Édouard Louis: «Das Angespucktwerden hat mich gerettet!»

Der queere französische Autor hat in Göttingen aus seinem neuen Buch gelesen

Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen
Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen (Bild: Lenja Kempf)

Édouard Louis sprach auf einer Lesung zu seinem neuen Buch «Der Absturz» über den Versuch, den Hass und die Gewalttätigkeit seines Bruders zu verstehen und darüber, warum sein eigenes Leben ganz anders verlief.

Er habe seinen Bruder «verabscheut», sagte Édouard Louis am Sonntag bei einer Lesung, die vom Literarischen Zentrum Göttingen veranstaltet wurde. Das Leben des Bruders, das er da schilderte, wirkt auf den ersten Blick wie ein Kontrastprogramm zu ihm selbst: hier der Erfolgreiche, dort der Gescheiterte; hier der Sensible, da der Brutale; Édouard der Offene, der Bruder als ewig Gestriger. Aber dabei belässt es der Autor nicht. Man müsse Gewalt verstehen, ohne «Komplize der Gewalt» zu werden, sagt er.

Das Buch kommt in einer Zeit, in der die Gewalt, auch gegen queere Menschen, immer mehr zunimmt. Da ist es natürlich ein Wagnis zu fordern, man müsse die Angreifer verstehen. Aber es gelte eben, so meint Louis: ohne verstehen wollen komme man nicht an die Ursachen heran.

Nachdem Édouard Louis zuletzt Bücher über seine Mutter, seinen Vater und natürlich sich selbst geschrieben hat, geht es in seinem neuesten Buch um seinen Bruder, der im Alter von 38 Jahren an den Folgen von Alkoholmissbrauch verstorben ist. Die Beziehung der beiden war von Gewalt geprägt, sein Bruder wollte die Homosexualität aus Édouard herausprügeln. 10 Jahre lang sahen sich beide Brüder gar nicht mehr bis dann der ältere starb.

Bekannt geworden ist Louis 2015 mit dem Buch «Das Ende von Eddy», in dem er von seinen Erfahrungen als schwuler Jugendlicher geschrieben hat. Als Kind der Arbeiterklasse in Frankreich, wo er mit Erlebnissen toxischer Männlichkeit umgehen musste, und die Gewalt, die davon ausging, ertragen musste. Nun begibt sich Louis auf die andere Seite und auf eine Spurensuche in dieser Welt.

Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen
Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen (Bild: Lenja Kempf)

Es war ein Gefühl des Hasses was die beiden Brüder verband – das habe auch gegenseitig gegolten, betonte Louis gestern. Mit seiner Bruder-Thematik trifft er damit auch in aktuellen Debatten ins Schwarze. Scheint doch dieser Zustand des Hasses gegenwärtig vielerorts das Gefühl der Welt zu sein – in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, aber auch in vielen Familien. Er wollte in die «Konfrontation» mit den Bruder gehen, sagte er gestern. Denn Hass sei ein «billiges Gefühl» erklärt Louis und zitiert damit den Schriftsteller James Baldwin. Dieser sagte einmal, dass er sich lange Zeit im Hass gegen seinen Vater eingerichtet habe. Denn wenn er diesen aufgebe, hätte er beginnen müssen, sich Fragen zu stellen.

In diesem «Kern von Dunkelheit», der seinen Bruder umgab, wie Louis es in der Lesung nannte, fand Édouard etwas, das ihn selbst erstaunte. Dass jener nicht immer brutal war, sondern andere Menschen ihn als zuvorkommend und zärtlich beschrieben. Und, dass der Bruder Träume hatte, die er jedoch nicht imstande war, zu verwirklichen. Auch natürlich deswegen, weil die Gesellschaft es ihm verunmöglichte. Wenngleich dieses Buch sehr viel psychologischer ist als andere Bücher, wie Louis gestern betonte, schreibt er auch hier wieder über die gesellschaftlichen Mechanismen, die Menschen an ihren sozialen Plätzen halten und auf bestimmte Bahnen lenken.

