«Jeden Tag wäge ich ab: Sichtbar queer auf die Strasse gehen?»

Janboris Rätz im Interview

janboris Dominik Schmitt(1)
Janboris Rätz

Als erste offen nicht-binäre Person in der Moderation hatte es Janboris Rätz beim SWR nicht leicht. Im Interview mit MANNSCHAFT geht es um diskriminierende Strukturen, feindliche Vorgesetzte – und warum es sich trotzdem lohnt, sichtbar zu sein.

Es ist 18 Uhr, Zeit für SWR Aktuell und die neuesten Nachrichten aus Rheinland-Pfalz. Was in der Welt passiert, fasst Janboris Rätz zusammen. Eine Person, die auf den ersten Blick vermutlich als Mann wahrgenommen wird. Lediglich die bunten Fingernägel geben einen Hinweis auf ihre Queerness und darauf, dass sich Janboris nicht als Mann identifiziert.

Denn Janboris ist nicht-binär. Und das auch nach aussen offen zu zeigen, ist in einer öffentlich-rechtlichen Struktur wie dem SWR alles andere als einfach. Welche Hürden musste Janboris überwinden und welche Methoden anwenden, um mit Hasskommentaren umzugehen – und woher kommt immer wieder neuer Mut?

Janboris, du warst zehn Jahre lang beim SWR tätig. Wie hast du dich dort als nicht-binäre Person in einer öffentlich-rechtlichen Struktur gefühlt und welche Erfahrungen hast du dabei gemacht?

Um ehrlich zu sein: Ich bin dort nicht gut zurechtgekommen. Ich habe vor wenigen Monaten gekündigt – auf ärztlichen Rat. Seit ich mich vor vier oder fünf Jahren als nicht-binär geoutet und offen queer aufgetreten bin, wurde mir immer wieder vermittelt, dass mein Erscheinungsbild nicht «seriös» genug sei. Meine hohen Schuhe, lackierten Nägel oder auch feminine Kleidung waren ein Problem. Ich hatte das Gefühl, ich müsse ständig kämpfen, damit meine Arbeit ernstgenommen wird. Auch Fehler, die ich gemacht habe, wurden anders bewertet als bei anderen.

Es wurde mir ausserdem gesagt, ich solle «die Kleiderregeln für Männer befolgen» und «seriöse Nachrichten» könne ich doch nicht in meinem Stil präsentieren. Ein Vorgesetzter sagte einmal: «Wenn man 100 Personen fragt, dann würden 99 sagen, du bist ein Mann und nur eine nicht.» Aber ich sagte: «Es geht nicht darum, was 99 sagen, sondern wie ich mich selbst definiere.»

Konntest du dennoch versuchen, deine Identität zu leben?

Ich habe mich durchgesetzt und bin irgendwann mit lackierten Nägeln in die Sendung gegangen, wohl wissend, dass ich damit den Job riskiere. Die Reaktion kam sofort: Eine Führungskraft rief mich an und forderte mich auf, das «bitte sofort abzumachen». Später wurde sogar ein neuer Style-Guide erstellt, der explizit nur «nicht sichtbare» Nagellackfarben zulässt. Das war schwer für mich, vor allem, weil ich das Gefühl hatte, diese Regeln wurden eingeführt, um mich in die Schranken zu weisen. Denn der Style-Guide wurde zu dem Zeitpunkt nur am Standort Mainz und in der Nachrichtenredaktion, wo ich arbeite, kommuniziert. Für andere Sendungen oder Standorte galt er nicht.

Und wie bist du mit diesem Druck umgegangen?

Der Druck war enorm. Es gab zwar einige Kolleg*innen, die mich unterstützt haben, aber viele hatten auch Angst um ihre eigene berufliche Sicherheit. Die letzten vier Jahre waren extrem hart und belastend. Ich war immer wieder krankgeschrieben und litt auch gesundheitlich darunter. Meine depressiven Erkrankungen wurden aber nicht ernst genommen, selbst meine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde einmal abgelehnt. Am Ende hatte ich das Gefühl, jeden Tag wie auf rohen Eiern zu laufen. Als meine Hausärztin mir schliesslich riet, den Job zu verlassen, war ich zerrissen.

Warum fiel es dir schwer, zu gehen?

Es war ein gut bezahlter Job, ich war sichtbar und ich wusste, dass ich damit Menschen inspirieren konnte. Als erste offen nicht-binäre Nachrichtensprecher*in im deutschen Fernsehen mit lackierten Nägeln die Nachrichten zu moderieren und dafür zu kämpfen, als seriös wahrgenommen zu werden, war mir wichtig. Aber es ging irgendwann nicht mehr. Ich musste an mich selbst denken.

