JJ schlägt Wien als ESC-Host vor: «Mein Freund wohnt um die Ecke»
«Wasted Love» hat in Basel die meisten Punkte geholt
Nach 26 Songs in einem fast vierstündigen, aber sehr launigen ESC-Finale stand kurz nach Mitternacht fest: Im nächsten Jahr feiern die europäischen Musikfans wieder in Wien. Ein persönlicher Rückblick
Der 24-Jährige Countertenor JJ, der mit bürgerlichem Namen Johannes Pietsch heisst, hat den ESC in Basel gewonnen.
«Das ist der absolute Wahnsinn. Ich habe geschrien und geweint und meine Schwester umarmt»
Johannes Pietsch, JJ
Der 24-Jährige Countertenor, der mit bürgerlichem Namen Johannes Pietsch heisst, wurde von seinen Emotionen völlig überwältig und lief erstmal aus dem Green Room davon und seiner Schwester in die Arme, die sich durch die Sicherheitsabsperrung durchgekämpft hatte: «Das ist der absolute Wahnsinn. Ich habe geschrien und geweint und meine Schwester umarmt», meinte JJ später. Am Flughafen in Wien wurde er vom SPÖ-Vizekanzler abgeholt (MANNSCHAFT berichtete).
An der anschliessenden Medienkonferenz sah er dann zwar schon ein wenig gefasster aus, das täuschte aber: «Ich kann nicht glauben, dass ich gewonnen habe», sagte er mehrmals kopfschüttelnd. Klar, der Song lag bei den Buchmachern weit vorne, aber man kann den Buchmachern nicht trauen. Das sind alles nur Vorhersagen».
Der Halb-Philippiner JJ, der offen schwul ist, wurde unter anderem gefragt, wie er sich als dritter queerer ESC-Gewinner in Folge fühlt. Die schwedische Sängerin Loreen, die 2023 schon zum zweiten Mal den ESC gewann, ist bisexuell und Vorjahressieger*in Nemo non-binär. «Das ist grossartig. Akzeptanz und Gleichheit für alle. Ich bin so froh, dass ich diese tolle Gemeinschaft repräsentiere», so JJ.
Seine Botschaft an Europa sei deshalb auch: «Dass die Liebe siegt. Sie ist unsere stärkste Kraft. Lasst uns Liebe verbreiten. Vergesst den Hass. Seid aktiv und benutzt eure Stimmen. Ihr alle seid Fürsprecher*innen für das, woran ihr glaubt». JJ hat sich auch direkt angeboten, den ESC im nächsten Jahr in Österreich zusammen mit Conchita Wurst zu hosten – als queeres Moderationsduo. Und er schlug gleich Wien als Austragungsort vor: «Mein Freund direkt bei der Stadthalle lebt und so könnte ich einfach um die Ecke dorthin laufen», meinte er lachend.
«Dass die Liebe siegt. Sie ist unsere stärkste Kraft. Lasst uns Liebe verbreiten. Vergesst den Hass.»
Johannes Pietsch aka JJ
Persönlich finde ich JJ einen verdienten ESC-Gewinner. Er hat mich überzeugt. Mit seiner einzigartigen Stimme, einem ebensolchen Lied, seinem sympathischen und bescheidenen Auftreten – auch an den Anlässen abseits der Shows – und seiner Verbundenheit zur queeren Community, die er immer wieder betonte und die zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt wirkte. Die Fans vor Ort feierten ihn mit ihren roten Hosen, weissen T-Shirts und den Papierschiffchen auf dem Kopf.
Mit seinem Sieg geht eine tolle ESC-Woche zu Ende. Reich an fulminanten Shows und noch besseren Pausenfüllern sowie einem souverän-unterhaltsamen Powerfrauen-Moderationsduo, das am Ende des Finales sogar vor lauter Emotionen weinte. (Sorry Michelle Hunziker, dass ich dich nicht erwähne, aber du bist halt zu spät dazugekommen!).
Als queere Frau das erste Mal einen meiner Lieblingsevents – von dem ich begeistert bin, seit ich als Zehnjährige meinen ersten ESC zusammen mit meiner Mutter geschaut habe – das erste Mal live in meinem Heimatland mitzuerleben, war ein ganz besonderes Ereignis. Ein persönlicher Abschied, weil ich den französischen Beitrag «Maman» von Louane sehr gut nachempfinden konnte. Aber auch ein hoffnungsvoller, weil gerade meine Mutter Zeit ihres Lebens Angst hatte, dass ich nicht so akzeptiert werden könnte, wie ich bin. Hätte sie Nemos Sieg im letzten Jahr noch erlebt und jetzt diesen ESC in Basel, wäre sie vom Gegenteil überzeugt gewesen – und sie hätte getanzt.
