Lesbische Pfarrerin: «Maria wurde unehelich schwanger.»
Eine Pfarrerin aus dem Kanton Bern outete sich als Lesbe. Die Kirchgemeinde stört sich nicht daran. Doch für einen schwulen Pfarrer dürfte dies nicht so einfach sein.
«Das war manchmal die Hölle auf Erden», sagt Margrit Schwander. Die Pfarrerin in der Reformierten Kirchgemeinde Thun-Stadt erzählt von ihrer Vergangenheit, als sie noch in einem kleinen Dorf tätig war. «Ich war unter ständiger Beobachtung», sagt sie. Schon nur, wenn sie in der Migros war, schauten die Leute genau, was sie einkaufte. Oder als der Sohn einer Nachbarin sein Auto bei ihr parkierte, tuschelten die Leute hinter ihrem Rücken. «Eines Tages bekam ich einen Anruf», erinnert sich Schwander. Jemand aus der Kirchgemeinde wollte wissen: «Warum sieht man sie nie mit einem Mann?» Schwander sollte zur Pfarrerin gewählt werden, doch vorher musste noch eine Frage beantwortet werden: Ist sie eine Lesbe?
Margrit Schwander hatte die Nase voll. Sie bewarb sich spontan als Pfarrerin in der Stadt Thun. Als die Kirchgemeinde sie fragte, mit wem sie ins Pfarrhaus käme, antwortete sie: «Ich komme allein. Und ein Mann als Partner kommt für mich sowieso nicht in Frage. Wollt ihr noch mehr wissen?» Es wurden keine weiteren Fragen gestellt.
Margrit sitzt gemütlich mit überschlagenen Beinen auf ihrem Sessel. Neben ihr steht ein Kontrabass, in der Ecke weiter rechts ein Flügel, und darunter liegt ihr Geigenkoffer. «Eigentlich wollte ich Musikerin werden, aber als ich das Studienprogramm las und die vielschichtigen Seminare im Theologiestudium sah, waren die Würfel gefallen», erzählt die Pfarrerin. Damals wusste die 20-Jährige noch nichts von ihrer Vorliebe für Frauen. Und fromm war sie auch noch nicht.
Die Erkenntnis kommt einige Jahre später: Während des Studiums kümmerte sich Margrit um AIDS-Kranke – in den Achtzigern wussten die Ärzte noch nicht genau wie HIV übertragen wird und deshalb wurde vor den Patienten ein Mundschutz getragen. «Ich habe mich geweigert. Das ist menschenunwürdig», sagt Margrit, schüttelt den Kopf. «Zahlreiche Personen sagten AIDS sei eine Schwulen-Seuche. Oder eine Strafe Gottes. Furchtbar.»
Ein spiritueller Werdegang
Es herrscht für einige Sekunden Stille. Plötzlich wird das Schweigen durch ein Knurren unterbrochen. «Sie knurrt nicht. Sie singt!», korrigiert Margrit und streichelt ihren Hund Luna. «Ich war bei der Beerdigung eines Schwulen. Sein Freund durfte an der Trauerfeier nicht teilnehmen.»
Margrit seufzt und lässt sich für die nächste Erzählung viel Zeit. Es fällt ihr schwer, darüber zu reden. «Ich kannte eine Familie, die wollte für den verstorbenen Sohn einen besonderen Grabstein. Doch die Behörde sagte, dass sie für einen Schwulen keine Ausnahme mache. Sie könnten froh sein, dass er überhaupt einen Grabstein bekomme.»
Die Erfahrung hat Margrit stark geprägt. Sie begann viel über das Leben und den Tod nachzudenken. «Mir wurde bewusst, dass nach dem Tod mehr sein muss.» Es könne nicht sein, dass ein Mensch einfach stirbt und dann alles vorbei sei.
Prägte die Erfahrung mit den AIDS-Patienten Margrit so stark, dass sie fromm wurde? Margrit lacht. «Fromm klingt so furchtbar. Heute würde man sagen, ich hätte meine Spiritualität gefunden; aber ich nenne es Vertrauen. Ja, ich fand durch die Erlebnisse mit dem Tod Vertrauen.»
Die Bibel muss man im zeitgeschichtlichen Kontext auslegen. Die tausend- bis zweitausendjährigen Texte können nicht wortwörtlich auf unseren Alltag ausgelegt werden.
Als ob Margrit die nächste Frage bereits kannte, sagt sie: «Ich fand Männer nie wirklich attraktiv.» Sie habe sich zwar gut mit ihnen verstanden. Mehr nicht. «Ich war ein guter Kumpel.» Dass sie lesbisch ist, wusste sie, als sie sich in ihre Kommilitonin verliebte. «Ich hatte es lange verdrängt. Ich sagte mir immer als Ausrede, dass ich mich in den Mensch und nicht in die Frau verliebt habe.» Die Coming-out-Frage findet die Pfarrerin unwichtig. «Man outet sich doch nicht nur einmal, und die ganze Welt weiss, dass man lesbisch ist.» Die sexuelle Neigung stehe einem auch nicht auf der Stirn geschrieben. Im Alltag gebe es immer wieder Situationen, in denen man sich überlegen muss, ob man sich outen will oder nicht. Luna bellt, als ob sie die Aussage der Pfarrerin bekräftigen möchte, schnappt sich ihr Tintenfisch-Plüschtier und legt sich auf den Boden.