Erlebst du auch abgesehen von den internen Anfeindungen beim SWR negative Reaktionen auf deine Person?

Grundsätzlich ist es für mich jeden Tag eine Abwägung: Wie sehr traue ich mich, sichtbar queer auf die Strasse zu gehen, und wie sehr kann ich den Konflikt aushalten, der unter Umständen damit einhergeht? Wenn ich also auf der Strasse unterwegs bin, überlege ich oft, ob ich Ohrringe, Schminke und hohe Schuhe anziehen soll – oder ob ich lieber im Jogginganzug unterwegs bin, damit mich niemand stört.

Ich habe in mehreren Therapien gelernt, mit Hass umzugehen. Trotzdem ist es schockierend.

Wie ist es in den sozialen Medien?

Da bin ich ein bisschen mutiger, weil es eine gewisse Distanz gibt. Aber auch dort habe ich mittlerweile die Kommentarfunktion so eingeschränkt, dass nur noch Menschen, die mir folgen, oder denen ich folge, kommentieren können. Es ist wirklich schlimm geworden, besonders in den letzten Monaten.

Welche Reaktionen bekommst du?

Ich bekomme Hunderte von Hasskommentaren – unter der Gürtellinie, teilweise mit Drohungen und Vergleichen mit der Nazi-Diktatur. Manche schreiben, ich sollte in ein KZ geschickt werden. Es ist wirklich auf einem erschreckend niedrigen Niveau. Ich bin 47 Jahre alt, habe mehrere Therapien hinter mir und habe gelernt, mit solchen Sachen umzugehen. Trotzdem ist es schockierend.

Was für Strategien hast du entwickelt, um mit solchen Kommentaren umzugehen?

Ich versuche, die Dinge für mich positiv zu besetzen. Ein Beispiel: Jemand schrieb, ich sei „ekelhaft“ und man müsse mich in einen Steinbruch stecken. Zufällig ist es so, dass meine Großeltern in der Eifel in der Nähe eines Steinbruchs lebten und wir als Kinder dort gespielt haben. Ich habe kürzlich einen Spaziergang zu diesem Steinbruch gemacht, eine Story dazu gemacht und gesagt: «Da bin ich, und dieser Steinbruch ist wunderschön. Ich fühle mich auch wunderschön und kann nur den Hatern sagen, hört auf, anderen das Leben schwer zu machen.« So versuche ich, die negativen Kommentare in etwas Positives umzuwandeln.

Bekommst du auch positive Rückmeldungen, beispielsweise von Zuschauenden?

Ja, der positive Zuspruch war wirklich überwältigend. Eltern mit trans oder nicht-binären Kindern haben mir geschrieben, dass mein Auftreten ihnen Hoffnung gibt für ihre Kinder, dass sie einen Platz in der Gesellschaft finden können. Diese Rückmeldungen bedeuten mir viel und geben mir Kraft. Ich halte mich daran fest, dass es Menschen gibt, für die meine Sichtbarkeit wichtig ist.

Würdest du einer jungen nicht-binären Person empfehlen, im Fernsehen zu arbeiten?

Ja, absolut. Wir haben nur dieses eine Leben, und das Glück wartet nicht hinter der nächsten Ecke. Wir müssen jetzt leben, auch wenn es Konflikte bedeutet. Ich sehe viele jüngere queere Menschen, die anfangs sichtbar sind, dann aber im Beruf Anpassung üben, weil sie denken, es mache die Karriere leichter. Aber wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir sichtbar bleiben und der Gesellschaft zeigen: «Wir sind da und wir sind genauso integer und seriös wie alle anderen – auch wenn wir Nagellack tragen oder Tätowierungen haben.» Und das nicht nur in Berlin, sondern auch in Mainz, Jena und Bautzen. Es ist wichtig, dass wir uns auch in weniger diversen Gegenden zeigen.

Du bist jetzt seit deinem Abschied vom SWR arbeitslos. Wie geht es dir in der neuen Situation?

Überraschend gut. Ich merke, dass der Druck, den Erwartungen anderer zu entsprechen, weg ist. Ich kann einfach ich selbst sein, und das bedeutet mir viel. Ich plane nun, mich im Bereich Diversity-Workshops und Moderation selbstständig zu machen. Zwar bringt das Unsicherheit mit sich, aber ich habe eine innere Ruhe gefunden, die ich nicht erwartet hätte. Es ist, als ob sich ein Knoten gelöst hätte.

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