Die Stimmung war in der Halle, während der Proben und Shows so ausgelassen und harmonisch, dass ich mich in keiner Sekunde nicht als Teil dieser grossen Familie gefühlt habe, in der letztendlich alle sein konnten, wie sie sind. Eine Kollegin von mir, selbst langjähriger ESC-Fan, meinte zu mir, dass die schwulen Männer zwar generell mehr vertreten seien, aber «Lesben gibt es schon auch» - und ja, ich habe einige von ihnen gesehen. Aber egal. Auf die Trennung kam es in dieser Woche wirklich nicht an, sondern auf das Gemeinschaftsgefühl.
Völlig fremde Leute sind sich um den Hals gefallen, haben die ausgefallenen Kostüme der anderen gelobt oder sich gegenseitig zum Finaleinzug ihrer Länder gratuliert. Andere haben sich gefreut, einander wiederzusehen, weil sie sich schon aus früheren ESC-Jahren kannten. Und ja, es gab Stimmung gegen den israelischen Beitrag, aber genauso gab es Unterstützung für die Interpretin Yuval Raphael. Während des ersten Halbfinales etwa wurde direkt neben einer israelischen Fahne eine palästinenische im Publikum geschwenkt – friedlich.
Die gute Stimmung wurde auch an die Partys wie dem EuroClub im Eurovillage auf dem Messegelände mitgenommen. Das bunte, flirty Musik-Völkchen tanzte bis in die Morgenstunden zur Eurovision-Musik aus den letzten 68 Jahren ESC-Geschichte und zu Performances von ehemaligen Stars des Events. Unter anderem traten die Schweizer ESC-Teilnehmer*innen Gjon’s Tears und Gunvor auf, die norwegische Band Keiino und die italienische Popsängerin Senhit, die 2011 und 2021 San Marino vertrat.
Die volle Punktzahl gab es für das Elektropop-Duo Nebulossa, die im letzten Jahr am ESC für Spanien am Start waren und die Tanzfläche zum kochen brachten. Da wurde sogar den schwedischen, saunaerprobten Fans heiss und sie mussten sich ihrer blau-gelben Bademäntel entledigen. Hazel Brugger hatte mit ihrem Kommentar durchaus recht, dass der ESC für einige Teilnehmer*innen nie zu Ende geht.
Das EuroVillage mit seinen Gesprächsrunden und Live-Konzerten mit Gästen wie Conchita Wurst oder Michael Schulte war zwar unter der Woche eher mässig besucht, wurde dann aber am Samstag brechend voll.
Zuvor performte Nemo am Donnerstagnachmittag mit Hoodie und Pelzmütze auf dem Kopf überraschend vor der SRF3-Glasbox im EuroVillage den Song «The Code», was die Passant*innen scharenweise anzog.
Gleiches tat auch das Public Viewing im Fussballstadion St.-Jakob-Park (kurz «Joggeli» genannt) – hier erlebten rund 36'000 Fans die Pre-Show und das Finale mit. Und wo auch noch die Post abging – an der Pink Cross & MANNSCHAFT Rooftop Party, die seit Wochen ausverkauft war – hier wurde JJ's Sieg bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.
Im kleineren Rahmen konnten ESC-Fans auch in der Basler Innenstadt beobachtet werden, denn unzählige Bars, Clubs, Museen, Kinos und Kirchen boten ebenfalls Public Viewings an – einen Überblick darüber hatte zwar niemand, aber man begegnete dafür quasi an jeder Ecke Gleichgesinnten.
Ordentlich was los war auch in den Einkaufsstrassen von Basel, die überall mit ESC-Fahnen geschmückt waren und jedes noch so kleine Geschäft mit einer ESC-Fotowand bestückt wurde. Hier gab es schon mal spontane Gesangseinlagen von Fans, die zusammen Abba-Lieder sangen, was von den Basler*innen mit viel Applaus belohnt wurde.
Die einzigen beiden Kritikpunkte, die mir während der Woche zu Ohren kamen, waren: Wieso kein Wort am Finale zur Absage von Céline Dion? Ja, warum eigentlich? Und – natürlich – die horrenden Preise für Essen und Trinken. Die Schweiz halt. Ansonsten kann ich wirklich sagen: Hut ab. Basel hat das grandios über die Bühne gewuppt.
Und das sage ich als Zürcherin, die schon anfangs ein bisschen beleidigt war, dass der ESC nicht quasi vor meiner Haustüre stattfand. Dann hätte ich quasi, wie JJ eventuell im nächsten Jahr, zum Eurovision laufen können. In Basel konnte sich die Schweiz als Gastgeber eines Grossevents von ihrer besten Seite zeigen – offen, herzlich, perfekt organisiert, lustig und spontan. Wenn das nicht geholfen hat, die Klischees zu widerlegen, was dann?
«Traurig, dass wir uns nicht zeigen dürfen» – Trotz Schweigegelübde äusserte sich der österreichische Künstler JJ über das Verbot von Regenbogenfahnen beim Eurovision Song Contest (MANNSCHAFT berichtete).
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