Zwischen §175 und Freiheit: Jonah Winkler über «Kein Wort von uns»

Der Nachwuchsstar im Interview

Der Schauspieler Jonah Winkler
Der Schauspieler Jonah Winkler (Bild: Niklas Berg)

Der 28-Jährige verkörpert im Theaterstück «Kein Wort von uns» einen Jugendlichen, der im Nationalsozialismus trotz Paragraf 175 nach Freiheit und Liebe sucht – und erzählt, warum Vertrauen, Zärtlichkeit und Rebellion für ihn auf der Bühne zusammengehören.

Am 11. Oktober hebt sich in Krefeld der Vorhang für «Kein Wort von uns» – zur Uraufführung am Coming-out-Day (MANNSCHAFT berichtete). Autorin Simone Saftig sowie Regisseur und MANNSCHAFT-Autor Marvin Wittiber erzählen darin von drei Jugendlichen in einem Lehrlingsheim am Niederrhein zur Zeit des Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Aufbegehren, Freundschaft und Verrat, suchen sie nach einem Ausdruck ihrer Gefühle – und geraten ins Spannungsfeld des §175, der jede Nähe zwischen Männern kriminalisierte.

Einer von ihnen ist Franz, gespielt von Jonah Winkler. Seine Figur verkörpert Selbstbestimmung und inneren Widerstand – auch im Angesicht der Gefahr. Im Interview spricht er über die Aufarbeitung queerer Verfolgung, den Respekt vor einer schwulen Rolle im historischen Kontext und darüber, warum Vertrauen und Zärtlichkeit für seine Arbeit auf der Bühne unverzichtbar sind.

Jonah, du spielst in «Kein Wort von uns» den Franz. Wer ist Franz und welche Rolle nimmt er in der Geschichte ein? Franz ist einer von drei Jungen, deren Geschichte im Lehrlingsheim spielt. Er arbeitet in der Giesserei. Während Kaspar und Wilhelm eine innige Freundschaft verbindet, steht er zunächst ausserhalb dieser Beziehung. Doch Franz weiss genau, wer er ist. Er verkörpert Selbstbestimmung – auch wenn die Gesellschaft versucht, ihm diese Freiheit zu nehmen. Mit innerer Rebellion sucht er immer wieder Wege, seiner Sexualität und seinem Freiheitsdrang Ausdruck zu geben.

Wie war dein eigener Wissensstand zur Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus, bevor du zu diesem Stück kamst – und wie hast du dir das Thema für deine Rolle erarbeitet? Erschreckend gering. Mir war bewusst, dass queere Menschen nicht in Freiheit leben konnten und homosexuelle Männer im KZ landeten – aber Details wusste ich kaum. Auch in meinem Umfeld kennen viele nicht einmal die Bedeutung des Rosa Winkels. Deshalb war ich dankbar für die historische Einführung zu Beginn der Proben. Darauf aufbauend habe ich weiter recherchiert und mir Filme angeschaut, besonders «Bent» von Martin Sherman. An manchen Stellen wollte ich den Film abbrechen – und mir wurde bewusst: Die Betroffenen konnten eben nicht «abschalten». Solche Eindrücke prägen meine Annäherung an die Rolle.

Die Cast von «Kein Wort von uns» in Krefeld
Die Cast von «Kein Wort von uns» in Krefeld (Bild: Lukas Marvin Thum / Düsseldrama)

Im Stück geht es auch um Zärtlichkeit zwischen den Figuren Franz und Kaspar. Wie habt ihr diese Intimität und die Mischung aus Zärtlichkeit und Gefahr in den Proben entwickelt? Bei Intimität ist Vertrauen zwischen Schauspielern und Regisseur entscheidend. Wir haben uns viel Zeit genommen, in einer kleinen, geschützten Runde gearbeitet und offen miteinander kommuniziert. Zwischen Victor (Kaspar) und mir entstand schnell grosses Vertrauen. So konnten wir Szenen behutsam entwickeln: mit Ernsthaftigkeit, ohne Druck, aber mit Respekt vor Grenzen. Dadurch konnten wir uns der Vielschichtigkeit der Momente Schritt für Schritt annähern.

Franz ist im Stück eindeutig schwul – du selbst bist es nicht. Wie gehst du mit dieser Differenz um, gerade weil es nicht nur um eine Liebesgeschichte geht, sondern um eine schwule Figur im historischen Kontext der NS-Verfolgung? Das war eine meiner ersten Fragen. Ich wollte die Rolle mit Respekt und Neugier annehmen. Franz ist nicht nur seine Sexualität: Er ist zärtlich, aber auch stark – ein Fels in der Brandung, gerade für Kaspars Selbstfindung. Ich beneide, wie sehr er in sich ruht. Ganz am Anfang haben wir ein Zitat von bell hooks gelesen: «Queer bedeutet nicht, wer dein Sexpartner ist, sondern dass queer bedeuetet, dass es um das Selbst geht, das sich in Widerspruch zu allem um es herum befindet und einen Ort finden muss, an dem es sich äussern, entfalten, erfolgreich sein und leben kann.» Das war für mich der emotionale Eintritt in diese Rolle.

