratur kommt da erst gerade aufs Tapet und der Umgang damit, gerade auch von Verlagsseite, ist ziemlich dilettantisch. Ich habe noch keinen einzigen Beitrag im Schweizer Feuilleton oder Radio zu queerer Literatur gehört. Noch nie! Von den dazugehörigen Debatten mal ganz zu schweigen.
Warum ausgerechnet Berlin als zweite Heimat? Die Schweiz ist mir ganz klassisch «zu eng geworden». In der schwulen Community gibt es dort keine Debattenkultur – Kritik und Widerspruch werden als Angriff gewertet. Und bei der Kleinheit der Schweizer Community kann sich niemand Feinde leisten. Es gibt aber wohl auch keine schwulere und progressivere Stadt als Berlin auf dieser Welt. Also, ich habe noch keine gesehen, ausser Toronto vielleicht. Und Berlin als grösste Stadt im deutschsprachigen Raum ist auch so etwas wie dessen geistiges Zentrum. Hier kommt alles zusammen: Film, Verlage, Theater, Politik, Clubkultur. Die Bereiche, die den gesellschaftlichen Diskurs voranbringen.
Appell: Auswirkungen von Corona auf LGBTIQ berücksichtigen!
Nachdem Corona viele Autor*innen gezwungen hat, neue Formate auszuprobieren: Was wird sich davon in Zukunft halten, was sind positive Impulse? Im Idealfall trägt das Internet zu einer Demokratisierung bei. Das gilt im Prinzip auch für die Literatur: Mit den vielen Online-Lesungen haben Autor*innen – ganz trivial – Berührungsängste vor der Technik ablegen können. Die meisten wissen nun, wie ihre Webcam funktioniert, wie sie live gehen können, um aus ihren Büchern vorzulesen. Das eröffnet Autor*innen neue Möglichkeiten, um sich und ihre Bücher auf Social Media zu bewerben: Etwas, das Verlage immer mehr an uns Autor*innen abwälzen. Darin liegt auch viel Potential. Ich würde mir beispielsweise wünschen, dass Literatur mehr und mehr die sozialen Medien schwemmt, dass sie Teil davon wird, dass sie das sprachliche Niveau dieser Kanäle erhöht.
Wie steht es denn um die Verfilmung deines eigenen Romans «Opoe», der 2018 bei Ullstein erschien? (MANNSCHAFT berichtete über das Buch.) Wen würdest du in einer Filmadaption des Buchs gern sehen – und wo? Lustige Frage. Als Narzisst, wie wir Schwule es dem Vorurteil nach doch alle sind: mich selbst? Haha, ne, das wäre schrecklich. Das spielt keine Rolle für mich. Wenn sich irgendjemand von meinem Roman inspirieren lässt, ist das sowieso das Grösste, egal, was diese Person daraus macht. Es reicht auch, wenn sie ihre Grossmutter deswegen mal wieder besuchen und sie nach ihrer Lebensgeschichte fragen – wie es mir eine Leserin berichtet hat. Oder die eigene monogame Beziehung befragen und sich darauf einlassen herauszufinden, was der Kern von Liebe abseits von «Exklusivität» noch sein könnte.
Queerer Buchtipp: «Opoe» von Donat Blum
Offene LGBTIQ-Beziehungen sind ja nun kein wirklich neues Thema, oder? Für jede Person immer wieder von Neuem neu, oder? Wir wachsen ja alle mit heteronormativen Vorstellungen auf. Auch in Bezug auf Beziehungsformen. Das heisst jede*r muss sich die Offenheit selber erkämpfen – gut möglich, dass das viele erst mit einem gewissen Alter tun. Ich glaube allerdings auch, in schwulen Kreisen Bewegungen hin zu mehr Konformität zu beobachten. Aber es ist ja auch einfach ein Trugschluss, und war es schon immer, zu glauben, nur weil jemand schwul ist, sei er auch progressiv und links.
Selber lebst du polyamor, hast mehrere Freunde und Partner. Ich rede selber kaum von «polyamor», weil meiner Lebens- und Liebensart kein Konzept voranging. Aber ich mag den Begriff «Nahbeziehungen», den Lann Hornscheit geprägt und in der ersten Ausgabe von Glitter zum ersten Mal ausgeführt hat. Nahbeziehungen lebe ich mehrere: Mit meinen beiden Nichten, mit drei schwulen Männern, mit vier besten Freundinnen und noch einigen mehr. Mit einigen wenigen schlafe ich auch. Das spielt primär eigentlich gar keine Rolle für mich. Vertrauen, Offenheit und Zugewandheit scheinen mir die zentralen Pfeiler von Beziehungen zu sein. Und Neugier – ein wichtiges Element von zumindest meiner Sexualität.
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