Polen und Ungarn aus der EU werfen? Das wäre ein Irrweg!
Auch wenn es aus LGBTIQ-Sicht Gründe genug gäbe …
Bei jeder neuen Hiobsbotschaft aus Polen oder Ungarn, die die Menschenrechte von LGBTIQ betriff, werden Rufe laut, man möge diese Länder aus der EU werfen. Doch es ist ein Irrweg, zu meinen, man könne Probleme durch einen Rauswurf von Staaten aus der EU lösen, schreibt Michael Roth* in einem Gastbeitrag für MANNSCHAFT.
In den vergangenen Jahren hat es nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa deutliche Fortschritte bei der Gleichberechtigung und Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen gegeben. Das ist sicher auch einer zivilgesellschaftlichen Bewegung zu verdanken, die sich viel stärker als bisher europäisch vernetzt und gegenseitig unterstützt. Aber es gibt eben auch Stillstand, ja Rückschritte zu verzeichnen. Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden, Diskriminierung und Ausgrenzung gegenüber sexuellen Minderheiten haben auch in der Mitte Europas zugenommen.
Dieser negative Trend zeigt sich besonders in Ungarn und Polen. Mit einer Verfassungsänderung wurde in Ungarn die Öffnung der Ehe für Alle sowie die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare ausgeschlossen. Das ungarische Parlament verabschiedete ein Gesetz, wonach das bei Geburt eines Kindes in das standesamtliche Personenregister eingetragene biologische Geschlecht später nicht mehr geändert werden kann (MANNSCHAFT berichtete). Die EU, die Bundesregierung, der Europarat sowie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben diese Verletzung des Rechts von LGBTI-Personen auf Privatsphäre sowie auf rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts auf Grundlage der Selbstbestimmung und ihrer Menschenwürde klar kritisiert.
Auch die polnische Verfassung schliesst gleichgeschlechtliche Ehen, Lebenspartnerschaften oder die Kindesadoption durch LGBTI dezidiert aus. Über Polen hinaus bekannt wurden die so genannten «LGBTI-Ideologie freien Zonen»: Seit März 2019 haben 129 kommunale Selbstverwaltungen Beschlüsse gefasst, die gegen LGBTI-Rechte gerichtet sind. 54 davon erklärten sich als «LGBTI-Ideologie frei», 37 nahmen die «Kommunale Charta für Familienrechte», der ultrakatholischen Organisation Ordo Iuris an. Diese Entscheidungen wurden von der Europäischen Union und der Bundesregierung nicht nur kritisiert.
In Ungarn sollen Bücher mit LGBTIQ-Inhalt jetzt Warnhinweise erhalten
Im Juni 2020 entschied die EU-Kommission, sechs polnischen Gemeinden EU-Städtepartnerschaftsmittel unter Hinweis auf diese Zonen zu versagen (MANNSCHAFT berichtete). EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte in ihrer Rede zur Lage der Union, «LGBTI-freie Zonen», seien «Zonen ohne Menschlichkeit», für die es keinen Platz in der EU gebe.
Alle EU-Länder haben sich durch ihre Mitgliedschaft in der EU zur Einhaltung von Werten und Prinzipien verpflichtet, insbesondere eben auch zu Respekt und Achtung gegenüber Minderheiten. In der EU darf es keine Rolle spielen, woher Du kommst, an wen Du glaubst oder wen Du liebst. Die Gesetzgebung und die Politik der regierenden Parteien in Ungarn und Polen sprechen aber eine andere Sprache.
Darüber gibt es zu Recht Empörung und Wut. Ich nehme für das Auswärtige Amt und mich ganz persönlich in Anspruch, Kritik immer wieder geäussert zu haben. Vor und hinter den Kulissen. Es gibt kontinuierlich, insbesondere während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im vergangenen halben Jahr, Austausch mit Betroffenen und LGBTI-Organisationen. Nicht nur unsere Botschaften in Warschau und Budapest schaffen immer wieder geschützte Räume für Austausch und Begegnung, wir fördern zivilgesellschaftliche Projekte finanziell und stärken Aktivistinnen und Aktivisten den Rücken. Im Rahmen all meiner Reisen nicht nur in diese beiden Länder standen Treffen mit Menschenrechts- und LGBTI-Organisationen regelmässig auf dem Programm.