Das Stück richtet sich an alle ab 14 Jahren – und die Figuren sind selbst so alt wie viele Jugendliche heute. Junge Zuschauer*innen könnten denken: ‹Das hätte ich sein können.› Was bedeutet dir dieser unmittelbare Spiegel zur Gegenwart? Diese brutale Wahrheit kann einen sehr direkt treffen, und wir tragen damit eine grosse Verantwortung. Gerade weil wir vor jungen Menschen spielen, braucht es einen behutsamen Umgang. Aber die Wahrheit muss auch weh tun – es gibt kein Schönreden der grausamen Verbrechen, die damals begangen wurden. Gleichzeitig sind viele Aspekte von Liebe und Zärtlichkeit, die wir zeigen, hochaktuell. Ich hoffe, dass wir mit unserem Gegenentwurf zum bisherigen Status quo auch einen Funken Hoffnung in die Herzen der Zuschauer*innen bringen können.

Du hast in Melbourne Schauspiel studiert und bereits in Australien wie auch Europa auf der Bühne gestanden. Was hast du aus dieser internationalen Erfahrung für dich mitgenommen? Die Zeit im englischsprachigen Raum war unglaublich prägend für mich. Ich scherze oft, dass mein eigentliches «Ich» erst dort geboren wurde – vieles, was ich heute liebe, hat dort seinen Ursprung gefunden. Australien hat eine enge Verbindung zum britischen und amerikanischen Theater, aber auch zu indigenen Kulturen, die mich bis heute tief berühren. Diese Erfahrungen haben meinen Blick auf Kunst geprägt. Ich habe gelernt, dass es viele verschiedene Wege gibt – nicht besser oder schlechter, einfach anders. Bis heute versuche ich, vom Fremden und Unbekannten zu lernen.

Du hast mit Robert Wilson gearbeitet – einem der einflussreichsten Regisseure des 20. Jahrhunderts, der selbst schwul war und kürzlich verstorben ist. Was hat dich an dieser Zusammenarbeit besonders geprägt? Das war in meinem letzten Ausbildungsjahr – spontan, über einen Dozenten vermittelt. Ich erinnere mich an die enorme Intensität: Proben immer im Kostüm, im Make-up, sofort volle Ernsthaftigkeit. Für manche war das streng, für mich hatte es etwas Heiliges. Jeder Moment auf der Bühne musste voller Körperspannung sein. Wilsons Liebe zum Detail war beeindruckend – er verbrachte Stunden mit Licht und Farben. Diese Mischung aus Strenge und Leichtigkeit wirkt bis heute in mir nach.

Du hast Shakespeare-Rollen wie Orlando oder Hamlet gespielt – jetzt erzählst du eine queere Coming-of-Age-Geschichte im NS. Wie unterschiedlich gehst du an solche Rollen heran? Ich versuche, jede Rolle neu zu betrachten. Natürlich habe ich Werkzeuge, aber ich möchte nicht in Routinen verfallen. Shakespeare verlangt einen anderen Ansatz, und doch lässt sich einiges übertragen. Wichtig ist, die Ästhetik und Energie des Stücks aufzunehmen, damit alles in Harmonie zusammenkommt. Am Ende zählt, dass eine Rolle im Kontext wahrhaftig lebt.

«Vor Publikum zu spielen ist eine unvergleichliche Konfrontation – es gibt keinen Raum fürs Verstecken»

Jonah Winkler, Schauspieler

Neben dem Theater arbeitest du auch vor der Kamera. Gibt es etwas, das du im Film anders an dir entdeckst als auf der Bühne? Beides hat eine eigene Magie. Vor Publikum zu spielen ist eine unvergleichliche Konfrontation – es gibt keinen Raum fürs Verstecken. Film dagegen schafft Distanz, eröffnet aber neue Möglichkeiten. Ich liebe beides, und beides löst in mir eine Sehnsucht aus. Schauspiel ist für mich mehr als ein Beruf – eher eine spirituelle Suche.

Was wünschst du dir, dass das Publikum – und besonders junge queere Menschen – aus «Kein Wort von uns» mitnehmen? Wir brauchen positive Gegenentwürfe zu dem, was als «gegeben» gilt. Vielleicht fühlen sich einige Zuschauer*innen gesehen, andere fangen an, sich zu hinterfragen. Manche nehmen vielleicht einfach mehr Zärtlichkeit mit in ihr Leben. Mir ist wichtig: Wir sind nicht das, was andere über uns sagen. Wir tragen die Verantwortung, für das radikale Ausleben von Individualität einzustehen – gerade bei Sexualität, Liebe und Selbstbestimmung.

Zur Person

Jonah Winkler wurde 1997 in Köln geboren. Er studierte Schauspiel am Victorian College of the Arts in Melbourne/Australien. Dort begann seine Faszination für Theater, Tanz und kollektive Devisen. Seitdem spielte er auf Bühnen in Australien und Europa, unter anderem in Produktionen mit Regisseur Robert Wilson. Zuletzt stand er als Orlando in «Wie es euch gefällt» sowie als Hamlet beim Theaterspaziergang auf der Bühne an den Burgfestspielen Bad Vilbel. Auch vor der Kamera ist er aktiv – etwa in ZDF-Produktionen oder in dem Film «1000 Arten Regen zu beschreiben» (Regie: Isabell Prahl).

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