Die Bibel ist als Bild zu verstehen
Sind Homosexualität und christlicher Glaube vereinbar? Steht nicht im Alten Testament, du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau? Margrit antwortet: «Die Bibel muss man im zeitgeschichtlichen Kontext auslegen. Die tausend- bis zweitausendjährigen Texte können nicht wortwörtlich auf unseren Alltag ausgelegt werden.» Beispielsweise stammt die erwähnte Passage aus dem Alten Testament zur Zeit der Nomaden. «Die Fortpflanzung war für den Stamm überlebenswichtig, und das Sperma war heilig.»
Folglich seien homosexuelle Beziehungen, wie auch die Masturbation, eine Gefährdung des Fortbestands gewesen. Zudem, wenn man die Passage wörtlich auslegt: Es steht nichts von einer lesbischen Liebe. Genau genommen steht in der Bibel nichts über Lesben.
Im Alten Testament ist vor allem von Polygamie die Rede.
Doch christliche Fundamentalisten argumentieren oft mit der Heiligen Familie. Margrit antwortet mit einer Gegenfrage: «Ist die Heilige Familie wirklich so heilig? Maria wurde unehelich schwanger.» Die Heilige Familie sei als Bild zu verstehen. Besondere Menschen (wie Kaiser Augustus) wurden von einer Jungfrau geboren. Margrit hält fest: «Nimmt man die Bibel wörtlich, dann ist die Ehe unnatürlich. Im Alten Testament ist vor allem von Polygamie die Rede.» Genau genommen sollten wir dann auch wieder Sklaven haben, nähme man die Bibel wörtlich.
Die intensive Auseinandersetzung mit Homosexualität und Christentum sensibilisierte Margrit für die Anliegen ihrer Gemeinde. «Ich kenne einige Menschen, die homosexuell sind und mich in Glaubensfragen um Rat aufsuchen», sagt sie. «Viele haben immer noch Angst, es sei eine Sünde.»
Eine richtige Patchwork-Familie
Plötzlich bellt Luna und rennt zur Haustüre. «Ja, ist gut, ich bin es», sagt Francine. Die Frau von Margrit setzt sich auf das Sofa und hört dem Gespräch aufmerksam zu. Die beiden sind seit rund 15 Jahren ein Paar und seit 2007 in einer eingetragenen Partnerschaft. Die Kunsttherapeutin und Mutter von drei erwachsenen Kindern lebt seit fast 10 Jahren mit Margrit zusammen. Während Margrit in der Küche das Abendessen zubereitet, erzählt Francine von sich. «Als Kind wusste ich lange nicht, dass es homosexuelle Frauen gibt. Man sprach in den 70-er Jahren einfach nicht darüber, und ich hatte meine Gefühle lange verdrängt.» Erst als die verheiratete Frau Margrit Schwander kennen lernte, wurden ihr ihre Neigungen bewusst. Es kam zur Scheidung. «Aber wir kommen, nach Jahren harten und offenen Auseinandersetzung gut miteinander aus. Wir sind eine richtige Patchwork-Familie geworden», erzählt Francine. «Heute ist das Thema Homosexualität allgegenwärtig. Man sieht Schwule und Lesben im Fernsehen, spricht in der Schule darüber, etc.» Dies sei für Jugendliche wichtig, denn so können sie sich mit ihrer Sexualität auseinander setzen. Margrit ruft aus der Küche: «Es ist gut, dass es heutzutage viele verschiedene Beispiele gibt. Es hilft den Jugendlichen, ihre sexuelle Identität zu finden.»
Man muss sich vor Augen führen: Das Paar wuchs in einer Zeit auf, als es noch kein Frauenstimmrecht gab, unverheiratete Personen keine Wohnung bekamen, junge Frauen mit «Fräulein» angesprochen wurden und Ehefrauen ohne Erlaubnis ihres Ehemannes nicht arbeiten durften. «Wir mussten uns unsere lesbische Identität hart erkämpfen», sagt Margrit. Die beiden Frauen sitzen mittlerweile am Küchentisch, Luna starrt gierig auf den Fisch. Sie belegen ihre Brote mit Butter, Käse und essen Salat.
Mannschaft Magazin führte Gespräche mit einem schwulen Priester der römisch-katholischen Kirche aus dem Kanton Bern. Er war mit einem Interview einverstanden, unter der Bedingung, seine Identität zu wahren. Doch plötzlich reagierte er weder auf Anrufe noch auf E-Mails. «Kein Wunder, wenn die Kirche davon erfährt, ist er seinen Job los», sagt Margrit.
Die Pfarrerin kannte einen schwulen katholischen Pfarrer in Köln. Als dieser sich outete, wurde er fristlos entlassen, und man sagte ihm: «Sie sind nichtwiederverwertbarer Schrott.» Die Pfarrerin ist überzeugt, dass es Schwule in der Kirche schwerer haben als Lesben. Sie bringt es auf den Punkt: «Ein schwuler Pfarrer wird sehr schnell als Pädophiler abgestempelt.»
Text: Guy Huracek
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