Didier Eribon würdigt Mutter: «Muss von ihr erzählen, damit sie weiterlebt»
«Eine Arbeiterin» des schwulen Autors ist frisch erschienen
In Didier Eribons «Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben» wird der Tod der eigenen Mutter zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit, an deren Ende nicht nur die tragische Erkenntnis steht, dass sie ihr ganzes Leben lang unglücklich war.
Der französische Soziologe, Autor und Philosoph Didier Eribon gehört zu den einflussreichsten französischen Intellektuellen – neben seinem Partner Geoffrey Lagasnerie und ihrem gemeinsamen Freund Édouard Louis. Durch sein 2009 im Original und erst 2016 auf deutsch erschienenem Schlüsselwerk «Rückkehr nach Reims» erlangte er auch im deutschsprachigen Raum Bekanntheit.
In dem autobiografisch geprägten Werk verbindet er persönliche (Familien-)Erzählung mit soziologischer Reflexion und Analyse. Ausgangspunkt ist der Tod des eigenen Vaters, den Eribon zum Anlass nimmt, nach jahrzehntelanger Abstinenz in seine Heimatstadt zurückzukehren. Die Gespräche mit seiner Mutter führen zu einer Erinnerungsreise in die eigene Vergangenheit, die er als Aufsteiger aus dem französischen Arbeitermilieu eigentlich für immer hinter sich lassen wollte. Mit soziologischem Blick auf Kindheit und Jugend gerichtet, erzählt er von sozialer Ausgrenzung – als Arbeiterkind wie auch Homosexueller –, von Gewalt, Rassismus, Homofeindlichkeit und dem politischen Rechtsruck einer einst kommunistischen Arbeiterklasse. Das Buch wurde zum Erfolg – mittlerweile auch vielfach für die Bühne adaptiert und als Dokumentation verfilmt.
Am Sonntag erschien nun ein neues Buch von Eribon: «Eine Arbeiter. Leben, Alter und Sterben». Darin widmet er sich dem Leben seiner Mutter, einer Arbeiterin, die stets unter prekären Bedingungen arbeitete – erst als Dienstmädchen, dann als Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin. Wie in «Rückkehr nach Reims» ist es der Tod eines Elternteils, nun der der Mutter, welcher zum Ausgangspunkt des Buches wird und dem eine vielschichtige Vergangenheitsrecherche folgt. Diesmal im Visier: das französische Pflegesystem. Ob sein neues Werk eine ähnliche politische Sprengkraft haben wird, bleibt abzuwarten. Das Potenzial hat es aber allemal.
Schon mehrmals war sie auf dem Weg zur Toilette oder in der Dusche gestürzt, war zunehmend verwirrt und hatte Halluzinationen. Schliesslich entscheiden sich Eribon und seine Brüder für einen Umzug der Mutter in ein Pflegeheim nach Fismes, einem kleinen Ort in der Champagne. Nur sieben Wochen später stirbt die Mutter plötzlich. Zweimal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen hatte er sie noch gesehen, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, sie häufiger besuchen zu wollen. Von Schamgefühlen geplagt, beginnt er zu schreiben: «Ich muss von ihr erzählen, damit sie weiterlebt.»
Kongenial bettet er in den folgenden Kapiteln – wie schon in seinem Erfolgsbuch – seine Familiengeschichte in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext ein, um diesmal vom Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen zu erzählen. Dabei widmet er sich ausführlich der (Arbeits-)Biografie seiner Mutter und lotet das gemeinsame Mutter-Sohn-Verhältnis neu aus, um zu einer aufrichtig-ehrlichen Schlussfolgerung zu gelangen: «Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin». Die Dialektik von Abgrenzung und gleichzeitiger Verbundenheit zeigt sich nicht nur in Bezug auf seine Mutter, sondern auch auf sein Verhältnis zum Arbeitermilieu. Wie ein Damoklesschwert schwebt über Eribon die Sorge, ob nachdem Tod beider Elternteile nun die ganze Verbindung zu seinem Herkunftsmilieu absterben wird.
Für seine strukturelle Analyse bedient er sich nicht nur philosophischer oder wissenschaftlicher Theorien, sondern zitiert auch verschiedene literarische Werke. Damit gelangt er zu verschiedenen Thesen, die sich wie ein roter Faden durch sein Buch ziehen und die er auch nicht müde wird, gebetsmühlenartig zu wiederholen. Das führt im letzten Teil seines Buches, wenn man meint zu spüren, dass es auch gut hier enden könnte, zu einer etwas schwerfälligen Ausführung philosophischer Konzeptionen, bei denen er vor allem mit Norbert Elias‘, Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs Werken in Dialog tritt. Darin zeigt sich ein Stückweit auch sein Anspruch als Philosoph, der sich zu prägenden französischen Philosophie-Grössen verhalten möchte.
Nichtsdestotrotz hat Eribon mit seinem neuen Buch ein bewegendes Werk geschaffen, das mehr erzählt als die Biografie einer einzelnen Frau, die «ihr Leben als trauriges Schicksal» empfunden hat und «ihr Leben lang unglücklich» war. Damit reiht es sich zwischen Annie Ernauxs «Eine Frau» und Édouard Louis‘ «Die Freiheit einer Frau» ein, die sich in ihren Werken auch ihren Müttern aus dem französischen Arbeitermilieu gewidmet haben. Ungleich dürfte die politische Sprengkraft bei Eribon grösser sein, wenn er in Bezug auf die Pflegebranche von allgegenwärtiger «struktureller Misshandlung» und «institutioneller Gewalt» spricht: «Das System ist unmoralisch» und führe zur «Entmenschlichung der alten Menschen». Er appelliert dafür, dem Thema im öffentlichen Diskurs mehr Aufmerksamkeit zu schenken und erinnert daran, dass alte Menschen «zu einer der unterdrücktesten, entrechtetsten, verletzlichsten gesellschaftlichen Gruppe» zählen. Dabei sehe er es als seine Pflicht als Autor und Intellektueller «über sie und für sie zu sprechen, sie sichtbar zu machen und die Leute zu ‚zwingen‘, ihnen zuzuhören». Ein Aufruf, der sich auch an uns Leser*innen richtet, ihnen endlich eine Stimme zu geben.
Didier Eribon – «Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben» (hier bestellen bei Eisenherz) Aus dem Französischen von Sonja Finck Suhrkamp, fester Einband mit Schutzumschlag, 272 Seiten, 25,00 € / CHF 34,95
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