«Die Träume, die jemand hat, werden von der sozialen Klasse geschaffen», sagte er gestern auf der Bühne. Louis spricht über soziale Mechanismen der Ausgrenzung und Machtzementierung. Etwa das Lachen als Verächtlichmachung. Als er selbst gerichtlich seinen Namen in Édouard Louis ändern lassen wollte, so erzählte er gestern in Göttingen, habe man ihn bei Gericht ausgelacht. Frei nach dem Motto: eine verrückte Idee eines Arbeiterkindes, das von sowas sowieso keine Ahnung hat. Es sind diese unsichtbaren sozialen Fallstricke, über die Édouard Louis auf der Bühne besonders couragiert, teils atemberaubend schnell sprach. Diese Stellen des Abends waren Schwerstarbeit für den Simultanübersetzer im Alten Rathaus in Göttingen, der das aber meisterlich bewältigte.

Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen
Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen (Bild: Lenja Kempf)

Warum denn sein Leben denn dann so anders verlaufen sei, obwohl beide in derselben Familie aufgewachsen seien, will die Moderatorin der Veranstaltung dann wissen. «Ich war mehr fremdbeherrscht als mein Bruder, das hat mir keine Wahl gelassen, als zu fliehen», erklärte er. Louis beschreibt den Alltag in der Schule, in der er als «Homo» beschimpft wurde. Als schwuler junger, intellektuell interessierter Mann in einer männlich geprägten Arbeiterregion wusste er, dass ihn dort nichts mehr halten würde.

Der Absturz von Édouard Louis
(Bild: Aufbau Verlag)

«Das Angespucktwerden hat mich gerettet», sagt Édouard Louis. Es ist einer jener irritierenden, fast verstörenden Sätze, die er auf der Bühne sagte, die seine kühle analytische Herangehensweise, die man aus seinen Büchern kennt, auch in Live-Auftritten deutlich machten. Was er damit meint: Der Bruder hatte es etwas leichter. Er konnte dort leben, weil er als heterosexueller Mann, der Frau und Kinder wollte, die Ansprüche des Milieus erfüllen konnte. Der Druck war nie gross genug, um dort wegzuziehen.

Und doch litt auch er. Auch er konnte nicht wirklich so leben, wie er wollte. Auch er konnte seine beruflichen Träume nicht wahr machen. Er sei vielmehr letztlich an dem Ort «erstickt», Gewalt und Alkohol seien Wege gewesen, «um zeitweise kein Opfer sein zu müssen», sagte Édouard. Vielmehr beschreibt Louis das Leben des Bruders als ein wiederholtes «gescheitertes Fliehen».

«Ich kann nur schwer über etwas schreiben, das ich schön finde. Das Hässliche reizt mich mehr.»

Édouard Louis

Das aktuelle Buch über den Bruder bilde nun den Abschluss seiner Veröffentlichungen über Familienmitglieder, sagte Édouard Louis am Ende der Veranstaltung noch. Gleichzeitig hätte diese Form der Aufarbeitung ihn aber nicht wieder näher an das Konzept der Familie herangebracht, erklärte er. Familie sei für ihn nach wie vor etwas «Toxisches», und er fügt hinzu, je mehr er von allem Familiären entfernt sei, desto glücklicher sei er. Er präferiere stattdessen das Prinzip der Freundschaft und erwähnte an dieser Stelle seinen besten Freund Didier Eribon.

Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen
Édouard Louis bei einer Lesung in Göttingen (Bild: Lenja Kempf)

Auf die Frage, was als Nächstes von ihm zu erwarten sei, meinte Louis, dass er gern etwas über Sexualität schreiben wolle. Doch fiele ihm das gar nicht so leicht, wie er sagte, – und zwar obwohl er Sexualität für etwas sehr Schönes halte. «Ich kann aber nur schwer über etwas schreiben, das ich schön finde», erklärte er. «Das Hässliche reizt mich im Schreiben mehr.»

In ihren Memoiren schreibt Elizabeth Gilbert «Eat Pray Love» über die dunkelsten Kapitel ihres Lebens, darunter auch einen Mordplan an ihrer krebskranken Lebensgefährtin (MANNSCHAFT berichtete).

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