Dennoch halte ich es für einen Irrweg, wenn manche meinen, Probleme durch einen Rauswurf von Staaten aus der EU lösen zu können. Bei allem Verständnis für Wut und Enttäuschung kann und darf das keine Option sein (das sieht auch die Sprecherin der österreichischen Grünen für Aussenpolitik, Menschenrechte und LGBTIQ, Ewa Ernst-Dziedzic, so – MANNSCHAFT berichtete).
Zumal die EU-Verträge dies überhaupt nicht vorsehen. Zudem sich in einem Land, das nicht mehr zur EU gehört, die Lage von LGBTI definitiv nicht verbessern dürfte. Und: Lasst uns bitte nicht eine Regierung oder eine Partei mit einem ganzen Land und einer ganzen Gesellschaft gleichsetzen. Zumal es in beiden Ländern eben auch eine couragierte Gegenbewegung gibt, die sich auf kommunaler und nationaler Ebene für eine Kultur der Vielfalt, von Respekt und Toleranz einsetzt. Immer wieder auch mit Erfolg! Wir helfen keiner einzigen queeren Person in Polen, Ungarn oder anderswo, wenn wir resignieren. Aufgeben darf in unserem Kampf niemals eine Option sein!
Gemäss der bereits gegen Polen und Ungarn laufenden Artikel 7-Verfahren könnte am Ende der Entzug der EU-Mitgliedsrechte stehen. Das setzt aber Einstimmigkeit im Europäischen Rat voraus. Dieses schwierige Verfahren hat die deutsche Ratspräsidentschaft fortgesetzt. Und dabei ist es nicht geblieben. Wir haben zwei weitere Instrumente zur Stärkung und zum besseren Schutz von Grundwerten und Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht. Mit dem Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushalt kann der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit beschliessen, dass im Falle von Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit EU-Gelder gekürzt werden. Das kann ein sehr schmerzhaftes Mittel sein, zumal insbesondere Polen und Ungarn öffentliche Investitionen in erheblichem Umfang mit Geldern aus Brüssel finanzieren.
«Jemand muss hier in Polen bleiben und für unsere Rechte kämpfen»
Mit dem neuen Rechtsstaatscheck werden auf Grundlage eines jährlichen Berichts der EU-Kommission alle Mitgliedstaaten ausnahmslos bewertet: was läuft gut, wo gibt es Defizite, was kann man voneinander lernen? Dieser Dialog kann dazu beitragen, Fehlentwicklungen frühzeitig aufzudecken und wieder zu einem gemeinsamen Verständnis davon zu kommen, was die EU im Kern war, ist und bleiben muss: eine Werte- und Rechtsgemeinschaft.
Ist jetzt wieder alles gut? Dürfen wir uns entspannt zurücklehnen? Selbstverständlich nicht. Die neuen Instrumente sind aber eine grosse Chance. Sie müssen jetzt aktiv und mutig genutzt werden. Hier nimmt die EU-Kommission als Hüterin der Verträge eine besondere Rolle ein. Ich bin sehr dankbar, dass wir mit Helena Dalli eine Kommissarin für Gleichstellung haben, die immer wieder gezeigt hat, wie entschlossen sie für LGBTI-Rechte eintritt. Auch die für Werte und Rechtsstaatlichkeit zuständigen Mitglieder der EU-Kommission Vera Jourouva und Didier Reynders sind wichtige Verbündete, mit denen die LGBTI-Community in der gesamten EU ebenso wie in Deutschland beim Kampf für Gleichstellung und Gleichberechtigung entscheidend vorankommen kann.
*Michael Roth ist seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter aus Hessen und seit 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.
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